Wie aus dem Widerstand gegen ein Bauprojekt eine Massenbewegung wurde, haben sich Azad Tarhan und Simon Eberhardt im Rahmen einer Delegationsreise angesehen. In ihrem Bericht stellen sie dar, welche Stärken die Bewegung auszeichnen und vor welch großen Herausforderungen sie steht
Seit mehreren Wochen leisten Menschen in der Türkei nun schon Widerstand gegen die brutale Politik von Ministerpräsident Erdoğan. Was als Umweltbewegung zur Rettung eines Parks in Istanbul begann hat sich längst wie ein Flächenbrand ausgebreitet. Schon nach wenigen Tagen gab es in nahezu jeder großen Stadt in der Türkei Protestkundgebungen, Platzbesetzungen und Demonstrationen gegen die AKP-Regierung.
Die Menschen haben die Bevormundung durch die AKP satt. Sie wollen die antidemokratischen Dekrete Erdoğans, die Einschränkung der Pressefreiheit und Gleichschaltung der staatlichen Medien nicht mehr hinnehmen. Sie wollen die Vertreibung der Armen zu Gunsten riesiger Konsumtempel nicht mehr akzeptieren und sie lehnen sich gegen die Gewaltexzesse der türkischen Polizei auf, die mit allen Mitteln versucht, die Ausweitung der Proteste auf weitere Bevölkerungsteile zu verhindern.
Die Polizei geht dabei mit unglaublicher Gewalt und Heimtücke vor. Keiner weiß, wie viel Zivilpolizei sich unter die Demonstrationen mischt, doch immer wieder kann man beobachten, wie auf öffentlichen Plätzen aus einer kleinen Gruppe heraus Menschen von einer Sekunde auf die andere von Zivilpolizisten abgeführt werden. Wohin sie gebracht werden? Keiner weiß es genau. Vor ein paar Tagen wurden in einer Seitenstraße Busse gefunden, die in der Sonne geparkt waren. In den Bussen waren Gefangene von der Polizei mehrere Tage lang eingepfercht und misshandelt worden. Nur ein Beispiel von vielen für die nicht enden wollende Grausamkeit der willigen Vollstrecker Erdoğans.
»Nur zusammen sind wir stark«
Umso beeindruckender ist die Offenheit der Gezi-Park-Bewegung. »Wir haben hier nichts zu verbergen«, so ein Aktivist auf unsere Frage, wie sie sich vor Bespitzelungen oder Agents Provokateurs schützen würden. »Uns wurde von Erdoğan immer vorgeworfen, wir wären Plünderer, wir würden den Park verunstalten und hier unseren Dreck abladen. Schaut Euch um! Der Park ist sauberer als zuvor. Wir wollen, dass das alle sehen können!«
Natürlich gibt es in einem so großen Protestcamp immer wieder auch Auseinandersetzungen, doch diese werden sofort geschlichtet, denn alle sind sich bewusst darüber, dass eine Spaltung der Bewegung ihr Ende wäre. Gegen Abend werden die Barrikaden wieder aufgebaut, denn keiner weiß, wann Erdoğan unter Einsatz seiner brutalen Polizeischergen mit Tränengas und schwerem Gerät beginnen wird, den Park zu räumen.
Trotz dieser allgegenwärtigen Gefahr sind die Menschen immer noch kämpferisch und zuversichtlich. Es herrscht eine Stimmung des Aufbruchs, überall wird politisch debattiert, von den Jüngsten bis zu den Greisen, Frauen, Männer, Kurden und Türken, Kemalisten, Homosexuelle, Religiöse, radikale Linke – sogar die in der Türkei als Terrororganisation gebrandmarkte PKK hat ihren Stand im Camp. Alle können sich in dieser Bewegung wieder finden.
Regelmäßig kapitalismuskritisch
Trotz dieses Schmelztiegels unterschiedlichster politischer Motivationen steht die Bewegung deutlich links und positioniert sich regelmäßig kapitalismuskritisch. Sie stellt sich dabei gegen die neoliberale Politik der AKP. Seit dem Wahlsieg der AKP wurden massive Privatisierungen in den Bereichen Bildung, Erziehung, Gesundheit, Kommunikation und Straßenbau durchgeführt und das private Eisenbahnnetz stark ausgebaut. In nahezu allen Bereichen des alltäglichen Lebens sind die Pforten für den privaten Wirtschaftssektor weit geöffnet worden. Laut Helmut Weiss von labournet.de wurden bis 2011 etwa 200 Betriebe und Einrichtungen in der Türkei privatisiert.
