Vor 50 Jahren wurde die Berliner Mauer gebaut. Es war der Versuch der SED, ihre Parteiherrschaft zu retten. Den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs kam das durchaus gelegen. Von Olaf Klenke
Sonntag, der 13. August 1961. Um Punkt null Uhr klingelt im Hauptquartier der Nationalen Volksarmee der DDR das Telefon. Am Apparat ist Erich Honecker, der damalige Sicherheitschef der Staatspartei SED, später deren Vorsitzender. Er befiehlt dem Armeegeneral und Verteidigungsminister Heinz Hoffmann: »Die Aufgabe kennst du! Marschiert!« Unverzüglich setzen sich tausende Soldaten in Bewegung. Ihre Aufgabe: jegliche Übergänge aus Ostberlin und der DDR in die westlich kontrollierte Stadthälfte Berlins abzuriegeln, um so die Schlupflöcher für den Flüchtlingsstrom zu schließen.
Es werden 193 grenzüberquerende Straßen abgeriegelt, fast alle offiziellen Grenzübergangsstellen verbarrikadiert. Unterbrochen werden alle U- und S-Bahn-Linien zwischen Ost und West. Die Polizei kontrolliert sogar die Einstiegsschächte der Kanalisation. Um sechs Uhr morgens ist die Grenze zwischen Ost- und Westberlin abgeriegelt. Der eigentliche Bau der Berliner Mauer, des Symbols der deutschen Teilung, beginnt erst fünf Tage später.
Die Mauer drückte eine Menge über das Herrschaftssystem in der DDR aus. Eine kleine Zahl von Partei- und Staatsfunktionären entschied über die Köpfe hinweg und gegen die Mehrheit der Bevölkerung. Die Staatsspitze sah diese stets als Objekt, das sich ihren Plänen und Zielen unterzuordnen hatte. Mit Sozialismus oder Arbeitermacht hatte das nichts zu tun. Wie der Leipziger Elektriker Kaubitzsch 1989, im Jahr des Mauerfalls, bei einer öffentlichen Veranstaltung erklärte: »Was haben wir in den letzten 40 Jahren überhaupt für eine Gesellschaft gehabt? Ich als Arbeiter bezeichne sie als eine Diktatur unter Missbrauch der Arbeiterklasse.« Doch wie konnte es dazu kommen?
Nach dem Kriegsende im Jahr 1945 gab es sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland einen gesellschaftlichen Aufbruch. Es bildeten sich antifaschistische Komitees, die das öffentliche Leben reorganisierten. Zudem entstand eine Betriebsrätebewegung, die mit der unheiligen Allianz zwischen Kapital und Hitlerfaschismus aufräumen wollte und den Akkordlohn infrage stellte. Viele Menschen hofften auf eine neue Gesellschaft jenseits des Profits. In Sachsen fand 1946 ein Volksentscheid statt, in dem mehr als drei Viertel für die Enteignung von »Nazi- und Kriegsverbrechern« stimmten.
Die Entwicklung in Ost- und Westdeutschland verlief dann unterschiedlich. Im westlichen Teil Deutschlands, unter der Besatzung der USA, Großbritanniens und Frankreichs, wurde die privatkapitalistische Ordnung nicht angetastet. Alte Nazis blieben im Staatsdienst und Industrielle, die unter Hitler große Profite gemacht hatten, nahmen wieder ihre Geschäfte auf.
Anders im Osten: Hier wurden Nazis aus leitenden Positionen in Verwaltung und Wirtschaft entfernt, große Teile der Wirtschaft verstaatlicht. Linke Intellektuelle wie Bertolt Brecht, Ernst Bloch und tausende Sozialisten kehrten nach der Emigration bewusst in diesen Teil des Landes zurück, weil sie dort auf ein besseres, sozialistisches Deutschland hofften.
Tatsächlich trat die alte herrschende Klasse ab. Sie wurde jedoch ersetzt durch eine neue Staatspartei, die ebenso wenig an einer selbstständigen Demokratiebewegung von unten interessiert war wie die alte Machtelite. Das zeigte sich im Umgang mit den antifaschistischen Komitees. Sie wurden in Ost und West aufgelöst.
