Der ver.di-Bezirk Stuttgart hat in den vergangenen Jahren viele neue Mitglieder gewonnen. Beim Kongress »Marx is’ muss« im letzten Jahr erklärte Bernd Riexinger das Erfolgsrezept. Wir dokumentieren seine Rede
Zunächst einmal einige grundsätzliche Bemerkungen: Wir haben nicht nur eine Verschiebung vom industriellen zum Dienstleitungssektor. Auch innerhalb des Dienstleistungssektors gibt es gesonderte Entwicklungen. Meine erste These ist: Die Auseinandersetzungen im Dienstleistungssektor wurden häufiger von Frauen getragen, insbesondere in den Gemeinden. Ich persönlich kam aus der HBV (der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen, die im Jahr 2001 in der ver.di aufgegangen ist; Anm. der Red.), kannte mich vor zehn Jahren im öffentlichen Dienst nicht aus und hatte ein völlig idealisiertes Bild von der Gewerkschaft ÖTV.
In Wirklichkeit war es aber so, dass die ÖTV über die Fläche gar nicht besser organisiert war als die HBV im Einzelhandel. In den Verwaltungsbereichen und in den Sozialarbeiterberufen im Gesundheitswesen lag der Organisationsgrad im Großen und Ganzen bei unter 10 Prozent. Hoch organisiert waren einzig die männlichen Mitarbeiter bei der Müllabfuhr, bei den Straßenbahnen, bei den Tiefbauämtern und in ähnlichen Bereichen. Das war die Stütze der Tarifkämpfe im öffentlichen Dienst. Die anderen Beschäftigtengruppen haben zugeguckt, wie die kampfstarken Kolleginnen und Kollegen die Ergebnisse erstreikt haben. Als ich 2001 bei ver.di anfing, gab es weder in den Kitas noch in den Krankenhäusern große Streikerfahrungen. Es waren relativ kleine Gruppen aktiver Leute, die da mitgemacht haben.
Das hat sich sehr gewandelt. Inzwischen sind die Erzieherinnen, zum Teil auch die Sozialpädagogen, die größte Streikstütze im öffentlichen Dienst. Sie streiken besser und wirkungsvoller als zum Beispiel die Müllarbeiter. Ich erkläre später, warum das so ist – festzuhalten ist aber erst mal, dass hier eine Säule dazugekommen ist, bei der Mehrheiten streiken, das gerne und vor allem auch erfolgreich tun.
Auch das Gesundheitswesen hat aufgeholt, wobei das nicht ganz vergleichbar ist. Bei den Erzieherinnen und Erziehern haben wir Streikbeteiligungen von 60 bis 70 Prozent, in den Krankenhäusern kommen wir über 15 bis 20 Prozent nicht hinaus. Ich persönlich denke, das hat viel mit den hierarchischen Strukturen dort zu tun. In den Kitas ist die Amtsleitung weit weg, sie sind unter sich, die Kitaleitung gehört meist zu den Beschäftigten und sie machen die Streikbeteiligung unter sich aus. Wenn sie sagen, sie streiken, dann streiken sie geschlossen. Im Krankenhaus hast du eine Pflegedienstleistung, Oberschwestern, Ärzte und Oberärzte, die das Klima im Krankenhaus ganz anders prägen als in der Kita. Das wäre für mich eine Erklärung, warum ich keinen Fall kenne, wo es geglückt wäre, die Mehrheit der Beschäftigten in den Streik gehen zu lassen.
Ein weiterer Bereich, in dem es neue Entwicklungen gibt, ist der Handel. Wir befinden uns gerade inmitten einer neuen Auseinandersetzung, zwanzig Betriebe sind im Streik. Wir machen eine Aktion in der Stuttgarter Königsstraße und besuchen jeden Betrieb, der dort bestreikt wird. Vor der Eingangstür singen wir und machen ordentlich Remmidemmi. So etwas ist neu – von 2006 bis heute haben sich im Handel völlig neue Streikformen entwickelt. Die kann man überhaupt nicht mehr mit früher vergleichen. Es hat sich eine Emanzipation der Streikkultur herausgebildet und neue Betriebe sind dazugekommen. Das ist nicht überall so. Wir reden hier über einen Bezirk, wo es der Gewerkschaft durch eine bestimmte Methodik gelungen ist, junge Belegschaften zu gewinnen, zum Beispiel bei H&M, und auch viele Migrantinnen – fast ausschließlich Frauen.