Der Protest der Aktivisten richtet sich also nicht allein gegen die voranschreitende Islamisierung und die damit einhergehenden Verbote von Alkohol oder Abtreibung; sie richten sich auch gegen die neoliberale Politik der AKP. Dieses Element des Widerstands verbindet die unterschiedlichsten Gruppen miteinander. Eine weitere Stärke der Bewegung ist, dass sie Muslime dabei nicht ausschließt. Im Camp am Gezi-Park gab es eine Gebetsecke, eine Gruppe, die sich »antikapitalistische Muslime« nennt, hatte ebenso selbstverständlich ihren Info-Stand auf dem Parkgelände wie die säkularen Kemalisten und auch bei den Demonstrationen sind Muslime immer wieder als solche sichtbar.
Auch deswegen scheint die Solidarität in der Bevölkerung für die Proteste so nahe am Taksimplatz, das Zentrum der Bewegung, unbegrenzt. Geschäfte und Hotels stellen Wasser, Nahrungsmittel und Toiletten zur Verfügung. Ärzte schieben eine Schicht nach der anderen, um Verletzte zu versorgen und riskieren damit nicht nur Ihre Gesundheit sondern auch ihren Job. Keiner ist allein, denn alle wissen: »Nur zusammen sind wir stark!«
Kämpferische Stimmung
Auch uns erfasste diese kämpferische Stimmung sehr schnell. »Genau so könnte sich der Beginn einer Revolution anfühlen«, dachten wir, während wir von einem Aktivisten durch das Camp geführt wurde. Ob es tatsächlich soweit kommt? Wir waren trotz der eindrucksvoll kämpferischen Stimmung skeptisch und diskutierten immer wieder mit den Aktivisten vor Ort über Chancen, Probleme und Perspektiven der Bewegung.
Noch während wir uns im Gezi-Park-Camp mit einem 80-Jährigen über Möglichkeiten eines echten Volksaufstands unterhielten, ereilte uns die Nachricht, sofort unsere Gasmasken und Helme aufzuziehen. Erdoğans Polizeischergen bereiteten auf dem Taksimplatz den nächsten Angriff auf das Camp vor. Ich reckte meinen Hals, um bessere Sicht auf den Eingang des Parks zu bekommen, doch von dort waren nur noch Menschenmassen zu erkennen, die in unsere Richtung strömten. Ich wandte mich wieder in Richtung des altes Mannes, doch dieser hatte mir bereits den Rücken zugedreht und humpelte zielstrebig auf seinem Gehstock gestützt der Menschenmasse entgegen.
Von unserer Delegationsleitung bekamen wir einen Mundschutz und einen Helm zugesteckt: »Wir verlassen jetzt sofort schnell aber ohne Panik den Park. Es wird hier zu gefährlich. Bleibt zusammen und folgt mir.« Schnell machten wir noch in voller Montur ein Solidaritätsfoto und reckten die linke Faust. Auch ein wenig, um uns gegenseitig Mut zu machen. Wir hatten zwar alle Erfahrung mit gewalttätiger Polizei und Repression – allen stand jedoch ins Gesicht geschrieben, dass dies vermutlich eine der härteren Auseinandersetzungen werden würde. Hierzu hatten wir in den letzten Stunden genügend Augenzeugenberichte aus erster Hand gehört.
Aktivisten zusammengeschweißt
Erstes Geschrei aus Richtung des Parkeingangs kündigte den Einsatz von Knüppeln und Gasgranaten an. Wenige Sekunden nachdem wir uns in Bewegung gesetzt hatten, explodierten dicht über unseren Köpfen Schreckschuss-Granaten. »Keine Angst – bleibt ruhig und geht weiter. Die wollen nur, dass hier Panik entsteht!« Was dann folgte ist ein Beispiel für militärische Aufstandsbekämpfung: Innerhalb weniger Augenblicke ging ein Gasgranatenhagel über uns nieder, der alles in weißen, beißenden Nebel hüllte. Alle, die jetzt nicht mit einer professionellen Gasmaske ausgerüstet waren, bekamen die volle Ladung Tränengas ab. Jeder Atemzug tat unglaublich weh, die Augen schwollen an und schmerzten. Man hat das Gefühl, mit jedem Atemzug schürt es einem die Lunge etwas stärker zu. Der Gedanke, sich in einem solchen Zustand noch gegen Polizeiknüppel zur Wehr zu setzen, scheint unvorstellbar. Die Orientierung fiel uns schwer, denn alles sah binnen Sekunden gleich aus. Wir ließen uns mit der Masse so schnell es geht aus dem Park treiben. Unsere Delegation hatten wir im Getümmel und dem Gasnebel inzwischen verloren.