Die in der DDR errichtete Parteiherrschaft gab sich einen roten Anstrich. Sie entsprach ganz dem stalinistischen System, das in der Sowjetunion nach der Isolation der russischen Revolution von 1917 entstanden war. Eine kleine Riege von Staats- und Parteifunktionären kontrollierte die Wirtschaft und zwang der Gesellschaft ihre Ziele auf. Hier gab es keinen Platz für Selbstaktivität der Massen und die Kontrolle der Gesellschaft von unten. Die Spitzenfunktionäre setzten die verstaatlichte Wirtschaft als eine Art Staatskapital ein, weshalb sich ihr System ebenso wie die ähnlich aufgebauten Gesellschaften Osteuropas als Staatskapitalismus beschreiben lässt. Für einige wenige, auch aus der Arbeiterklasse, bot das neue System Aufstiegsmöglichkeiten. Dennoch blieb es eine Klassengesellschaft, in der wie bisher ein Oben und ein Unten existierten.
Um die Parteiherrschaft in der DDR zu etablieren, wurden nicht nur bürgerliche Kräfte unterdrückt, sondern auch die von der Partei unabhängige Arbeiterbewegung und Kräfte, die für einen Sozialismus von unten stritten. Mitte 1948 zählte die SED zwei Millionen Mitglieder. Unter ihnen befanden sich viele ehemalige Sozialdemokraten und Altkommunisten, die mit dem eingeschlagenen Kurs nicht einverstanden waren. Im Herbst desselben Jahres begann die Führung mit Parteisäuberungen gegen diese »unzuverlässigen« Elemente. Nicht wenige entzogen sich der Repression durch Flucht in den Westen.
Für ihr System missbrauchte die Parteiführung die Idee des Sozialismus und diskreditierte diese durch den Mauerbau. Aber wie der DDR-Flüchtling und spätere Aktivist der westdeutschen Studentenbewegung Rudi Dutschke damals sagte: »In der DDR ist alles real, bloß nicht der Sozialismus.«
Zeit ihres Bestehens kämpfte die DDR mit einer Fluchtbewegung in den westlichen Teil Deutschlands. Im Jahr 1949, dem Gründungsjahr des ostdeutschen Staates, wurden 129.245 Übersiedlungen registriert. Eine Zahl, die in den darauffolgenden Jahren noch ansteigen sollte und 1953 mit 331.391 Fluchten oder Übersiedlungen ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte. Jedes Jahr verlor die DDR die Bevölkerung einer mittelgroßen Stadt.
Das Schwanken der jährlichen Flüchtlingszahlen entsprach einem Gradmesser für die politische und soziale Krise des Systems. Die Flüchtlinge kamen aus allen Schichten. Es waren vor allem junge, qualifizierte Fachkräfte, die Hälfte davon jünger als 25 Jahre. Bis zum Mauerbau verlor die DDR 13 Prozent ihrer erwerbstätigen Bevölkerung.
Neben der politischen Unterdrückung war die soziale Frage die Triebfeder der Fluchtbewegung. In der BRD wurden die Lebensmittelmarken 1950 abgeschafft, in der DDR erst acht Jahre später. Die Engpässe in der allgemeinen Versorgungslage, später auch bei höherwertigen Konsumgütern, bestanden bis zum Ende der DDR fort. Selbst in den 1970er und 1980er Jahren, als es in der Bundesrepublik erstmals zu Massenarbeitslosigkeit kam, war der westdeutsche Staat in den Augen vieler DDR-Bürger attraktiver. Folgerichtig bestand immer ein Auswanderungsdruck von Ost nach West.
Den Hintergrund dafür stellten die ungleich schlechteren Ausgangs- und Rahmenbedingungen der DDR-Wirtschaft dar. Während der ostdeutsche Staat den Großteil der Reparationszahlungen Deutschlands aufbrachte und zugleich von der rückständigen Sowjetunion abhängig war, profitierte die BRD von den Wirtschaftshilfen des US-amerikanischen Marshallplans und der Einbindung in den westlichen Weltmarkt. Ganz anders die DDR: Sie war wie der gesamte Ostblock dem seit 1950 bestehenden Technologieembargo des Westens ausgesetzt. Auf diesem Gebiet zog der Westen als Erster eine Mauer hoch. Und als Anfang der 1950er Jahre die Reparationszahlungen zurückgingen, profitierte die DDR-Wirtschaft kaum davon, weil sie in die Rüstungsbestrebungen der Sowjetunion eingebunden wurde.
