Die Nachricht vom 14. April schlug ein wie eine Bombe. Am meisten überrascht waren wohl die aktiven Gewerkschafter bei Kirchen, Caritas und Diakonie selbst. Um ein Streikrecht auch in kirchlichen Einrichtungen zu erreichen, ziehen ver.di und der Marburger Bund vor das Bundesverfassungsgericht. Doch dieses Vorgehen ist hoch riskant und das Ergebnis könnte das faktisch existierende Streikverbot zementieren. Von Heinz Willemsen
In der Beurteilung des Streikurteils des Bundesarbeitsgerichtes (BAG), welches dieses im November vergangenen Jahres fällt, macht die ver.di-Spitze eine Kehrtwende von 180 Grad. Das BAG-Urteil wird nicht länger als »Erfolg für die Arbeitnehmer« gewertet. Jetzt heißt es, dass dadurch das gewerkschaftliche Streikrecht auf Dauer ausgeschaltet wird. Diese Einschätzung ist korrekt.
Kirchliche Unternehmen – streikfreie Zone
Jahrzehntelang spielte das Thema Tarifvertrag und Streik bei Kirche, evangelischer Diakonie und katholischer Caritas keine Rolle. Für die ganz weltlichen Beschäftigungen von Krankenschwestern, Gärtnern, Ärzten, Sozialarbeitern und Erziehern wurden in der Regel einfach die Tarife des öffentlichen Dienstes angewandt. Lohnerhöhungen, die die Gewerkschaft ÖTV bei Bund, Land und Kommunen durchgesetzt hatte, übernahmen die kirchlichen Unternehmen für ihre Beschäftigten.
Das alles änderte sich, als die neoliberale Wende auch den Sozialmarkt grundlegend umkrempelte. Nun wollten die Kirchen, mit mehr als 1,2 Millionen Beschäftigten immerhin die zweitgrößten Arbeitgeber nach dem öffentlichen Dienst, die Lohnpolitik für den Konkurrenzkampf auf dem Sozialmarkt nutzen. Seitdem 2005 im öffentlichen Dienst der alte Bundesangestellten-Tarifvertrag (BAT) durch den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) abgelöst wurde, wollen sich die kirchlichen Unternehmen zunehmend vom Tarifvertragssystem des öffentlichen Dienstes lösen. Zwar ist der TVöD gemessen an seinem Vorläufer dem BAT schon ein Absenkungstarifvertrag. Den Kirchen-Unternehmern reicht das aber nicht.
Arbeitsrechtlichen Kommissionen abschalten
Die kirchlichen Gremien zur Lohnfindung hatten bisher nur ein Schattendasein am Rand geführt. Jetzt bekamen die (katholische) Kommission zur Ordnung des Diözesanen Arbeitsvertragsrechts (KODA) und die 17 (evangelischen) Arbeitsrechtlichen Kommissionen (ARK) auf einmal eine wichtige Aufgabe.
Diakonie und Caritas verweisen gerne darauf, dass diese Kommissionen paritätisch besetzt sind, je zur Hälfte Vertreter der kirchlichen Unternehmen und der Beschäftigten. Allerdings handelt es sich auf der Beschäftigtenseite nicht um einen freiwilligen Zusammenschluss wie etwa bei der Tarifauseinandersetzung im öffentlichen Dienst der Länder in diesem Jahr. Da hatten sich ver.di und die GEW zusammengetan, um gemeinsam Tarifverhandlungen mit den Arbeitgebern zu führen. In zahlreichen ARKen sitzt mit dem vkm, dem mitgliederschwachen Verband kirchlicher Mitarbeiter, eine Scheingewerkschaft. In Hessen fordern die diakonischen Unternehmer ihre Beschäftigten schon mal ganz unverblümt zum Beitritt in den vkm auf. In Rheinland-Westfalen-Lippe ist der vkm den Kirchen-Unternehmern gehorsam zu Diensten, wenn es um die drastische Absenkung der Gehälter von Altenpflegehelfern und Hauswirtschaftskräften geht.
