Zehn Jahre nach Beginn des Afghanistankriegs wird die Niederlage des Westens immer deutlicher. Doch ein kompletter Truppenabzug kommt für die NATO nicht in Frage. Dafür steht zu viel auf dem Spiel, meinen Christine Buchholz und Stefan Ziefle
In bester Body-Count-Manier verkündet die ISAF Monat für Monat den Tod hunderter Aufständischer. Es wirkt, als wolle die »Internationale Schutztruppe« für Afghanistan der kriegsmüden Bevölkerung zu Hause signalisieren: Es geht voran! Seit Mai 2011 habe man »mehr als 450 feindliche Kämpfer getötet und fast 300 gefangen genommen«, teilte die Truppenführung Ende September mit.
Die aktuelle Zahl »feindlicher Kämpfer« schätzt die ISAF auf rund 25.000. Das sind – trotz der Festnahmen und Tötungen – genauso viele wie letztes Jahr und wie im Jahr zuvor. Das ist nur ein Beispiel dafür, dass der Krieg des Westens nicht so läuft wie erhofft. Die Bundesregierung weiß genau, wie die »Sicherheitslage« ausschaut. Die ISAF hat beispielsweise allein in der Woche vom 10. bis zum 16. Oktober diesen Jahres 732 »Sicherheitsvorfälle« registriert. Dabei handelte es sich um 493 Schusswechsel und Gefechte, 119 Sprengstoffanschläge sowie 100 Vorfälle von indirektem Beschuss (Mörser und Raketen) und 20 sonstige Vorfälle. Insgesamt wurden bei den Vorfällen sieben ISAF-Soldaten getötet und 82 verletzt.
Woche für Woche geschieht praktisch dasselbe. Einzig die Zahlen verändern sich – und zwar tendenziell nach oben. Laut Vereinten Nationen nahmen die »gewaltsamen Vorfälle« im ersten Halbjahr um 38 Prozent gegenüber dem Vorjahr zu. Im Oktober bekamen die Parlamentarier zudem die Zunahme posttraumatischer Belastungsstörungen bei zurückgekehrten Soldaten präsentiert. 587 Fälle wurden zwischen Januar und September gemeldet.
Weichen stellen in Bonn
Anfang Dezember findet in Bonn die Internationale Afghanistan-Konferenz statt. Laut Auswärtigem Amt wird die internationale Staatengemeinschaft dort zusammenkommen, um »die Weichen für die Zukunft Afghanistans« zu stellen. Doch betrachtet man die Situation in dem asiatischen Land genauer, so wird schnell deutlich, dass es keine Zukunft hat, solange sich westliche Truppen dort befinden.
Auch im zehnten Jahr des ISAF-Einsatzes kontrollieren Aufständische oder regierungsfeindliche Gruppen weite Teile Afghanistans. Dementsprechend bleibt der Schwerpunkt der Bundeswehr-Aktivitäten laut Verteidigungsministerium, »die Stabilisierung des Kundus-Baghlan-Korridors«. Als »Gesamtziel der Operation« benennt die Hardthöhe: »In der Provinz Kundus den gegnerischen Einfluss auf die Verbindungsstraße zwischen dem Grenzübergang nach Tadschikistan und der südlichen Nachbarprovinz Baghlan zu neutralisieren.«
Das verdeutlicht: Die NATO verfügt über nicht mehr als ein paar Inseln der Kontrolle in einem Meer der Feindseligkeit. Auch die im November 2009 von US-Präsident Barack Obama beschlossene Truppenaufstockung und der massive Ausbau der afghanischen »Sicherheitskräfte« konnten den Aufstand gegen die Regierung Karsai und die NATO nicht ersticken.
Ein Grund dafür ist, dass die westlichen Truppen als Besatzer wahrgenommen werden. Laut einer im Oktober veröffentlichten Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung sehen das 56 Prozent der afghanischen Bevölkerung so. Vermutlich ist die Stimmung im Land sogar noch feindseliger, denn die Umfrage war keineswegs repräsentativ. Sie wurde nur in einem dem Westen »freundlichen« Umfeld durchgeführt.
Eine andere, Mitte September veröffentlichte Studie zeigt auf, wie die Zivilbevölkerung von der Besetzung betroffen ist – etwa durch nächtliche Razzien. Mittlerweile führen die ISAF-Truppen durchschnittlich 19 solcher Kommandoaktionen pro Tag durch. Laut Studie hat die Ausdehnung der Razzien »das Schlachtfeld direkt in die Häuser der Afghanen gebracht«. Unter der Bevölkerung habe sich die Ansicht verstärkt, dass »das internationale Militär die nächtlichen Razzien nutzt, um straflos Zivilisten zu töten, zu bedrohen und zu drangsalieren«. Die Zahl der Todesopfer hierbei stieg im vergangenen Jahr um 84 Prozent.