Als der Gasnebel sich etwas lichtete, begaben wir uns an den Rand der Menschenmasse, um unsere Augen auszuspülen. Die Atemzüge fielen wieder etwas leichter, doch die Lunge stach immer noch. Der Park hinter uns war immer noch in dichten Gasnebel gehüllt, als wenn Erdoğans Polizeischergen die Bewegung im Keim ersticken wollten. Viel Zeit zum Durchatmen blieb nicht, denn die Schreie kamen wieder näher. Wir strömten mit der Masse aus dem Park auf eine breite Kreuzung. Mitten im Getümmel saß ein Mann auf dem Bordstein einer Verkehrsinsel. Den Kopf tief zwischen den Knien, sein Gehstock lehnte an seiner Schulter. Die Massen strömten an ihm vorbei, doch er schien davon nichts mehr mitzubekommen. Ein vorbeilaufender Aktivist und ich sahen ihn – ohne ein Wort miteinander zu wechseln, verständigten wir uns blind und gingen auf ihn zu, um ihm aufzuhelfen. Der Aktivist sprach türkisch und versuchte den Mann aufzurütteln: »Abi, komm! Wir müssen hier weg! Abi, bitte steh auf. Die Polizei kommt.«
Beeindruckend widerständig
Erst wehrte sich der Mann, wollte nicht angefasst werden und riss sich mit einer trotzigen Bewegung los. »Sollen die Hunde doch kommen. Ich bleibe hier!« schrie er uns entgegen. Dann erkannte ich ihn. Es war der alte Mann, mit dem ich mich kurz vor dem Angriff unterhalten hatte. Aus seinem Gesicht sprach so viel Trotz und Widerständigkeit, man hätte meinen können, wir hätten es mit einem Teenager zu tun gehabt. Ich nahm meine Staubmaske ab, damit er mich erkennen konnte. Auf englisch verständige ich mich mit dem Aktivisten, trotz der respekteinflößenden Widerständigkeit des alten Mannes, ihn an beiden Armen hochzuheben und ihn einfach mitzunehmen. Er wehrte sich nicht mehr. Nach einigen Metern hielten wir an. Er bedankte sich bei uns und ging schimpfender Weise weg vom Park, in Richtung eines sicheren Stadtviertels. Es sind solche Erlebnisse, die die Menschen egal welcher Herkunft zusammenschweißen.
Erdoğan versucht dieses Wir-Gefühl unaufhörlich und mit allen Mitteln zu spalten, doch bisher ist es ihm nicht gelungen. Als er zum Beispiel die Mütter der Jugendlichen aufforderte, ihre Kinder doch aus dem dreckigen Camp zu holen, wo sich nur Plünderer aufhielten, das nur aufrührerische Pläne organisiere und damit der gesamten Türkei schade, entgegneten die Mütter dies mit einem unerwarteten Schritt: Sie kamen zu hunderten ins Camp, jedoch nicht, um ihre Kinder abzuholen, sondern, um sie zu schützen, ihnen zu sagen, dass sie an ihrer Seite stehen und dass sie das richtige tun. Es gibt dutzender solcher Beispiele, durch die die Bewegung zeigt, dass sie sich ihrer Rolle bewusst ist und nicht gewillt ist, sich spalten zu lassen. Bisher ist die Saat der Desinformation und staatlichen Propaganda noch nicht aufgegangen.
Bürgerliche Bewegung oder revolutionärer Volksaufstand?