Eine Forderungsdiskussion unter den Beschäftigten, wie bei vielen Tarifverhandlungen üblich, gibt es bei diesem Verfahren nicht. Noch viel weniger findet eine Abstimmung über die in der KODA oder ARK erreichten Abschlüsse statt. Können sich die Vertreter beider Seiten nicht einigen, entscheidet eine Zwangsschlichtung. Nun ist das deutsche Streikrecht im westeuropäischen Vergleich durchaus restriktiv. Aber eines der Vorteile der deutschen Gesetzgebung und Rechtsprechung ist, dass es bei Tarifverhandlungen keine Zwangsschlichtung gibt. Wie sehr das, was die Kirchen als »dritten Weg« in der Lohnfindung bezeichnen, nichts anderes als Unternehmerwillkür ist, zeigt sich insbesondere im protestantischen Bereich. Passt den diakonischen Unternehmen die Entscheidung einer ARK nicht, nehmen sie einfach den Tarif einer anderen Kommission. So war etwa der Bielefelder Sozialkonzern Bethel, Europas größtes diakonisches Unternehmen, 2007 mit der Entscheidung der Zwangsschlichtung in der für das Unternehmen zuständigen Kommission für Rheinland, Westfalen und Lippe (ARK-RWL) nicht einverstanden. Also bekommen fortan alle neueingestellten Beschäftigten nicht mehr den Tarif der ARK-RWL sondern den niedrigeren Tarif des Diakonischen Werkes der EKD (ARK-DW-EKD).
Anfänglich hat auch ver.di in diesen Kommissionen mitgearbeitet. Der Marburger Bund tut dies immer noch. Mit der Verschärfung des Konfliktes mit den Kirchen hat sich aber bei ver.di die Einsicht durchgesetzt, dass die Mitarbeit in einem Gremium, dass eine Zwangsschlichtung kennt und den Verzicht auf Streiks zur Voraussetzung der Mitarbeit hat, einer gewerkschaftlichen Selbstaufgabe gleich käme. In Niedersachsen war der Austritt aus der Arbeitsrechtlichen Kommission der Diakonie in Niedersachsen (ARK-Nds.) ein wichtiger Schritt in einer gewerkschaftlichen Eskalationsstrategie, an deren Ende erfolgreiche Streiks standen. ver.di hat mehrfach erklärt, unter keinen Umständen wieder in den ARKen mitzuarbeiten und die Parole »Die Arbeitsrechtlichen Kommissionen abschalten!« ausgegeben.
Erfolgreiche Streiks in Kirchen
Für die Gewerkschaft ver.di stand damit die Frage des Kampfes um Tarifverträge bei Diakonie und Caritas auf der Tagesordnung. Ohne die glaubwürdige Drohung mit Streik sind diese aber nicht zu bekommen. Das letzte Mal, dass Kirchenmitarbeiter gestreikt hatten, war in den Jahren 1919 bis 1921. Im Gefolge der Revolution nach dem ersten Weltkrieg hatten damals in Berlin Friedhofsgärtner und Bürogehilfen der Stadtsynode erfolgreiche Arbeitskämpfe geführt. 2001 legten erstmals wieder Diakoniemitarbeiter in Vlotho die Arbeit nieder. 2007 folgten ihre Kolleginnen und Kollegen in Stuttgart und 2009 rief ver.di zum Warnstreik in Bielefeld, Hannover und dem badischen Mosbach auf. Diese ersten Streiks waren jedoch noch eher politische Demonstrationen als ökonomische Streiks. Tatsächlich die Arbeit niedergelegt haben nur wenige Beschäftigte. Das sollte bald anders werden.
Mittlerweile hat ver.di es in zwei Hamburger diakonischen Krankenhäusern geschafft, einen Tarifvertrag zu erstreiken. Gemeinsame Streiks von ver.di und Marbuger Bund haben zu einem Tarifvertrag beim Evangelischen Krankenhaus in Oldenburg geführt. Die Oldenburger Krankenhausbetreiber sind daraufhin aus dem Diakonischen Werk Niedersachsen ausgeschlossen worden. Seit 2011 hat ver.di immer wieder an verschiedenen Standorten der Diakonie in Niedersachsen gestreikt. Im April 2013 haben sich dort erstmals der Diakonische Dienstgeberverband und das Bündnis aus den Gewerkschaften ver.di und Marburger Bund zu Verhandlungen getroffen. Der Streik im öffentlichen Dienst 2012 wurde von Solidaritätsstreiks an sieben Standorten der Diakonie in Baden-Württemberg begleitet. Im März 2013 haben Beschäftigte der Stadtmission in Heidelberg erstmals gestreikt.
