Die venezolanische Opposition will Oligarchen an die Macht bringen. Doch die Ursache der Wirtschaftskrise ist die korrupte Regierung von Präsident Maduro. Von Mike Gonzalez, ehemaliger Professor für Lateinamerikastudien an der Universität von Glasgow
Die Paraden durch die Stadt und die Versammlungen an Hugo Chávez‘ Grab in den Bergkasernen anlässlich seines ersten Todestages waren eine eindrucksvolle und gut inszenierte Angelegenheit. Aber die Festlichkeiten und die tagelangen Nachrufe im Fernsehen an den Oberbefehlshaber, wie sie ihn jetzt nennen, geben die wirkliche Stimmung in Venezuela nicht wieder.
Heute sprang in einem Bus Richtung Stadtzentrum ein Mann auf und rief: „Das ist das Ende des Castro-Kommunismus und der Kubaner in Venezuela.“ In der Schlange eines Stromanbieters schrie eine ältere Frau die Menschen hinter dem Schalter an, sie sollten doch dem ganzen Land den Strom abdrehen. Vielleicht lag das daran, dass sie zwei Stunden ohne ersichtlichen Grund darauf warten musste, ihre Rechnung zu bezahlen. Es war ein perfektes Beispiel für den derzeitigen Zorn der venezolanischen Mittelschichten.
Diese beiden eigentlich recht banalen Zwischenfälle spiegeln das wider, was man einen instinktiven Klassenhass nennen könnte, der sich in Venezuela rasant ausbreitet. Die Gewalt im Land, die auf der ganzen Welt in den Medien gezeigt wurde, war bis jetzt auf Gegenden beschränkt, die stark von den Mittelschichten geprägt sind.
Ich lebe in einem solchen Vorort, dort sind die Straßen voll von Plakaten, die Freiheit, Frieden und ein Ende der Diktatur fordern. Jede Nacht sieht man dort auf den Straßen kleine Barrikaden aus brennenden Reifen und Müll, herausgerissenen Betonpfosten, Stacheldrahtzäunen und, am schlimmsten von allem, verschüttetem Öl. Das alles macht die Bewohner aus den Mittelschichten nur noch wütender, obwohl es meist ihre eigenen Kinder sind, die diese Situation verursacht haben.
Kriminalität und Gewalt
Die Rechte innerhalb und außerhalb Venezuelas thematisiert in ihren Protesten Unterdrückung. Dreißig Menschen sind in den Auseinandersetzungen gestorben. Einige wurden von der Polizei oder der Nationalgarde getötet. Die meisten sind aber Opfer der allgemeinen Gewalt auf den Straßen geworden, so wie ein junger Motorradfahrer, der auf dem Weg nach Hause von einem über die Straße gespannten Kabel enthauptet wurde. Eine ältere Frau schaffte es wegen einer Barrikade nicht in die Notaufnahme.
Bis jetzt fiel die Reaktion des Staates sehr gering aus. Allerdings sagte Präsident Nicolas Maduro in seiner Rede zu Chávez‘ Gedenkfeier, dass sich die Politik derzeit in einem Wandel befinde und der Geruch von Tränengas auf den Straßen in Zukunft normal sein werde.
Am Schlimmsten eskaliert die Gewalt dabei außerhalb von Caracas. Die jungen Menschen, die in der Anfangsphase die Feuer legten, haben nun Zuwachs bekommen, der sich unter schwarzen Sturmmasken versteckt. Aus allen Teilen der Gesellschaft häufen sich die Beschwerden über die schlechte Sicherheitslage und über einen bewaffneten Teil in der Bewegung, dem Verbindungen zum Drogenhandel nachgesagt werden und in den ärmeren Stadtvierteln Macht gewinnt.
Das Niveau „normaler“ Gewalt ist alarmierend und lässt Rückschlüsse zu, wie viele Waffen es im Land wirklich gibt. In einigen Gebieten, besonders in Grenzregionen wie Táchira, beherrschen schwer bewaffnete und brutale Paramilitärs das Bild, die entlang der kolumbianischen Grenze agieren und im großen Stil alles von Drogen bis Öl schmuggeln.
Die Regierung hat in der Vergangenheit bei der Bekämpfung dieser Gruppen eindeutig versagt, die nun zu Verbündeten der extremen Rechten in der Opposition geworden sind.