Den Blutzoll des Krieges trägt hauptsächlich die afghanische Bevölkerung. Alleine von Juni bis August wurden laut UN monatlich zwischen 971 und 1411 afghanische Zivilisten getötet. Das sind noch einmal fünf Prozent mehr als während desselben Zeitraums im vergangenen Jahr. Auch wenn die meisten dieser Menschen bei Angriffen von Aufständischen zu Tode kamen, sind sie doch Opfer der Besetzung.
Unbeliebter Präsident Karsai
Ähnlich unbeliebt wie die NATO ist auch die von ihr unterstützte afghanische Regierung. Präsident Hamid Karsai wurde vor zehn Jahren bei der Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn in sein Amt eingesetzt. Seitdem hat er ein Bündnis ehemaliger und aktueller Regionalfürsten und Kriegsverbrecher geschmiedet, das bis heute vollkommen vom Westen abhängig ist. So herrscht es lediglich über jene Teile des Landes, die von der NATO kontrolliert werden.
Karsais Regierung ist durch und durch korrupt. Sämtliche bisherigen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen wurden massiv gefälscht. Minister sind in Rauschgiftproduktion und -handel verstrickt. »Die Drogenindustrie durchdringt Politik und Wirtschaft in Afghanistan wie ein Krebsgeschwür«, urteilt Cita Maaß von der Stiftung für Wissenschaft und Politik. Ein Halbbruder des Präsidenten, Ahmad Wali Karsai, galt bis zu seiner Ermordung durch Aufständische im August als der Pate von Kandahar. Ein anderer Bruder, Mahmud Karsai, hat von afghanischen Geschäftsleuten einen Kredit in Höhe von fünf Millionen US-Dollar erhalten, um sich als Anteilseigner in die Kabul Bank einkaufen zu können. In der Folge wurde die Bank ausgewählt, die Lohnzahlungen aller öffentlichen Bediensteten abwickeln zu dürfen.
Die Bank steuerte auch illegal hohe Summen zum Wahlkampf des Präsidenten bei. Regierungsmitglieder bekamen Kredite, um sich an Luxusprojekten zu beteiligen. Dreißig Millionen Dollar flossen so in die Aufschüttung von künstlichen Inseln vor der Küste des Golfemirats Dubai. Mittlerweile hat die Kabul Bank Verbindlichkeiten ohne Sicherheiten in Höhe von rund 900 Millionen Dollar angehäuft. In einem Land mit einem Bruttosozialprodukt von gerade einmal zwölf Milliarden Dollar ist das eine erhebliche Summe. Für die Verbindlichkeiten werden letztlich die Geberländer aufkommen müssen.
Während sich die korrupte Elite mit Unterstützung des Westens bereichert, lebt die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in absoluter Armut. Die Hilfsorganisation Oxfam machte darauf aufmerksam, dass ein Drittel der afghanischen Kinder unterernährt sei. Drei Millionen Menschen sind unmittelbar von Hilfslieferungen abhängig, sodass die Vereinten Nationen die Geberländer in diesem Jahr um eine Mittelerhöhung von 160 Millionen US-Dollar bitten mussten. Oxfam stellte im Übrigen fest, dass die Aufständischen besonders starke Unterstützung der Bevölkerung dort erhielten, wo die Not am größten sei.
NATO gescheitert
Gescheitert ist die NATO auch mit ihrem Konzept der »Aufstandsbekämpfung« (»Counter Insurgency«). Dessen Grundannahme war, dass es gelänge, »die Herzen und Köpfe« der Bevölkerung zu gewinnen, wenn das Territorium erst einmal durch massive Militärpräsenz gesichert sei. Eine wichtige Rolle sollte hier die »zivilmilitärische Zusammenarbeit« spielen. Letztendlich bedeutet das nichts anderes, als dass die NATO Hilfsorganisationen für ihre Interessen einspannt. Das hat wiederum zu der Situation geführt, dass es Hilfsangebote hauptsächlich dort gibt, wo die NATO auf Widerstand trifft – eine gute Motivation also für die Bevölkerung, Aufständische zu unterstützen.
Die militärische Strategie der NATO sieht den zunehmenden Aufbau lokaler Sicherheitskräfte vor. Im US-Haushalt des kommenden Jahres sind 12,8 Milliarden Dollar für die Ausbildung und Ausrüstung dieser Kräfte eingeplant. Zum Vergleich: Der Gesamtetat des afghanischen Staats beträgt nur rund 1,5 Milliarden Dollar.
Um die Kosten für die über 300.000 afghanischen Soldaten und Polizisten möglichst gering zu halten, liegen deren Löhne meist unter dem Existenzminimum. Je nach Rang verdienen die Sicherheitskräfte 165 (Einstiegsgehalt) bis 945 US-Dollar (General) im Monat. Um in Kabul eine Familie ernähren zu können sind rund 400 Dollar erforderlich. Dementsprechend sind Nebenverdienste für das Sicherheitspersonal eine Selbstverständlichkeit. So gelten Polizisten unter der afghanischen Bevölkerung als moderne Straßenräuber.
