Mit der Serie »Was will marx21« möchten wir die politischen Grundlagen des marx21-Netzwerkes vorstellen. Diesmal fragen wir: Wie sieht eine revolutionäre Strategie im 21. Jahrhundert aus?
In den vergangenen Jahren hat es interessante Entwicklungen in drei gesellschaftlichen Feldern gegeben. Zusammengenommen bieten sie ein großes Potenzial für die revolutionäre Linke. Die drei Felder sind die Arbeiterklasse, die Jugendbewegungen und die Parteienlandschaft.
In der Arbeiterklasse sind aufgrund der wirtschaftlichen Krisentendenzen die Verteilungsspielräume enger geworden, zugleich konnten zumindest Beschäftige von Teilbereichen – etwa die Kita-Angestellten oder die Stewardessen – neue interessante Kampferfahrungen sammeln. In der Jugend haben sich in den letzten Jahren aktivistische Milieus herausgebildet und die Parteienlandschaft hat sich nicht zuletzt durch die Gründung der LINKEN entschieden verändert.
Schematisch vereinfacht bilden diese drei Pole die Ecken eines strategischen Dreiecks, das entscheidend für den Aufbau einer schlagkräftigen Linken in Deutschland ist. Jeder Pol ist dabei auf eine Verknüpfung mit den beiden anderen angewiesen. Im Folgenden wollen wir einen Ansatz vorschlagen, wie sich diese Pole gegenseitig befruchten können.
Arbeiterklasse von heute
Wo sehen wir die Potenziale in den einzelnen Feldern und wie sind sie in Beziehung zu setzen? Beginnen wir mit der Arbeiterklasse: Häufig wird bestritten, dass sie heute noch eine solch wichtige Rolle spielen könne wie zu Zeiten von Lenin oder Luxemburg. Zuerst einmal ist festzuhalten, dass die sie in Deutschland mit 39 Millionen abhängig Beschäftigten größer ist als je zuvor. Objektiv ist die Arbeiterklasse also nach wie vor das entscheidende Subjekt für gesellschaftliche Veränderung »durch die Mehrheit im Interesse der Mehrheit« (Marx).
Allerdings wird sie durch vielerlei Faktoren im Kapitalismus zermürbt – durch (schrumpfende) materielle Absicherungen, durch ihre eigene Atomisierung, durch Ohnmachtserfahrungen und die alltägliche Konkurrenz auf dem Markt (um Jobs, Wohnungen oder Arbeitsplätze). Zudem wird sie in das System durch Ideologien wie Nationalismus und Neoliberalismus eingebunden, die von den Medien und den etablierten Parteien verbreitet werden.
Gewerkschaften und Sozialpartnerschaft
Ein entscheidender Hemmschuh für die Entwicklung von Klassenkämpfen ist die sozialpartnerschaftliche Tradition der deutschen Gewerkschaften, vor allem in der Exportindustrie. Viele Belegschaftsvertreter verstehen sich da als Co-Manager und teilen das Ziel der Geschäftsführung, die Konkurrenzfähigkeit des Betriebs im kapitalistischen Wettbewerb zu erhalten. Das untergräbt das Klassenbewusstsein der Arbeiter, indem es sie an die Profitinteressen der eigenen Unternehmen bindet.
Diese Ideologie wird auch von der Sozialdemokratie vertreten, die seit Bestehen der Bundesrepublik die dominierende politische Kraft in den Gewerkschaften ist. Sie vertritt die Idee, die Interessen von Kapital und Arbeit seien vereinbar. Sie kombiniert diese Haltung mit einer Politik des Stellvertretertums, wonach die Interessen der Beschäftigten am besten durch kluge Politiker, Experten und Personalräte vertreten werden – anstatt durch Kämpfe am Arbeitsplatz und auf der Straße. So weit so schlecht.
Erfolgreiche Mobilisierungen
Seit Jahren vollzieht sich aber ein langsamer Prozess der Erosion sozialpartnerschaftlicher Ideen. Die Stagnationskrise der deutschen Wirtschaft hatte im letzten Jahrzehnt Angriffe mit permanenten Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen zur Folge. Während sich die Profite der Unternehmen dadurch erhöhten, fiel die Lohnentwicklung für die Arbeiter negativ aus.