Die Zukunft der Bewegung ist zu dem jetzigen Zeitpunkt nur sehr schwer abzuschätzen. Zu viele Faktoren spielen hier eine Rolle, als dass ihr Weg bereits jetzt klar vorgezeichnet wäre. Die Bewegung hat bereits während ihrer relativ kurzen Dauer viele verschiedene Facetten gezeigt und wird sich sicher auch in den nächsten Wochen noch verändern. Sie ist zunächst von einem eher bürgerlichen Spektrum initiiert worden und hat sich zu einer Massenbewegung entwickelt, die inzwischen unterschiedlichste soziale Schichten umfasst.
Es ist eine sehr junge Bewegung: eine Umfrage, die nach der ersten Protestwoche durchgeführt wurde ergab, dass knapp über 90 Prozent der Befragten Aktivisten zwischen 19 und 30 Jahre waren. Von ihnen nehmen 54 Prozent das erste Mal überhaupt an einer Demonstration teil und 70 Prozent gehören keiner Partei an. Trotz alledem besteht nach wie vor eine Stadt-Land Gefälle. Großdemonstrationen und Kundgebungen finden vor allen Dingen in den Großstädten statt. Der Rückhalt der AKP im ländlichen Raum ist wesentlich stärker als in den Zentren, wenngleich auch dort Protestpotenzial vorhanden ist. Dieses Potenzial müsste für einen wirklichen Volksaufstand erreicht werden.
Kurdische Bewegung solidarisch
Ein weiterer Knackpunkt ist das Agieren der kurdischen Bewegung, die von Beginn an ein tragender Bestandteil der Proteste am Gezi-Park war. Die von einigen befürchtete Entsolidarisierung der Kurden gegenüber der Gezi-Park-Bewegung hat nicht stattgefunden. Im Gegenteil: Abdulla Öcalan hatte aus dem Gefängnis heraus dazu aufgerufen, sich mit ihr zu solidarisieren, die pro-kurdische BDP (Partei des Friedens und der Demokratie), hat selbstverständlich ihren Stand auf dem Parkgelände und beteiligt sich aktiv an den Diskussionsprozessen.
Erdoğan wird jedoch keinen Versuch unterlassen, auch hier eine Spaltung herbeizuführen. Mit dem angestoßenen Friedensprozess zwischen der PKK und der türkischen Regierung und den kleinen aber spürbaren Verbesserungen für die kurdische Bevölkerung hat er ein vermeintliches Druckpotenzial in der Hand, das er versuchen wird gegen die Aktivisten auszuspielen. Die kurdische Bewegung weiß allerdings nur zu gut, welches Spiel Erdoğan hier versucht zu spielen. Sie wird sich nicht vor den Karren der AKP spannen lassen, denn sie hat am eigenen Leib erfahren, wie schnell und heimtückisch der türkische Staat gegen kurdische Abgeordnete oder Aktivisten und gegen die normale Bevölkerung vorgehen kann – auch unter der AKP.
Unklares Verhalten des Militärs
Unklar ist, wie sich das Militär verhalten wird, wenn der Protest sich zu einem Volksaufstand ausweiten sollte. Seit Erdoğan einige der einflussreichsten Militärs aus führenden Ämtern und der Gerichtsbarkeit entfernen ließ und den Laizismus in der Türkei offen in Frage stellt, ist die Loyalität der bewaffneten Armee gegenüber der AKP-Regierung sicherlich mehr als angekratzt. Traditionell stellt sich das Militär als säkularer Hüter des Vermächtnisses Mustafa Kemal Atatürks dar und rechtfertigte damit bereits mehrere Militärputsche. Im Namen Atatürks und der türkischen Nation schlachtete es Millionen Kurden und Armenier ab.
Sicherlich kein guter Verbündeter im Kampf gegen Erdoğan, was trotzdem nicht bedeutet, dass letztlich sehr viel vom Verhalten des Militärs abhängen wird. Seine Position ist bisher abwartend und widersprüchlich. Einerseits folgte es dem Ruf Erdoğans und marschierte als Drohkulisse auf dem Taksimplatz auf, andererseits wurde Soldaten dabei gesehen, wie sie Schutzmasken an Protestierende ausgaben. Die Schwelle für ein autonomes Agieren der Militärs liegt allerdings sehr hoch.