Eine kurze Prozessgeschichte
Von Anfang an waren die zaghaften Versuche von ver.di, eine Tarifbewegung in der protestantischen Diakonie auf die Beine zu stellen, von juristischen Auseinandersetzungen begleitet, zum Teil regelrecht überwuchert. Die Kirche behauptet nämlich, dass für ihre Beschäftigten ein Streikverbot gilt, ähnlich wie für Beamte. Sie beruft sich dabei auf das im Grundgesetz im Artikel 140 garantierte Selbstbestimmungsrecht der Kirchen. Bis zum Jahr 2010 war dies vor allem eine Behauptung der Kirchen und vieler sie unterstützender Juristen. Auch viele mit der Gewerkschaft sympathisierende Journalisten kritisierten das vermeintliche Streikverbot, gingen aber von der sachlichen Richtigkeit dieser Behauptung aus. Tatsächlich aber war ein solches Streikverbot weder in einem Gesetz fixiert noch durch ein Gerichtsurteil bestätigt. Wirkungsmächtig wurde dieses »Streikverbot« allein dadurch, dass die überwiegende Mehrheit der Beschäftigten dies glaubte.
ver.di stellt das Selbstbestimmungsrecht der Kirche nicht prinzipiell in Frage. Die Gewerkschaft meint aber, dass dies nur für den engeren Bereich der religiösen Verkündung gilt und nicht dort, wo die Kirche die Arbeitskraft von Menschen für ganz weltliche Tätigkeiten kauft. Wenn der Grundgesetzartikel 9, Abs. 3, der das Streikrecht regelt, mit dem Artikel 140 in Konflikt gerät, dann hat nach Ansicht von ver.di das Streikrecht Vorrang. Als unveränderbaren Grundrechten käme den ersten 20 Grundgesetzartikeln ein höherer Rang zu als den restlichen Artikeln des Grundgesetzes.
Zwar nahm innerhalb von ver.di die juristische Diskussion oft einen viel größeren Raum ein als die praktische Organisationsarbeit in der Tarifauseinandersetzung. Teilweise konnte dabei der Eindruck entstehen, als wollte ver.di die Gerichte zur Klärung der Streikfrage anrufen. Für viele Beschäftigte stellte sich deshalb das Ganze so dar, als müsse erst einmal ein Gericht klären ob das streiken legal sei, bevor man dieses Instrument überhaupt benutzen dürfe. In der Konsequenz wirkte das Übermaß an juristischen Argumenten demobilisierend.
Tatsächlich war es aber nicht die Gewerkschaft, die die Sache vor Gericht brachte, sondern die Kirche. Als Reaktion auf die Warnstreiks in Bielefeld und Hannover im Jahre 2009 zog eine Reihe von diakonischen Arbeitgebern aus dem Bereich der evangelischen Landeskirchen Rheinland-Westfalen/Lippe und Hannover vor das Arbeitsgericht. Im März 2010 entschied das Bielefelder Arbeitsgericht, dass Streiken in kirchlichen Einrichtungen nicht rechtens sei. »Gott kann man nicht bestreiken«, jubelten Vertreter der Westfälischen Kirche. ver.di ging daraufhin in Revision.