Leopoldo Lopez, prominentester Anführer der Rechten , die von Anfang an zu den Demonstrationen aufgerufen hatten, sitzt gemeinsam mit einem Mann namens Simonovis im Gefängnis, einem Scharfschützen, der 2002 während des missglückten Staatsstreiches viele Pro-Chávez-Demonstranten tötete. Nichtsdestotrotz wurde er ein Held für die extreme Rechte, die jetzt für die Freilassung der beiden eintritt.
Lopez und Maria Corina Machado, beide aus wohlhabenden oligarchischen Familien, sind die führenden Stimmen der zunehmend gewalttätigen Straßenbewegung. Sie bestärken diese nach Kräften, auch wenn sie sie in keiner Weise kontrollieren. Es ist sehr bezeichnend, dass der Parlamentsabgeordnete Machado nicht bei den Trauerfeiern in Caracas anwesend war, sondern sich stattdessen im Bundesstaat Táchira an der kolumbianischen Grenze herumtrieb. Táchira spielt eine Schlüsselrolle in ihrer Strategie, Venezuela unregierbar zu machen.
Die „Halbmond-Option“
Viele Linke sind der Überzeugung, dass die Rechte die Halbmond-Strategie verfolgt. Vor ein paar Jahren verfolgten die wohlhabenden Regionen im Osten Boliviens, der sogenannte Halbmond (Media Luna), die Strategie einer Loslösung vom Rest des Landes, um die Regierung unter Evo Morales zu untergraben.
Auch sie mobilisierten mit rassistischem Gedankengut und organisierten zivilen Ungehorsam, alles unter Anleitung des US-Botschafters. Der Plan schlug fehl, doch wäre er aufgegangen, wäre Bolivien in einen Bürgerkrieg zwischen einem großteils weißen Media Luna und dem indigenen Hochland geraten. Eine ähnliche Strategie wird nun in Venezuela vermutet: Alle Anführer der rechten Parteien sind weiß.
Venezuelas Halbmond wären die Grenzstaaten – Trujillo, Merida und Zulia, der wohlhabendste Staat und zugleich das Herz der Ölindustrie Venezuelas, wo es bisher nicht nur zu größeren Mobilisierungen kam, sondern der auch eine lange separatistische Tradition hat.
Was rund um Lopez und Machado vor sich geht, scheint der Versuch zu sein, mit Gewalt eine Massenbewegung aufzubauen. Ihre mächtigen Verbündeten in den internationalen Medien geben sich alle Mühe, die venezolanische Opposition als eine Bürgerbewegung darzustellen, die mit Recht gegen eine grausame Diktatur protestiert.
Sogar Hollywoodstars äußerten während der Oscar-Verleihung ihre Besorgnis über das Schicksal der Demonstranten, über Opfer von staatlichen Repressionen und so weiter. Das spanische Programm von CNN startete inzwischen eine bösartige, dauerhafte Hetzkampagne gegen Venezuela mit deutlicher Unterstützung für die Opposition. Selbst die Klatsch-Nachrichten sind jetzt voll von Interviews mit Darstellern, die den Chavismus verachten.
Dialog mit wem?
Eine „Friedenskonferenz“ der Rechten hat ihre tatsächliche Agenda deutlich gemacht. Unter den geladenen Delegierten waren weder Gewerkschafter noch Mitglieder der kommunalen Graswurzelbewegungen anwesend, wenn auch ein paar niedere Vertreter der Staatsbürokratie. Dafür war unter den Gästen Venezuelas mächtigster Privatkapitalist Lorenzo Mendoza, Vorsitzender der Polar Group, die sich anschickt, ein multinationaler Lebensmittelkonzern zu werden.
Maduro traf vor einigen Wochen Mendoza privat; angeblich, um darüber zu sprechen, wie man die Spekulation kontrollieren könnte – das würde er auch definitiv wissen! Nichtsdestotrotz trat Mendoza auf der Konferenz als politischer Führer auf und warb dort für eine andere Option – ein Dialog zwischen Privatkapital und Regierung, der auf „gegenseitiger Rücksicht“ in einigen Punkten beruhen soll, welche er der Konferenz präsentierte.
Wahrscheinlich war es das, was er und Maduro in all den Wochen zuvor besprochen hatten. Henrique Capriles, der letztes Jahr die Präsidentschaftswahl gegen Maduro knapp verlor, und die katholische Kirche unterstützen wie viele die Idee eines Dialogs. Aber das tun auch wichtige Kräfte in der Regierung Maduro, von denen viele zum neuen Staatsapparat gehören, der in seinen Händen bereits eine riesige wirtschaftliche und politische Macht angesammelt hat.