Die erfolgreiche Organisierung hat einen Grund: Berufe wie Erzieherin oder Verkäuferin sind anspruchsvoll, aber unterbezahlt. Zwar sind dort Frauen nicht schlechter bezahlt als Männer. Aber die Branche wird geprägt durch eine hohe Frauenbeschäftigung, und es galt in Deutschland lange der Grundsatz »Hauptverdiener Mann, Zuverdiener Frau«.
Das war viel länger der Fall als im Rest Europas. Diese Arbeitsteilung gibt es nicht mehr: Zum einen sehen die Frauen nicht ein, warum sie nur hinzuverdienen sollen, sie wollen selber von ihrem Einkommen leben können. Zum anderen haben sich die Lebenslagen dramatisch verändert, viel mehr Alleinerziehende müssen von ihrem Einkommen leben können und stehen nahe an der Armutsgrenze. Bei den Erzieherinnen kommt noch die Frage dazu, warum die Arbeit von jemanden, der Kinder erzieht, weniger wert sein soll als die Arbeit von jemand, der bei Daimler am Band Autos zusammenschraubt. Zudem herrscht im Erziehungsbereich Arbeitskräftemangel. All dies treibt die Streikbereitschaft und schafft günstige Bedingungen für die Gewerkschaft.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im ver.di-Bezirk Stuttgart völlig neue Berufsgruppen in die gewerkschaftliche Aktivität und in Streiks eintreten. Es war ja üblich, dass beispielsweise die Kollegen der IG Metall herunterschauen auf die Kollegen im öffentlichen Dienst. Da sag ich ganz ketzerisch: Jede Verkäuferin in Stuttgart hat zwanzig mal mehr Streiktage auf dem Buckel als der Kollege bei Daimler und jede Erzieherin das 25-Fache. Wir haben im Einzelhandel Betriebe, die in einem Jahr zwanzig Wochen gestreikt haben – da muss die Metallindustrie schon lange zurückschauen, um ähnliche Erfahrungen vorzuweisen.
Natürlich gibt es einen großen Unterschied bei der Durchsetzungsfähigkeit der Streiks. Im Dienstleistungssektor ist es wesentlich schwieriger, Erfolge zu erzielen, als in der Metallindustrie. Eine Automobilfabrik mit 20.000 Beschäftigten kannst du mit 1.000 Streikenden lahmlegen – es ist möglich zu gewinnen, ohne dass die Mehrheit streikt. Ein Kaufhaus kann man so nicht lahmlegen – du musst richtig lange streiken, um die wirklich zu treffen. Da gibt es befristetet Beschäftigte, die nicht streiken, Abteilungsleiter, die nicht streiken, flexible Kräfte, die rangeholt werden. Da brauchst du viel Fantasie und innovative Streikformen, um Wirkung zu erzielen.
Ein Beispiel aus dem Handel: Wir haben zwölf H&M-Filialen in der Region, alle gut organisiert und streikfähig. Hier haben die Aktiven untereinander verabredet, alle an einem Mittwoch um zwölf Uhr spontan aus dem Laden zu gehen und damit praktisch zu streiken. Das ist ungeheuer schwierig, da steht eine Kundenschlange und du sollst dann aus dem Laden gehen. Der Betrieb wird dadurch völlig durcheinandergebracht, weil so schnell keine flexiblen Kräfte von H&M rangeschafft werden können. Alle zwölf Betriebe haben es geschafft: Sie haben um 12 Uhr aufgehört und den Kunden an den Kassen eine Erklärung abgegeben, dass ihre Gewerkschaft sie gerade zum Streik aufgerufen hat und sie jetzt gehen müssen. Das hat ausgestrahlt, eine Kaufland-Filiale hat am selben Tag mitgezogen.