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Überhaupt sind der Besitz von Waffen und die Fähigkeit, mit ihnen umzugehen, eine wichtige Einkommensquelle in Afghanistan. Etwa 20.000 der insgesamt 126.000 Polizisten sind letztes Jahr desertiert oder übergelaufen. Auch die von den USA geförderten lokalen Milizen, Privatarmeen lokaler Würdenträger, bieten ihre Dienste meistbietend an.
Eine Untersuchung des US-Kongresses zeigte im vergangenen Jahr auf, dass hunderte Millionen Dollar der NATO an Aufständische geflossen sind. Das westliche Militärbündnis bezahlt private Sicherheitsdienste zur Bewachung von Nachschubkonvois. Davon gehen mindestens zehn Prozent als Bestechungsgelder an Aufständische, um Angriffen vorzubeugen. Dementsprechend haben alle Beteiligten ein Interesse an regelmäßigen Angriffen auf die Konvois, um die Einnahmequelle nicht versiegen zu lassen. Der Krieg der NATO schafft Bedingungen, unter denen die Aufständischen beständig stärker werden.
Auch die Nachbarstaaten Afghanistan, allen voran Pakistan, haben ein Interesse daran, dass von ihnen abhängige Gruppen an Einfluss gewinnen. Kürzlich von Wikileaks veröffentlichte Berichte belegen, dass die CIA überzeugt ist, dass es eine direkte Einmischung des pakistanischen Geheimdienstes aufseiten der Aufständischen gibt. Die Unterstützung geht von Geld über Munition und Waffen bis hin zur direkten Beteiligung an militärischen Aktivitäten.
Aufständische sind nicht zu schlagen
Zunehmend setzt sich in Washington die Überzeugung durch, dass die Aufständischen nicht geschlagen werden können. Aber ähnlich wie 1968 in Vietnam nach der Tet-Offensive, ziehen die Regierungen daraus nicht den Schluss, abzuziehen. Zu viel steht für die NATO auf dem Spiel. Einerseits will die US-Regierung an ihren strategischen Zielen festhalten: die militärische Präsenz in Zentralasien und Interventionsfähigkeit in Richtung Iran, China und Russland. Andererseits würde ein Eingeständnis ihrer Niederlage die NATO als interventionsfähige Ordnungsmacht im Interesse westlicher Konzerne erheblich schwächen. Am Ende könnte sie mangels Durchsetzungsfähigkeit dasselbe Schicksal erleiden, wie der Warschauer Pakt 1990.
Präsident Obama und die anderen beteiligten Regierungen können aber die aktuellen Anstrengungen nicht ewig fortsetzen. Bisher kostete der Afghanistankrieg allein die USA rund 600 Milliarden Dollar. Für Rentenansprüche und die Nachversorgung der eingesetzten Soldaten werden weitere 900 Milliarden anfallen. Die Tendenz ist steigend: Dieses Jahr gibt die US-Regierung 135 Milliarden Dollar für den Krieg aus. Das entspricht rund einer Million pro eingesetztem Soldat.
In Zeiten der Finanz- und Wirtschaftskrise ist das der amerikanischen Bevölkerung nicht mehr lange zu vermitteln. Im August wurde bei einer Umfrage in den USA zum ersten Mal eine Mehrheit für einen schnellstmöglichen Abzug festgestellt.
Ein Flügel der US-Administration plant daher einen Strategiewechsel. Demnach sollen 100.000 Soldaten abgezogen werden, 30.000 Kämpfer würden in Afghanistan bleiben. Sie sollen sich auf Kabul und einzelne Stützpunkte konzentrieren, von denen aus Kommandoaktionen, Bomben- und Drohnenangriffe gestartet werden können. So könnten die Kosten erheblich gesenkt und dennoch, so die Hoffnung der Militärs, die offene Niederlage vermieden werden.
Ein solches Szenario wäre kein Abzug und schon gar kein Ende des Krieges. Die NATO würde alle Anstrengungen unternehmen, den Konflikt in Afghanistan, hauptsächlich zwischen lokalen Rivalen, aufrechtzuerhalten, um zu verhindern, dass sich eine anti-westliche Regierung durchsetzt. Dass solche Formen von »Kriegen niedriger Intensität« wenig mit Frieden zu tun haben und welches Leid dadurch verursacht wird, konnte man seit den 1970er Jahren in Lateinamerika beobachten.
Ein wirkliches Ende des Krieges kann es nur geben, wenn die NATO vollständig abgezogen ist. Dafür zu kämpfen, bleibt die Aufgabe der Friedensbewegung.
Die Autoren:
Christine Buchholz ist friedenspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag.
Stefan Ziefle ist Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft Frieden und internationale Politik der LINKEN.
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