Die SED versuchte diesen wirtschaftlichen Nachteil auf die Bevölkerung abzuwälzen. Noch in den frühen 1950er Jahren wurden Fleisch und Zucker rationiert und hohe Preise für diese Produkte verlangt. Im Jahr 1952 kündigte die Staatspartei an, verstärkt die Schwerindustrie auszubauen, und sperrte – mit Ausnahme Berlins – die Grenzübergänge nach Westdeutschland. Nachdem die Parteiführung im Frühjahr 1953 die Arbeitsnormen erhöht hatte, kam es im Juni zu einer spontanen Streikbewegung und Volkserhebung. Der Aufstand ging von den alten Zentren der Arbeiterbewegung aus und wuchs schnell zu einer Bewegung heran, die die Herrschaft der SED infrage stellte. Die Aufstandsbewegung wurde niedergeschlagen, aber der Unmut blieb und drückte sich in einer großen und anhaltenden Fluchtbewegung in den Westen aus. In den Jahren von 1953 bis 1961 verließen etwa zwei Millionen Menschen die DDR.
Diese Entwicklung gefährdete die Existenz des ostdeutschen Staats. Als sich die wirtschaftliche Lage 1960/61 zuspitzte, nahm die Flüchtlingsbewegung wieder deutlich zu. Der Parteivorsitzende Walter Ulbricht erhöhte den Druck auf den sowjetischen Staatschef Nikita Chruschtschow. Er warnte den sowjetischen Botschafter, wenn nichts geschehe, sei der Zusammenbruch der DDR »unvermeidlich«. Anfang Juni gab die Sowjetunion schließlich der DDR-Führung freie Hand, die Sektorengrenze nach Westberlin abzuriegeln.
Sowenig die SED die Mauer ohne Zustimmung der sowjetischen Besatzungsmacht bauen konnte, so wenig hätte diese ohne die Akzeptanz der westlichen Besatzungsmächte über Jahrzehnte stehen blieben können. Der Sowjetunion passte der Druck, den die SED-Führung ausübte, zunächst gar nicht. Sie hatte sich noch nicht endgültig von dem Gedanken verabschiedet, mittelfristig vielleicht doch noch das gesamte Berlin in die sowjetische Besatzungszone einzugliedern.
Im November 1958 stellte Chruschtschow ein Berlin-Ultimatum. Danach sollten alle Besatzungstruppen aus der Stadt abgezogen werden. Als aber der US-amerikanische Präsident John F. Kennedy Anfang Juni 1961 bei einem Geheimtreffen in Wien unmissverständlich deutlich machte, Westberlin zu halten, gab die sowjetische Führung der SED freie Hand.
Eigentlicher Gesprächsgegenstand des zweitägigen Treffens zwischen Kennedy und Chruschtschow waren die Interessen der beiden Supermächte in der »Dritten Welt«, wo die Systemauseinandersetzungen in den folgenden Jahrzehnten ausgetragen wurden. Als gegen Ende über Berlin gesprochen wurde, kam auch eine mögliche Abriegelung des Ostteils zur Sprache. Der US-Präsident signalisierte, das sei eine Sache der Sowjetunion – solange die Aktivitäten nur die DDR-Bürger beträfen und der Zugang und die Präsenz der amerikanischen Besatzungstruppen im Westteil der Stadt nicht eingeschränkt würden.
So war die Reaktion des Westens auf den Mauerbau nicht verwunderlich. »Keine sehr schöne Lösung, aber tausendmal besser als Krieg«, erklärte Kennedy. Frankreich, das an einem schwachen, geteilten Deutschland interessiert war, und Großbritannien sahen ebenfalls keinen Grund, an dem bestehenden Status quo zu rütteln, der im wahrsten Sinne des Wortes mit der Mauer zementiert wurde. Die Hilferufe des damaligen Westberliner Bürgermeisters Willy Brandt verhallten.
Rückblickend wird der Mauerbau als zweite Staatsgründung der DDR bezeichnet. Mit der vollständigen Grenzschließung übergab die sowjetische Besatzungsmacht der DDR die Hoheitsgewalt über ihre Grenzen. Vor allem der Mauerbau war für die herrschende Staatspartei ein entscheidender Schritt, um die Kräfteverhältnisse in der DDR dauerhaft zu ihren Gunsten zu verändern. Mit der Niederschlagung des Arbeiteraufstands von 1953 waren die letzten kollektiven Zusammenhänge einer unabhängigen Arbeiterbewegung zerschlagen. Nun war auch keine Abstimmung mit den Füßen mehr möglich. Diese beiden Ergebnisse schwächten die Arbeiterklasse in Ostdeutschland nachhaltig.
