Die ägyptische Revolution legt einen höheren Gang ein. Die im Sommer losgetretene Streikwelle breitet sich aus. Judith Orr und Phil Marfleet berichten aus Kairo
Der Gerichtsprozess gegen den verhassten Mubarak sowie die Verurteilung des Stahlmagnats Ahmed Esz zu zehn Jahren Gefängnis wegen Korruption haben der Bewegung in Ägypten neue Zuversicht gegeben.
»Überall brechen Streiks aus«, berichtet Sameh Naguib von den Revolutionären Sozialisten in Kairo. »Die Regierung ist bemüht, schon im Vorfeld von Streiks Zugeständnisse zu machen.« Schulen und Hochschulen, darunter die hochangesehene American University in Kairo, an der streikende Angestellte sich mit besetzenden Studenten solidarisiert haben, bilden einen Fokus der Streiks und Proteste.
Ihre Forderungen umfassen Löhne, Arbeitsverträge und Studiengebühren, aber sie kämpfen auch gegen das korrupte Management und die fortbestehende Besetzung von Ämtern durch Mitglieder der Staatssicherheit. Eine ihrer Forderungen ist die nach einer Untersuchung der Scharfschützen, die von den Dächern der Universität auf Demonstranten auf dem Tahrirplatz geschossen haben.
Streiks in ganz Ägypten
Solche Kämpfe brechen in ganz Ägypten aus, trotz ihrer Ungesetzlichkeit in den Augen des Militärrats. Streikende werden nicht nur durch ihre Vorgesetzten belästigt, sie werden von den Sicherheitskräften angegriffen.
Viele Streiks sind lokale Angelegenheiten, weil die Gewerkschaften erst Fuß fassen und sich organisieren müssen. Aber manche Kämpfe haben sich landesweit organisiert, so der erste Lehrerstreik seit 1951. Die Lehrer fordern den Rücktritt des Bildungsministers, einer führenden Figur in Mubaraks ehemaliger Regierungspartei, nebst Verbesserungen ihrer Löhne und Arbeitsbedingungen.
Bildungssystem erneuern
Ein streikender Lehrer aus Fayyum sagte: »Ich arbeite seit 28 Jahren als Lehrer und verdiene weniger als 1000 ägyptische Pfund im Monat. Dabei wimmelt das Bildungsministerium von Beratern, die das Hundertfache verdienen!« Viele Lehrer verdienen so wenig, dass sie sich einen Zweitjob in Restaurants oder als Taxifahrer suchen müssen. An 46.000 Schulen arbeiten 1,5 Millionen Angestellte.
Aber sie kämpfen nicht nur für sich selbst, sondern um die Erneuerung des Bildungssystems überhaupt und fordern eine Aufstockung der Bildungsausgaben auf 6.5 Prozent des Bruttoinlandproduktes. Damit sollen neue Schulgebäude und kleinere Klassen von höchsten 30 Schülern finanziert werden – statt der 60 bis gelegentlich 100 und mehr, die keine Seltenheit sind.
Schnell radikalisiert
Nach einer Woche Streik radikalisierten sich ihre Forderungen: »Gebt nach, oder ihr könntet dieses Schuljahr vergessen!« ist ihr Slogan. Sie empören sich wegen der vielen Wortbrüche des Bildungsministers und der Regierung. Am 23. September kamen zehntausende Lehrer aus dem ganzen Nildelta, aus Tanta, Banha, Ismailia und Mansoura, und belagerten zehn Stunden lang das Bildungsministerium in der Nähe des Tahrirplatzes in Kairo, während die Polizei nervös zuschaute aber nicht intervenierte.
Als ein Regierungsvertreter das Angebot machte, eine Fünfer-Delegation zum Minister zuzulassen, riefen sie einstimmig: »Komm doch runter und rede mit uns!«
Manche Medien zeichnen ein Bild von geldgierigen Lehrern, und dass nur eine Minderheit streike. Aber in Wirklichkeit sind es im ganzen Land 80 Prozent, mancherorts streiken alle Lehrer.
Neue unabhängige Gewerkschaften
Khalid Noamani von der neu gegründeten Unabhängigen Lehrergewerkschaft sagt: »Wir haben den ganzen Dienstweg versucht, aber vergeblich. Wir sind verzweifelt.« Während der Verhandlungen haben sie ihren Streik für eine Woche ausgesetzt.
Solche gemeinsame Aktionen seitens von Staatsangestellten wären unter Mubarak undenkbar gewesen. Aber jetzt gründen sich allerorts neue unabhängige Gewerkschaften.
Die Regierung versucht die Menschen weis zu machen, die Revolution habe mit dem Sturz Mubaraks ihr Ziel schon erreicht. Es müsse nun für Ordnung gesorgt werden, damit die Wahlen über die Bühne gebracht und eine neue Regierung, die die Interessen des Volkes wahrnimmt, ihre Geschäfte aufnehmen könnten.
Unerfüllte Hoffnungen
Aber für Millionen Menschen haben sich die Hoffnungen, die sie mit der Revolution verbanden, nicht verwirklicht. Sie haben die Lügen und falschen Versprechen satt. Den gewonnen Freiraum nutzen sie nun aus, um kollektiv zu kämpfen. Dabei haben sie wichtige Siege errungen.
Die Regierung droht damit, Ägyptens repressive Notstandsgesetzgebung gegen Streikende einzusetzen. Die Lehrerdemonstration in Kairo zeigt, dass Arbeiter die Macht besitzen, mit solchen Drohungen fertig zu werden. Auch die streikenden Busfahrer Kairos ließen diese Drohung letzte Woche abperlen.
Andere Kämpfe umfassen die Arbeiter der Zuckerraffinerien in Oberägypten, die um Löhne und bessere Arbeitsbedingungen und für die Absetzung der alten Regimeanhänger kämpfen.
Auf einer Massenversammlung riefen sie »Unbefristete Streiks bis zum Sturz des Regimes!«. Sie debattierten über die Situation in Palästina und die Rolle des westlichen Imperialismus.
Kämpfe zusammenführen
Was den Streiks ihre große Stoßkraft verleiht, ist das Zusammenfließen von wirtschaftlichen und politischen Forderungen. Rufe nach grundlegenden Verbesserungen des Lebensstandards werden begleitet von einer radikalen Herausforderung der Militärregierung. Das langsame Tempo der Veränderung und die fortdauernde Präsenz alter Regimeanhänger in Machtpositionen nähren den allgemeinen Frust.
Sameh meint, die Aufgabe von Sozialisten bestehe darin, diese vielen Kämpfe zusammenzuführen. »Woche für Woche streiken zehntausende, manchmal hunderttausende Arbeiter an unterschiedlichen Tagen. Wir bemühen uns um den Aufbau eines zentralen Streikkomitees, um die Macht aller Arbeiter bündeln zu können.«
(Zuerst erschienen in der britischen Wochenzeitung Socialist Worker. Übersetzung von David Paenson)
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- Solidaritätserklärungen für die streikenden Lehrer bitte an die Ägyptische Föderation Unabhängiger Gewerkschaften richten: eiuf2011@gmail.com. Mit Kopie an menasolidarity@gmail.com.