Passend zur Programmdebatte in der LINKEN sind Ende 2010 zwei neue Bücher über den Linkssozialismus erschienen. Sie beleuchten eine Tradition in der Arbeiterbewegung, die der Sozialdemokratie ebenso kritisch gegenüberstand wie dem Stalinismus. Marcel Bois hat sie gelesen
Seit Monaten schon diskutiert DIE LINKE über ihr Programm. Viele Fragen sind noch offen. Einigkeit herrscht unter den Mitgliedern lediglich darüber, wovon man sich abgrenzen möchte: Eine neue SPD soll die Partei auf keinen Fall werden. Und den »Realsozialismus« der DDR möchte auch kaum jemand zurückhaben. Da passt es gut, dass gerade zwei Bücher über eine historische Strömung erschienen sind, die sich ebenfalls jenseits von Sozialdemokratie und stalinisiertem Kommunismus verortet hat. Die Rede ist vom Linkssozialismus. Dessen Anhänger stammten zumeist aus sozialdemokratischen Parteien, kritisierten deren Politik massiv und hatten in vielen Fällen auch organisatorisch mit ihnen gebrochen. Zugleich verstanden sich die Linkssozialisten als Marxisten und Antistalinisten.
Die beiden Bücher ergänzen sich gut: Der eine Band, von Klaus Kinner im Rahmen der Reihe »DIE LINKE – Erbe und Tradition« herausgegeben, stellt überwiegend Vordenker des Linkssozialismus vor. Die Autoren des von Christoph Jünke veröffentlichten Sammelbandes beleuchten hingegen hauptsächlich die Geschichte verschiedener linkssozialistischer Organisationen. Darüber geht das Werk auf die internationale Dimension ein. So finden sich dort auch Artikel über Organisationen wie »Socialisme ou Barbarie«, eine wichtige intellektuelle Impulsgeberin für die 68er-Bewegung in Frankreich.
Große Unterschiede
Schnell wird jedoch bei der Lektüre deutlich, dass es sich beim Linkssozialismus um eine sehr heterogene Geistesströmung und Bewegung handelte. Zwischen den einzelnen Personen und Gruppierungen bestanden große Unterschiede in Programmatik und Praxis.
Exemplarisch lässt sich dies anhand der beiden bekanntesten deutschen Linkssozialisten Wolfgang Abendroth und Peter von Oertzen illustrieren – etwa anhand ihres Verhältnises zur SPD. Der marxistische Wissenschaftler Abendroth, dem in beiden Bänden insgesamt fünf Aufsätze gewidmet sind, stammte aus der kommunistischen Bewegung der Weimarer Republik. Nach dem Krieg gab es für ihn keinen Weg mehr dorthin zurück. Daher schloss er sich aus pragmatischen Gründen der Sozialdemokratie an, aus der er bereits im Jahr 1961 wieder ausgeschlossen wurde. Fortan bemühte er sich, eine neue Linke jenseits der beiden großen Strömungen der Arbeiterbewegung aufzubauen. Er wurde zum Mitbegründer des Sozialistischen Bundes und engagierte sich in der Ostermarschbewegung.
Marxistische Wurzeln
Der 18 Jahre jüngere Peter von Oertzen brach hingegen erst im Jahr 2005, kurz vor seinem Tod, mit der Sozialdemokratie und wurde Mitglied der WASG. Zuvor hatte er sich knapp sechs Jahrzehnte – teilweise als niedersächsischer Kultusminister – dafür eingesetzt, die SPD zu ihren marxistischen Wurzeln zurückzuführen. Er sah die Partei »mit großem inneren Abstand (…) als notwendige Organisation für politische Veränderung« an, wie es Michael Buckmiller in einem Aufsatz ausdrückt.
Auch im Umgang mit dem westdeutschen Parteikommunismus unterschieden sich die beiden Linkssozialisten deutlich. Abendroth setzte sich seit den 1950er Jahren für die Aufhebung des KPD-Verbots ein und agierte später im Umfeld der DKP. Von Oertzen hingegen unterstützte zeitweilig die von Willy Brandt initiierten Berufsverbote gegen DKP-Mitglieder.
Arbeiterbewegung erneuern
Weitere Punkte, an denen sich nicht nur Abendroth und von Oertzen unterschieden, benennt Jünke: »Demokratie und Diktatur sind als politische Begriffe innerhalb der sozialistischen Linken ebenso umstritten wie das Verhältnis von Reform und Revolution oder das konkrete Mischverhältnis von Marktwirtschaft und Planwirtschaft.« Angesichts dieser Heterogenität plädiert er dafür, den Linkssozialismus nicht inhaltlich, sondern vor allem historisch zu erfassen – als »Strömungen, Individuen und Ansätze, die sich seit den 1920er/1930er Jahren innerhalb und außerhalb der beiden Hauptströmungen der linken, sozialistischen Arbeiterbewegung positioniert haben, um (…) deutlich zu machen, dass diese (…) ihre sozialistischen Ursprünge verlassen haben, und dass es gelte, diese zu erneuern.«
Diese Herangehensweise erscheint plausibel. Denn der Verdienst der Linkssozialisten liegt vor allem darin, dass sie dazu beitrugen, die Tradition eines kritischen Marxismus über den Kalten Krieg hinaus zu bewahren und weiterzuentwickeln. Während der stalinisierte Kommunismus ideologisch immer mehr erstarrte und die Sozialdemokratie im Westeuropa immer staatstragender wurde, setzten sich die Linkssozialisten für einen demokratischen Sozialismus »von unten« ein.
Ausgezeichneter Überblick
Daher ist die weiter gefasste Definition des Linkssozialismus, wie sie in Kinners Buch angeboten wird, wenig hilfreich. Dort beginnt die Entwicklung der Strömung bereits im späten 19. Jahrhundert mit dem »Revisionismusstreit« innerhalb der SPD. Rosa Luxemburg wird als eine der ersten Linkssozialistinnen dargestellt. Doch wenn man sie in diese Strömung aufnimmt, warum dann nicht die gesamte frühe kommunistische Bewegung? Und warum dann nicht auch Marx und Engels?
Noch ein kleiner Kritikpunkt: Weder Kinner noch Jünke haben der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) der späten Weimarer Republik einen eigenen Beitrag gewidmet. Das ist wenig nachvollziehbar, denn die SAP war mit knapp 25.000 Mitgliedern eine der größten und wichtigsten linkssozialistischen Organisationen überhaupt.
Doch abgesehen davon gebührt den beiden Herausgebern ein großes Lob. Ihre Bücher liefern – gerade in der Kombination – einen ausgezeichneten Überblick über die Geschichte einer viel zu lange vergessenen politischen Strömung. Eines können sie jedoch nicht bieten: Hilfe bei der Entscheidung, auf welche der vielfältigen inhaltlichen Aspekte des Linkssozialismus man sich heute am besten berufen sollte.
Bibl. Angaben:
Christoph Jünke (Hg.): Linkssozialismus in Deutschland. Jenseits von Sozialdemokratie und Kommunismus, VSA-Verlag, Hamburg 2010, 261 Seiten, 18,80 Euro.
Klaus Kinner (Hg.): DIE LINKE – Erbe und Tradition, Teil 2: Wurzeln des Linkssozialismus, Dietz, Berlin 2010, 320 Seiten, 24,90 Euro.
Zur Person:
Marcel Bois ist einer der Sprecher der Historischen Kommission der LINKEN und Mitherausgeber der »Beiträge zur Geschichte einer pluralen Linken« (RLS-Papers, Berlin 2010).
(Der Text erschien erstmals in der Tageszeitung junge Welt vom 1.12.2010.)