Im Januar 2011 wies das Landesarbeitsgericht in Hamm die Klage von Kirche und Diakonie gegen ver.di zurück. Das Bielefelder Streikverbot galt nicht mehr länger. Allerdings hatte die Kirche den Prozess nur aus einem Grund verloren: Sie lehnte das Angebot des Richters zum Kuhhandel ab. Er wollte der Kirche ein weitgehendes Streikverbot bei gewissen Ausnahmen in pflegefernen Bereichen zugestehen. Bei Akzeptanz dieser Bedingungen wäre es für ver.di in der Praxis nahezu unmöglich geworden, in einem evangelischen Krankenhaus zum Streik aufzurufen. Die Kirche aber lehnte das ab. Sie wollte ein totales Streikverbot. Zwei Monate später, im März 2011, entschied das Landesarbeitsgericht Hamburg, dass es dem Marburger Bund nicht generell verboten ist, in Mitgliedseinrichtungen des kirchlichen Arbeitgeberverbandes VKDA-NEK in Nordelbien zu streiken. Gegen die Hamburger und die Hammer Entscheidung legte die Kirche Revision ein. Am 19. November 2012 wurde vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt über diese Revisionen entschieden.
Glückliche Verlierer
Das BAG hat alle Klagen der Kirchen-Unternehmer zurückgewiesen. Formaljuristisch hatten damit ver.di und der Marburger Bund die beiden Arbeitsgerichtsprozesse gewonnen. Politisch aber hatten die Gewerkschaften in einem Ausmaß verloren, wie es selbst Pessimisten nicht erwartet hatten. »Am Ende bemühen sich die Vertreter der Kirchen, ihre Freude nicht zu offen zur Schau zu stellen«, kommentierte der Prozessbeobachter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Stimmung nach der Urteilsverkündigung. In der zentralen Frage, wie sich der Artikel 9 (Streikrecht) und Artikel 140 (Selbstbestimmungsrecht der Kirchen) zueinander verhalten, hat die Richterin Schmidt ver.di widersprochen. Das BAG sieht durch Streiks das kirchliche Selbstbestimmungsrecht beeinträchtigt. Dieses werde aber durch das Grundgesetz geschützt. Im Konfliktfall hat demnach nicht das Streikrecht Vorrang, sondern das kirchliche Selbstbestimmungsrecht. Wenn die Kirche folgende drei Bedingungen erfüllt, dann sind nach dem Urteil des BAG Streiks unzulässig: 1. Wenn sich die Gewerkschaft innerhalb des so genannten Dritten Weges noch koalitionsmäßig betätigen kann. 2. Wenn die Arbeitsrechtssetzungen auf dem Dritten Weg für die Unternehmer verbindlich sind und als Mindestarbeitsbedingungen den Arbeitsverträgen auch zugrunde gelegt werden. 3. Wenn die Unabhängigkeit des Schlichters in den Arbeitsrechtlichen Kommissionen sichergestellt ist.
Verweigern sich die Gewerkschaften einer Aufforderung zur Mitarbeit in den kirchlichen Lohnfindungsgremien, verwirken sie ihr Recht auf Streik. Machen sie dort mit, müssen sie sich deren Regeln unterwerfen, die das Streiken verbieten. »Das ist (außer in Diktaturen) einmalig in der Welt«, kommentierte Thomas Lakies, Richter am Arbeitsgericht in Berlin, das Urteil: »…einer ganzen Gruppe von Beschäftigten wird mit Billigung des obersten Arbeitsgerichts das Streikrecht genommen.«
ver.di-Reaktionen
Auf das BAG-Urteil reagierte die Gewerkschaft ver.di widersprüchlich. Zunächst wurde das Urteil als Erfolg für Arbeitnehmer dargestellt. Und das, obwohl sich die die katholische deutsche Bischofskonferenz befriedigt über das Urteil von Erfurt zeigte. Die zum Springer-Konzern gehörende Zeitung Die Welt gratulierte den Kirchen: »Bundesarbeitsgericht bestätigt Streikverbot bei Kirchen« (Die Welt vom 21.11.2012). ver.dis Rechtsanwalt Henner Wolter sprach von einer 9:1 Niederlage für die Gewerkschaft. Und was sagte ver.di? »Die Revision ist abgewiesen, Streiks sind möglich«, erklärte der ver.di-Vorsitzende Bsirske nach dem Prozess. »Das ist ein klarer Erfolg für die Gewerkschaften.« Die ver.di-Bundesfachbereichsleiterin Ellen Paschke betonte: »Wir dürfen in kirchlichen Einrichtungen streiken – und das werden wir auch tun, um Tarifverträge durchzusetzen.« »ver.di sieht nach dem Abweisen der Arbeitgeberklage durch das BAG keinen Anlass, vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen«, schrieb Berno Schuckart-Witsch, in der ver.di-Bundesverwaltung zuständig für Kirchen, Diakonie und Caritas. »Wir sind mit dem Urteil streikfähig. Wenn die Diakonischen Werke das anders sehen, müssen sie selbst das Bundesverfassungsgericht anrufen«, so Bsirske.