Eine besondere Rolle spielen die Migrantinnen. Dort ist eine größere Bereitschaft da, sich nicht alles gefallen zu lassen, als bei den deutschen Arbeitnehmerinnen. Migrantinnen sind deshalb überdurchschnittlich bei den Streiks vertreten. Das sehen wir insbesondere bei der Drogeriemarktkette Schlecker: Hier sind die Beschäftigten überwiegend Migrantinnen aller Altersgruppen. Das ist eine reine Organisationsfrage, die Frage, ob sie streiken, stellt sich nicht, weil die Bereitschaft bereits vorhanden ist.
In beiden Bereichen, sowohl im öffentlichen Dienst als auch im Handel, streiken wir so oft wir können. Wenn wir Ansatzpunkte sehen, streiken wir, auch wenn wir eine Minderheit im Betrieb sind. Das ist sinnvoll, weil die Leute dadurch Streikerfahrung sammeln und eine gewisse Begeisterung für diese Aktionsform entwickeln. Das geht aber nur, wenn man alle Streikbetriebe immer wieder zusammenfasst. Wir haben die Methode, dass wir überall aktive Streiks durchführen. Das heißt, es findet jeden Tag eine Streikversammlung statt, die zwei Elemente beinhaltet: Zum einen wird von uns Hauptamtlichen ein bisschen Stimmung gemacht. Wir betonen, wer alles dabei ist, dass es vorwärts geht und wie klasse es ist, dass alle da sind. Gleichzeitig sind die Streikversammlungen auch ein demokratisches Forum, wo sich jeder melden kann, jeder Betrieb berichten kann und wo diskutiert wird, wie es weitergeht. Das führt dazu, dass die vorwärtstreibenden Elemente im Streik mehr Einfluss bekommen. Diejenigen, die weitermachen wollen, überzeugen oft in den Streikversammlungen die Zögerlichen. Manchmal müssen wir da wirklich ausgleichen, wenn die junge Frau von H&M sagt: »Was? Ihr seid schon seit zwanzig Jahren Betriebsräte und kriegt eure Leute nicht raus, und wir erst seit vier Jahren und schaffen das? Was seid ihr denn für Betriebsräte?«
Eine interessante Erfahrung im Handel ist tatsächlich, dass die vielen neuen Betriebsräte nicht diese Scheu vor Streiks haben, die wir bei älteren Betriebsräten beobachten. Das hat viel damit zu tun, dass früher weniger gestreikt wurde und die Dinge eher sozialpartnerschaftlich geregelt wurden. Die junge Generation ist von dieser Phase nicht mehr geprägt. Die kennen die Unternehmer nur als harte Gegenseite. Das ist für die Kampfbereitschaft positiv.
Zur Streikkultur gehört dazu, dass die Versammlungen immer zu Aktionen führen. Wir versuchen bei allen Streiks, jeden zweiten Tag eine öffentliche Aktion zu machen. Die Streiks sollen nicht im Raum bleiben. Entweder wir machen eine Demonstration in der Stadt oder organisieren Busse, um in die umliegenden Kreise zu fahren und dort eine Demonstration zu machen. Oder wir ziehen durch die Läden und klären über unseren Streik auf. Streiken ist ein bisschen wie Fahrradfahren: Wenn man es erst mal erlernt hat, dann verlernt man es auch nicht so schnell wieder. Wenn die Hürde erst mal weg ist, dann geht viel, auch bei den Erzieherinnen. Bekannte und Freunde aus diesem Bereich sagen manchmal nach einem Jahr – wenn sie einen Tarifvertrag für zwei Jahre ausgehandelt haben: »Ooch, wir vermissen das schon: Streiken, zum Gewerkschaftshaus laufen und ein bisschen was anderes mitkriegen als unseren Alltag.« Das sind ungeheure Lernprozesse.
Zum Autor: Bernd Riexinger ist Geschäftsführer des ver.di-Bezirks Stuttgart und Mitglied des geschäftsführenden Landesvorstands der LINKEN in Baden-Württemberg.