Spuren der Gewalt
Das brutale Vorgehen Erdoğans gegen die Bewegung hat seine Spuren hinterlassen und ein Ende der Gewalt ist nicht in Sicht. Knapp 150.000 Gaskartuschen sollen bereits verschossen worden sein. Während der Proteste wurden nach letzten Meldungen 100.000 zusätzliche Tränengaskanister bestellt und 60 weitere Wasserwerfer geordert. Ob und welche Kampfmittel von deutsche Firmen geliefert worden sind, ist unter Verschluss. Die Zeit schreibt in einem aktuellen Artikel, dass der Export von Reizstoffen vom Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (Bafa) genehmigt werden muss. Die Daten über eventuelle Lieferungen aus Deutschland müssten also vorliegen. Laut Zeit darf das Bafa die Namen der Hersteller jedoch nicht nennen.
Als wir Istanbul wieder in einem sicheren Flieger nach Deutschland verließen, überkam uns das Gefühl, die kämpfenden Menschen dort im Stich zu lassen. Auch wenn sie ihre Hoffnung und Fröhlichkeit nicht verloren haben, so sind sie doch durch die ständigen Angriffe ausgelaugt. Was sie jetzt brauchen, ist eine neue, frische Riege der Protestierenden, die die nächste Protestwelle tragen können. Passend dazu hatten fünf Gewerkschaften zu einem Generalstreik aufgerufen. Die zahlreichen Arbeiterinnen und Arbeiter, die seit Wochen nach ihrem Job das Protestcamp unterstützen, würden so entlastet und neue Kraft könnte die Bewegung weiter tragen. Soweit die Theorie. In der Praxis konnte sich bisher dieser Druck noch nicht richtig entfalten.
Hürden für die Bewegung
Zum einen liegt dies sicherlich an der enormen Repression durch den türkischen Staat. Wer sich an den Protesten beteiligt, muss jederzeit mit massiven Angriffen auf seine Grund- und Freiheitsrechte, im schlimmsten Fall mit Misshandlungen und Tod rechnen. Ein Gewerkschaftsvertreter berichtete uns, dass allein aus seinem Umfeld 87 Kollegen zur Zeit im Gefängnis sitzen würden. Insgesamt wurden rund 110.000 Mitglieder der Gewerkschaft KESK (Konföderation der Gewerkschaften im öffentlichen Dienst) vor Gericht gestellt oder verloren ihren Arbeitsplatz.
Zum Anderen gibt es kaum niedrigschwellige Möglichkeiten, sich an dem Protest zu beteiligen. Stets im Wissen darum, von welcher Seite die Eskalation ausgeht, erscheinen uns die gewaltfreien Bilder des Protests, zum Beispiel vom Piano-Spieler oder dem still stehenden Mann auf dem Taksimplatz daher doch enorm wichtig. Sie zeigen, dass sich der Protest immer wieder verwandeln kann, neue Widerstandsformen aufkeimen und sie doch einem gemeinsamen Stamm entspringen. Will man das Vor und Zurück der Bewegung durchbrechen, muss der Widerstand jetzt in die nächste Phase übergehen, den nächsten Schritt machen.
Überall ist Taksim – überall ist Widerstand!
Nachdem der Gezi-Park von Erdoğan und seinen Polizeischergen immer wieder brutal geräumt wurde, stellt sich also nun die Frage, wie der nächste Schritt der Bewegung aussehen könnte, wie sie den Protest stärker organisiert und ausweitet. Eine Möglichkeit, die vor Ort diskutiert und vom Park-Plenum entschieden wurde, ist, sich stärker vom Zentrum in die Peripherie zu orientieren. Frei nach der Parole »Überall ist Taksim – überall ist Widerstand!« könnte eine forcierte Dezentralisierung der Proteste in den Außenbezirken neuen Anschub geben. In den Stadtvierteln rund um Taksim gab es von Beginn an überall kleinere Protestkundgebungen und Aktionen.
Essenziell für das Erstarken dieser Widerstandsnester ist allerdings ein lokaler Bezugspunkt im Viertel und der Aufbau von transparenten Organisationsstrukturen. Die inhaltlichen Anknüpfungspunkte sind zahlreich: Vertreibung der Armen, Arbeitslosigkeit, steigende Mieten, alltägliche Repression durch die Polizei, schlechte gesundheitliche Versorgung usw. Gelingt es hier anhand gemeinsamer Kämpfe gegen die neoliberale Politik der AKP, Stadtteilkomitees aufzubauen, könnte der Protest systematisch weiter aufgebaut werden.