Aber diese falsche Einschätzung ließ sich nicht durchhalten. Angesichts der Kritik der eigenen Anwälte und angesichts der Tatsache, dass die Presseberichterstattung ver.dis Einschätzung völlig widersprach, wurde auf dem bundesweiten ver.di-Aktiventreffen im Dezember in Göttingen eine neue Sprachregelung gefunden. Auf der ver.di-Kirchenkonferenz in Nordrhein-Westfalen zur Auswertung des Erfurter Urteils im Januar erklärte Günter Busch, Landesfachbereichsleiter aus Baden, die neue Linie so: Das Urteil habe im Grunde nicht viel verändert. Es habe nicht die von ver.di erhoffte Klärung gebracht. Die Frage des Streikrechts bei Kirchen wäre weiterhin in der Schwebe. Zwar habe das Gericht ver.di nicht Recht gegeben. Aber die drei Bedingungen, die das Gericht für ein Streikverbot gestellt habe, würde die Kirche auf absehbare Zeit nicht erfüllen. Deshalb könne ver.di derzeit überall mit juristischer Rückendeckung streiken.
Auf diese zweite, ebenfalls falsche Bewertung der juristischen Lage folgte immerhin eine im Grunde richtige politische Schlussfolgerung: ver.di müsse die nächsten zwei bis drei Jahre nutzen, um durch das Schaffen von Fakten – sprich so viele Streiks wie möglich im Bereich der Kirchen zu organisieren – die künftige Rechtsprechung im Sinne der Gewerkschaften zu beeinflussen. Auf das Handeln käme es an. In der Vergangenheit hätte ver.di, vor allem aber die Vorläufer-Gewerkschaft ÖTV, viel zu viel Zeit verloren mit dem Ausloten der juristischen Schiene und Appellen an die Arbeitgeber, die von einer vermeintlichen Interessenübereinstimmung ausgingen.
Völlig überraschend kündigte die ver.di-Bundesspitze dann am 14. April an, dass sie gegen die Entscheidung des BAG vor das Bundesverfassungsgericht ziehen werde. Drei Tage später zog auch der Marburger Bund nach. Im erläuternden Schreiben, das die aktiven ver.di-Mitglieder erhielten, heißt es: »In der Konsequenz der BAG-Entscheidung steht in kirchlichen Einrichtungen das Streikrecht generell und in Gänze zur Disposition«. Noch auf der Stuttgarter Konferenz »Erneuerung durch Streik« hatte Berno Schuckart-Witsch in einer Kontroverse mit dem für die IG Metall tätigen Berliner Rechtsanwalt Damiano Valgolio genau dieses vehement bestritten. Jetzt muss das Argument dafür herhalten, um den riskanten Gang zum Bundesverfassungsgericht zu rechtfertigen.
»Solche Fragen, die zuvörderst Machtfragen sind, legt man nicht in die Hände von Juristen«, hatte vor Jahren der Jurist und einstige Vorsitzende der Industriegewerkschaft Medien Detlef Hensche gesagt. Und er fügte an: »Es sei denn, man wird dazu gezwungen.« Wer oder was aber hat ver.di zu dem Gang nach Karlsruhe gezwungen? Aus der Begründung wird das nicht wirklich ersichtlich.
Begründet wird die Kehrtwende von 180 Grad zum einen damit, dass nun die schriftliche Begründung des Urteils vorliege. Zum anderen geht die Gewerkschaft mittlerweile davon aus, dass die Kirchen recht bald dafür sorgen werden, dass die drei Bedingungen, die das BAG für ein Streikverbot bei den Kirchen genannt hat, auch erfüllt werden.