Geschäft bleibt Geschäft
Der chavistische Prozess wird von oben vorangetrieben, von einem Beamtenapparat, der im Namen der Revolution das Projekt eines Staatskapitalismus vorantreibt. Die antiimperialistische Rhetorik hebt man sich für Washington auf.
China und Russland, deren Investitionen in Venezuela nichts mit Sozialismus, sondern vielmehr mit Profit zu tun haben, sind die neuen Partner der venezolanischen Wirtschaft. So ist es zum Beispiel chinesisches Geld, das Programme zum Häuserbau fördert. Ganz offensichtlich agiert keiner dieser Verbündeten aus proletarischer Solidarität und es gibt auch keinen Grund, warum ein Privatsektor, den sich die Macht mit der Bürokratie teilt, Probleme mit ihnen haben sollte. Geschäft bleibt eben Geschäft.
Was kann »Dialog« unter diesen Umständen also bedeuten? Kaum zu glauben, dass dabei nicht die Ziele der Revolution verraten werden, von denen viele längst durch Korruption, Ineffizienz und dem vollständigen Fehlen einer ökonomischen Strategie gescheitert sind.
Spekulation und Schwarzhandel
Wie schon immer scheint die Politik von unmittelbaren Zwängen und endlosen Verhandlungen zwischen mächtigen Gruppen und Individuen bestimmt zu werden. Das war früher so und ist es heute noch viel mehr. In Venezuela herrscht eine bedrückende Wahrnehmung von Orientierungslosigkeit und Kurzschluss-Entscheidungen.
So hat zum Beispiel die Gründung neuer Behörden, die sich mit der Zuteilung ausländischer Zahlungsmittel befassen sollten, für mehr Verwirrung und eine kontinuierliche Abwanderung von Dollars gesorgt. Der Grund dafür wird einem bei einem Spaziergang durch Caracas deutlich. Das venezolanische Produktionssystem befindet sich im Stillstand, die entstandenen Lücken werden mit einer Flut von Importen gefüllt, für die mit Dollar bezahlt wird.
Die Entwicklung des Wechselkurses zeigt, dass der Bolivar nichts hat, um das aushalten zu können, weder Produktion, noch ausreichend Reserven. Venezuela importiert sogar Öl, um seinen internationalen Verbindlichkeiten nachzukommen. Dabei sollten es doch die Öleinnahmen sein, die die Sozialleistungen finanzieren und erhalten, die zweifelsohne das Leben vieler armer Venezolaner in der Anfangszeit unter Chavez verbesserten. Diese sozialstaatlichen Programme gehen nun zugrunde, weil die Öleinnahmen schrumpfen oder in andere Bereiche der venezolanischen Wirtschaft fließen.
Im Ergebnis bleiben die realen Probleme im alltäglichen Leben. Die Tatsache, dass ausgerechnet die Opposition sich über Engpässe und Inflation beschwert, von denen sie selbst weniger betroffen ist als der Rest der Bevölkerung, darf nicht von der Wirklichkeit ablenken. Die Regale in den Supermärkten sind leer, Baumaterialien fast überhaupt nicht erhältlich, Autoteile fehlenund es gibt einen kritischen Mangel an Arzneimitteln.
Nach jedem Engpass steigen die Preise für grundlegende Güter wieder an, normalerweise mit der Begründung, dass die Importe in Dollar bezahlt werden müssen. Allerdings verlangen die Importeure viel mehr, als sie selbst dank der Sonderkonditionen der Regierung bezahlt haben. Die Nutznießer dieser Konditionen im Staatsapparat und im Privatsektor sind in den vollen Restaurants zu sehen: Sie bestellen Whiskey zu Preisen, über die kein Schotte auch nur nachdenken würde, und fahren Sportwagen, deren Preise vor allem aus Nullen bestehen. Ein hoher Lebensstandard, finanziert durch Korruption und Spekulation.
Was sagt nun die Regierung Maduro dazu?
Der Präsident hatte Recht, als er die von den USA gestützte Lügenkampagne verurteilte, obwohl er grade erst nach langer Zeit wieder einen Botschafter nach Washington berufen hatte. Und wahrscheinlich hat er auch recht damit, dass die extreme Rechte dabei ist, eine faschistoide Organisation wütender und entfremdeter Jugendlicher aufzubauen.