Gang in die Betriebe
Ein weiterer wichtiger Schritt wäre der Gang in die Betriebe und die konsequente Mitgliedergewinnung von Arbeitnehmern für kämpferische Gewerkschaften. Auf Grund der jahrzehntelangen repressiven Politik gegen gewerkschaftliche Engagierte ist die Zahl der Beschäftigten, die organisiert sind, relativ gering. Laut Angaben von labournet.de werden in Statistiken bereits Regionen als gewerkschaftlich »stark« bezeichnet, in denen ein Organisationsgrad von 5 Prozent besteht. Die Zahl der tariflich abgesicherten Arbeitsverhältnisse liegt seit fast 20 Jahren unter der Millionengrenze. Seit dem verlorenen Kampf der Arbeitnehmervertretungen gegen die erste Welle der Privatisierungen unter der Regierung Özal, haben die Gewerkschaften sich nicht mehr richtig von dieser Niederlage erholen können.
Das jahrzehntelange Zusammenspiel von Repression, Spaltung und politischer Niederlage führte dazu, dass der AKP-Regierung bei Regierungsantritt keine gut organisierte und schlagkräftige Gewerkschaft gegenüber stand. Dieser Prozess muss umgekehrt werden und die jetzige Bewegung bereitet den Boden für einen solchen Neuaufbau. Die Repression ist zwar nach wie vor vorhanden, dennoch gibt es seit den Protesten wieder eine lange nicht mehr dagewesene Einheit der politischen Gewerkschaften und dadurch die Chance, einen neuen Zweig kämpferischer Belegschaften aufzubauen.
Die Gefahr bei der Dezentralisierung der Proteste besteht darin, dass die Kämpfe sich vereinzeln und wesentlich schwerer zu einem kollektiven Erlebnis zusammen zu bringen sind. Die entscheidende Frage ist, ob es gelingen wird, niedrigschwellige Protestangebote für den Mann und die Frau auf der Straße im Viertel und in den Betrieben zu organisieren und diese zu einem großen Ganzen zusammen zu führen. Dabei ist zu bedenken, dass Erdoğans Anhänger die Bewegung natürlich nicht einfach gewähren lassen werden. Neben den bereits genannten Repressionsinstrumenten verfügen sie auch über eine gigantische Propagandamaschinerie, die nicht zu unterschätzen ist.
Solidarität aufbauen
Um das politische Heft in der Hand zu behalten, muss die Bewegung also auf die eigene Stärke vertrauen. Ob sie schließlich für den Schritt der Dezentralisierung bereit ist, können nur die Aktivisten vor Ort einschätzen und beweisen, doch eines scheint völlig klar: militärisch werden sie diesen Kampf nicht gewinnen. Der Machtapparat Erdoğans und der AKP ist hierfür viel zu weit ausgebaut, der gewerkschaftliche Organisationsgrad noch viel zu gering.
Eine strategisch wichtige Aufgabe der Bewegung wird daher sein, den politischen Preis für Erdoğans autoritäre Herrschaft derartig in die Höhe zu treiben, dass er schließlich nicht drum herum kommt, existenzielle Zugeständnisse an die Bewegung zu machen. Ihre Breite und Solidarität ist dabei die stärkste Waffe, die um jeden Preis verteidigt werden muss.
Für uns als Aktivisten außerhalb der Türkei bleibt nur die Aufgabe, Öffentlichkeit zu schaffen, Solidaritätskomitees zu unterstützen oder dort, wo es sie noch nicht gibt, anzustoßen. Wir müssen auf die Verantwortung der deutschen Regierung hinweisen, die weiterhin die Polizeischergen Erdoğans ausrüstet und keinerlei Anstalten macht, diplomatischen Druck auszuüben. Dieser bescheidene Beitrag ist die beste Solidarität, die wir von hier aus leisten können.
Zu den Personen:
Azad Tarhan und Simon Eberhardt begleiteten eine internationale Delegation der DIDF, die zur Unterstützung der Protestbewegung nach Istanbul reiste. Neben Treffen mit unabhängigen Abgeordneten, Gewerkschaftern, Streikenden und Pressevertretern besuchte die Delegation auch das Protestcamp im Gezi-Park am Taksim-Platz und beteiligte sich an dutzenden Protestaktionen der kapitalismuskritischen Demokratiebewegung.
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