Mit dem Gang nach Karlsruhe droht die juristische Auseinandersetzung wieder alles andere zu überlagern. Verliert ver.di vor dem Bundesverfassungsgericht oder wird die Klage erst gar nicht angenommen, steht die Gewerkschaft nackt und ohne Strategie dar. Die ver.di-Spitze scheint sich dieser Gefahr durchaus bewusst zu sein. Gegenüber den Gewerkschaftsmitgliedern betonte Berno Schuckart-Witsch, dass ihm vor allem der letzte Satz des Schreibens besonders wichtig ist: »Ungeachtet der Verfassungsbeschwerde wird ver.di selbstverständlich weiterhin auf den Abschluss von Tarifverträgen mit kirchlichen Einrichtungen hinwirken und gegebenenfalls dort, wo es notwendig ist, die betroffenen Beschäftigten auch zu Arbeitsniederlegungen aufrufen.«
An der doch arg kryptischen und nebulösen Begründung für den Kurswechsel fällt auf, dass ver.di vor allem einen Punkt hervorhebt, nämlich die Frage der Einbindung der Gewerkschaften in die Arbeitsrechtlichen Kommissionen. »Da das BAG aber für die Beteiligung der Gewerkschaften am Dritten Weg keine konkrete, sondern nur eine vage und unbestimmte Vorgabe gemacht hat, entsteht unmittelbar mit einem Angebot der Kirchen zur Beteiligung eine Rechtsunsicherheit, die alleine die Gewerkschaft trifft. Es findet also kein schonender Ausgleich von kollidierenden Rechten aus dem Grundgesetz statt, sondern in der Praxis entsteht – durch Entscheidung der Kirchen – eine Situation, in der jeder mögliche Streik für die Gewerkschaften mit dem Risiko der Rechtswidrigkeit behaftet ist.«
Der Druck, der auf ver.di in der Frage der Einbindung der Gewerkschaften in die Arbeitsrechtlichen Kommissionen lastet, kommt aber nicht nur aus Richtung der Kirchen. Der Druck kommt auch von einer ganz anderen Seite, von den Funktionären der Mitarbeitervertretungen (MAV), der kirchlichen Form der Betriebsräte, die häufig selbst ver.di-Mitglieder sind. Die katholischen Mitarbeitervertreter haben sich von Anfang an nicht großartig um die Forderung nach Abschaltung der ARKen geschert, sondern unverdrossen dort mitgearbeitet. Aber auch viele evangelische MAVler etwa in Nordrhein-Westfalen scharren seit dem BAG-Urteil nervös mit den Füßen. Der Drang zurück in die ARK, in welcher Form auch immer, ist unverkennbar, auch wenn es nicht immer explizit ausgesprochen wird. Dieser Druck ist das entscheidende Problem für ver.di in Sachen Streikrecht bei den Kirchen – und nicht Richtersprüche oder Grundgesetzparagraphen.
Streik als wichtigstes Instrument
Nach den anfänglichen Schwierigkeiten bei den Warnstreiks 2009 hat ver.di es geschafft, in Niedersachsen und an zwei Krankenhäusern in Hamburg seit 2010 die kirchlichen Unternehmer erfolgreich unter Druck zu setzen. Gelang es 2009 noch kaum, Kolleginnen und Kollegen zu Arbeitsniederlegung zu bewegen, so konnte sich in Hamburg und Niedersachsen die Streikbeteiligung mit der in nicht-kirchlichen Einrichtungen messen. Und wie überall wirkte sich das Streiken auch hier als wichtigster Motor zur Mitgliedergwinnung aus. Möglich wurde das, weil die Mitarbeitervertretungen nicht nur papierene Resolutionen verfassten, sondern sich aktiv an der praktischen Organisation der Streikfähigkeiten beteiligten. Die Strategie und der Weg von der politischen Demonstration zur Arbeitsniederlegung wurde dabei nicht von der Frage richterlicher Rechtsprechung abhängig gemacht. Ganz gleich wie die aktuelle Rechtslage nach den Prozessen in Bielefeld, Hamm, Hamburg und Erfurt auch aussah: eine Abmahnung oder sonstige Form von Repression hat es für die Teilnahme an den Streiks nicht gegeben. Lohnerhöhungen dagegen schon.