Aber Frustration und Unzufriedenheit in der Gesellschaft, und zwar nicht nur in der Mittelschicht, sind die Folge von Engpässen, Inflation und Korruption. Es gibt eine weit verbreitete Darstellung, wonach zwei Milliarden Dollar in den letzten Jahren einfach „verschwunden“ seien. Und jeder weiß, dass Spekulation und Schwarzhandel im privaten Sektor genauso üblich sind, wie im öffentlichen.
Grenzen der „Wahrheitskommission“
Ein Ergebnis der Friedenskonferenz war die Bildung einer „Kommission für ökonomische Wahrheit“, die sich mit Themen wie Spekulation, dem Zusammenbruch der Produktion, Engpässe und Hyperinflation beschäftigt. Die Kommission besteht aus Vertretern der Wirtschaft, Mendoza selbst und Regierungsmitgliedern, die eventuell selbst in Korruption verwickelt sein könnten. Wie will man die Spekulation in den Griff kriegen, wenn die Spekulanten selbst mit am Tisch sitzen?
Eine echte „Wahrheitskommission“ würde die unmittelbaren Kenntnisse der Arbeiter, der Menschen in den verschiedenen Kommunen und Graswurzelorganisationen mobilisieren, die Maduro in den letzten Wochen aufgrund seines Versprechens, die Revolution voranzutreiben, so redlich unterstützt haben.
Dieses Versprechen erscheint leer angesichts eines „Dialogs“, in dem den Vertretern von privatem und staatlichem Kapital die zentrale Rolle bei der Entscheidung über den weiteren Verlauf der Revolution zugesprochen wird. Anstatt dass sie enteignet werden, wird den Spekulanten nun gestattet, die Zukunft zu gestalten mit Kriegsgerüchten und brennenden Barrikaden im Rücken..
Die Massenbewegungen haben die Revolution immer und immer wieder gerettet, mit Mobilisierungen, mit der Verteidigung der Produktion, mit massiver Unterstützung in Wahlkämpfen und mit Solidarität. Sie sind die wahren Kräfte des Chavismus und nicht politische Kompromisse zwischen verfeindeten Klassen.
Zeit für radikale Lösungen
Was jetzt auch immer kommen mag, sie stellen die einzigen Kräfte dar, die die Revolution vorantreiben werden. Das ist es, was die Menschen ausdrücken, wenn sie ihre modischen Kappen tragen, auf denen Chávez‘ Augen in die Zukunft schauen. Eine Alternative kennen sie bereits, denn die Opposition hat ihnen demonstriert, wohin sie Venezuela befördern will: zurück zur Armut, Ungleichheit, Korruption und Gewalt der Vergangenheit. Genau das haben sie beim letzten Mal angeboten, als sie versucht haben, die Macht zu übernehmen, und von diesen Visionen werden sie nach wie vor angetrieben.
Die Frage ist, was die chavistischen Führer anzubieten haben. Es gab bereits Kampagnen gegen Korruption, Spekulation und Gewalt, die jedoch nur wenig Ergebnisse hervorgebracht haben. Die wenigen Regierungsmitglieder, die ihre Rolle damals ernst nahmen und gegen Spekulanten vorgingen, waren schnell weg vom Fenster.
Jetzt ist der Zeitpunkt, die wirklichen Probleme anzusprechen, denen die breite Mehrheit Venezuelas gegenübersteht, ihre Ursachen zu bennen und radikale Lösungen vorzuschlagen, statt Phrasen zu dreschen. Morgen wird die Rechte im ganzen Land zu Protesten gegen Engpässe und steigende Preise mobilisieren. Wenn es ihnen gelingt, sich zu den Anführern einer Massenbewegung aufzuschwingen, während die Regierung nichts macht, außer die Nationalgarde einzusetzen, könnte das ernste Konsequenzen haben.
In Venezuela beschreibt man die Amtszeit von Chávez mit dem Wort ‚el proceso‘. Aber Prozesse, die nicht weiterkommen, drehen sich unerbittlich wieder zurück. Letzte Woche beobachtete ich eine Demonstration von Beschäftigten aus dem Telekommunikationssektor zur Unterstützung von Maduro. Sie sangen ein wunderschönes Lied von Ali Primera, der Stimme von ‚el proceso‘. Das Lied heißt ‚Abrebrecha‘, frei übersetzt: „Macht uns die Straßen frei“.
Mike Gonzalez lebt in Venezuela und schreibt Sachbücher. Letztes Jahr erschien „Hugo Chávez: Socialist for the 21st Century“, nur auf Englisch.
Der Text erschien zuvor auf Englisch auf der Webseite rs21.org.uk
Foto: andresAzp