Deutlich ablesen lässt sich das an den kleineren kollektiven Aktionen auf betrieblicher Ebene, die nach dem Mauerbau stark zurückgingen. Die Zahl der Streiks sank von jährlich über hundert auf einige wenige Dutzend im gesamten letzten Jahrzehnt der DDR. Die fehlenden kollektiven Erfahrungen der Arbeiter und Angestellten wirkten sich auch im Revolutionsjahr 1989 aus. Die Arbeiterklasse ging zwar auf die Straße, trat aber kaum als kollektiver Akteur in Erscheinung.
Die SED gewann mit dem Mauerbau wiederum an Selbstbewusstsein. Im Folgejahr setzte sie erstmals eine reale Lohnkürzung durch, in der 1968 verabschiedeten neuen Verfassung wurde dann das Streikrecht nicht einmal mehr erwähnt.
Aber sowenig wie die SED die Bevölkerung vollständig kontrollieren konnte war die Mauer von Dauer. Eine tiefe politische und soziale Krise führte Ende der 1980er Jahre in fast allen Ländern des Ostblocks zu einer revolutionären Bewegung. Eine neue Fluchtbewegung von DDR-Bürgern über die offene ungarische Grenze, Massendemonstrationen und der Ansturm von Tausenden führte schließlich im November 1989 zum Fall der Mauer. Das beschleunigte noch einmal die revolutionäre Entwicklung in der DDR. Die SED dankte ab.
Dass die CDU davon profitierte und die Wiedervereinigung nach den Interessen des westdeutschen Kapitals durchgeführt wurde, hängt auch mit dem Versagen der damaligen Linken zusammen. Sie bezog sich positiv auf die DDR und stand der Maueröffnung skeptisch gegenüber. Sie verstand nicht, dass diese von einer Bewegung von unten erkämpft wurde. So wie der Mauerbau ein antiemanzipatorischer Akt war, so war der Mauerfall ein Akt der Selbstbefreiung. Die Linke sollte es mit Genugtuung erfüllen, dass die Massen sich ihre Freiheiten selbst zurückerkämpften.
{tab=Kommentar: Neue Mauern, neue Festungen}Anfang April dieses Jahres kenterte im Mittelmeer ein Boot mit Flüchtlingen aus Afrika bei dem Versuch, unbemerkt die streng bewachte Wassergrenze zur Europäischen Union zu passieren. Binnen weniger Stunden starben 250 Menschen, fast doppelt so viele wie an der Berliner Mauer in den 28 Jahren ihres Bestehens. Wenn die etablierte Politik des 50. Jahrestags des Mauerbaus gedenkt, wird von den neuen Mauern der »Festung Europa« und ihren dramatischen Folgen wenig die Rede sein. Gleiches gilt für die unsichtbare, aber reale Mauer für Millionen Menschen in Deutschland, deren Reisefreiheit durch ein leeres Portemonnaie beschränkt wird. DIE LINKE sollte diese Heuchelei anprangern.
Die richtigen Lehren aus der Geschichte zu ziehen, heißt, gegen alte und neue Mauern zu sein. Richtigerweise kritisierte Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) bei einem Besuch im Nahen Osten Anfang Juni die von Israel um die palästinensischen Gebiete errichtete Mauer. Gegenüber den Palästinensern erklärte er: »Im Mauer-Umstürzen haben wir Deutschen jede Menge Erfahrung.«{/tabs}
Buchtipp:
Klaus Kordon: »Die Flaschenpost« (Beltz Taschenbuch 1988): Matze, ein Junge aus Ostberlin, wirft Mitte der 1980er eine Flaschenpost in die Spree. Statt des erhofften Brieffreunds aus Afrika oder Amerika antwortet ihm Lika, ein Mädchen aus dem Westteil der Stadt. Den Kindern ist der jeweils andere Teil der Stadt so unbekannt wie ein fernes Land. Auf unnachahmliche Weise schildert Klaus Kordon (»Die Roten Matrosen«) die Absurdität der gespaltenen Stadt, die Verlogenheit von Politik und Moral in Ost wie West. Kordon, im Jahr 1972 bei einem Fluchtversuch aus der DDR verhaftet und anschließend von der Bundesrepublik freigekauft, veröffentlichte dieses Jugendbuch 1988. Sehr zu empfehlen, auch für Erwachsene!
Zum Autor:
Olaf Klenke ist Autor von »Kampfauftrag Mikrochip. Rationalisierung und sozialer Konflikt in der DDR« (VSA-Verlag 2008).