Tradition der Sozialpartnerschaft aufbrechen
Doch dies ist nicht überall der Fall. Gerade in einem großen Bundesland wie Nordrhein-Westfalen wirkt die lange Tradition der betrieblichen Sozialpartnerschaft unverändert fort. Das ist umso schwerwiegender, als dass Nordrhein-Westfalen das Bundesland mit der höchsten Rate an kirchlichen Krankenhäusern ist. Bei 60 Prozent kirchlichen Krankenhäusern (im Bundesdurchschnitt 30 Prozent) hat ver.di in große Schwierigkeiten, auf dem Krankenhaussektor etwas zu bewegen, wenn es nicht gelingt, die Belegschaft im Kirchenbereich zu mobilisieren.
Doch gerade die MAV-Fürsten in den großen Diakonischen Betrieben schreiben gerne papierene Resolutionen für Tarifverträge und Streikrecht. Sie wehren sich aber gleichzeitig mit Händen und Füßen dagegen, wenn es vor Ort um einen Konflikt mit dem eigenen Arbeitgeber geht. In aller Regel selbst ver.di Mitglieder, sind sie gleichzeitig bemüht, das gewerkschaftliche Profil im Betrieb möglichst klein zu halten. Das Verhältnis von gewerkschaftlichen Sekretären, Mitarbeitervertretern und gewerkschaftlicher Basis ist deshalb in diakonischen Betrieben oftmals alles andere als konfliktfrei. Und den Kirchen entgeht dieses Spannungsverhältnis selbstredend nicht. »Unser Mitarbeitervertreter«, zitiert etwa das Bielefelder Westfalenblatt im März 2009 anlässlich einer ver.di-Demonstration gegen die Ausgliederung von 500 Beschäftigten im Evangelischen Krankenhaus Bielefeld ein Vorstandsmitglied von Bethel, »ruft nicht zu der Demonstration auf.«
Während ver.di fordert, die Arbeitsrechtlichen Kommissionen zu schließen, schreibt ein Mitarbeitervertreter im Rheinland: »Bei allem Ärger über die ungerechte Arbeitsrechtsetzung im Sommer, können wir heute mit verhaltender Freude feststellen, dass es der ARK-rwl mal wieder gelungen ist, ihre Fehler zu korrigieren. Wie fast immer im Rheinland, mit einem Kompromiss, der keine Seite in der ARK-rwl als ›Verlierer‹ darstellt. Schön und gut.« Was hier als »schön und gut« bezeichnet wird ist keine Gehaltserhöhung, sondern lediglich ein bisschen Kosmetik an einer drastischen Gehaltsabsenkung für Altenpflegehelfer. Und es ist keineswegs eine Seltenheit, dass der Vorsitzende einer MAV (und gleichzeitig ver.di-Mitglied) zu einer Betriebsversammlung sowohl den lokalen Gewerkschaftssekretär einlädt, als auch einen Vertreter der christlichen Scheingewerkschaft vkm. Und während der vkmler den Ehrenplatz erhält muss der ver.di-Sekretär mit dem Katzentisch vorlieb nehmen. In den Kreisen dieser Art von MAVlern ist die Nachricht, dass ver.di vor das Bundesverfassungsgericht ziehen will, gar nicht gut aufgenommen worden. Hier hatte man gehofft, das leidige Streikthema wäre mit dem BAG-Urteil endgültig vom Tisch. Die Aufforderung des BAG Erfurt, die Gewerkschaften stärker in die kirchliche Lohnfindung einzubinden, war dort befriedigt zur Kenntnis genommen worden. Jetzt, so fürchten sie, wird die ungestörte Rückkehr zum betrieblichen Co-Management wieder durch eine langanhaltende Auseinandersetzung um das Streikrecht gestört.
Diese Verhältnisse haben bisher verhindert, dass ver.di eine größere Streikbewegung in der Diakonie entfachen konnte – nicht die Rechtsprechung irgendwelcher Arbeitsgerichte. Ohne diese Verhältnisse aufzubrechen, wird es keinen Fortschritt geben in Richtung eines Tarifvertrages Soziales.
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