Gleichzeitig hat es jedoch auch eine Reihe von erfolgreichen Mobilisierungen und neuen Kämpfen in Bereichen jenseits der Exportbatallione gegeben: Lokführer, Stewardessen, Beschäftigte im Einzelhandel und in den Kitas haben die Erfahrung gemacht, dass sie durch ihre eigene Aktivität in Kämpfen etwas erreichen können.
Die Verschärfung der Angriffe auf die Arbeiterklasse durch die Agenda 2010 der Schröder-Regierung führte zu einem politischen Bruch in den Gewerkschaften. Dieser mündete letztlich im Jahr 2007 in der Gründung der Linkspartei. Bei der Bundestagswahl 2009 wählten 18 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder DIE LINKE.
Neuer Akteur Linkspartei
Das führt uns zum zweiten Pol des Dreiecks, zur Linkspartei. Mit ihr ist erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik ein relevanter sozialistischer Akteur entstanden, der das Potential hat, die Vorherrschaft der SPD und der sozialpartnerschaftlichen Ideen in der Arbeiterbewegung herauszufordern. Die Partei vereint etliche Betriebsräte in ihren Reihen und verfügt über ein Programm, das sich deutlich gegen die herrschenden Verhältnisse positioniert.
Es ist allerdings keine Selbstverständlichkeit, dass DIE LINKE ihr Potenzial als Motor von Klassenkämpfen wirklich ausspielt. Denn auch sie ist vielfältigen Integrationsmechanismen in den Kapitalismus unterworfen. Das parlamentarische System befördert den Ansatz der Stellvertreterpolitik, wo Abgeordnete und Experten das politische Geschäft betreiben – zudem noch fragmentiert und spezialisiert in Arbeitsbereichen und Ausschüssen. Die Partei erscheint als parlamentarischer Repräsentant anstatt als Akteur gesellschaftlicher Mobilisierungen. Auch innerhalb der Anhängerschaft der LINKEN ist die Vorstellung weit verbreitet, dass sich gesellschaftliche Veränderungen wesentlich über die Parlamente vollziehen. Die viel größere potenzielle Macht von kollektiven Kämpfen erscheint vielen als zu wenig greifbar.
Die Zeit zwischen Wahlen
Dem hat DIE LINKE bisher zu wenig entgegengesetzt. Für die Bundestagswahl 2005 gegründet, als Wahlpartei, hat sie bis heute keine wirkliche Antwort auf die Frage gefunden, wie ihre Praxis in der Zeit zwischen zwei Wahlen aussehen kann. Es ist ein Problem, wenn die Partei nur in den Wahlkämpfen so richtig zum Leben erwacht – und nicht denselben Aktivitätsgrad in Kämpfen gegen Mieterhöhungen, Privatisierungen oder Entlassungen an den Tag legt.
Wahlerfolge und parlamentarische Repräsentanz können eine Ressource für den Widerstand sein. Doch muss dafür ausreichend Substanz an der Parteibasis vorhanden sein, um eine kampagnenorientierte Parlamentspolitik machen zu können. Wenn das nicht der Fall ist, können parlamentarische Erfolge auch hemmen.
Grenzen der Kommunalpolitik
Ein Beispiel: Beim Kommunalwahlkampf in Nordrhein-Westfalen trat DIE LINKE flächendeckend, also in jeder Stadt und in jedem Landkreis, an – mit Erfolg: Sie konnte fast 400 kommunale Mandate erringen. Aber das war ein Pyrrhus-Sieg: Die Partei hat in Nordrhein-Westfalen nur 8000 Mitglieder. Viele Aktivisten, die vorher die Ortsgruppen zusammengehalten haben, rückten nun in die Ratsfraktionen ein.
Die Kommunalparlamente sind jedoch keine eigenständige legislative Gewalt, sondern Teil der Verwaltung. Das Terrain dort ist für DIE LINKE denkbar ungünstig: Durch die Sparvorgaben ist der Spielraum für linke Politik äußerst begrenzt. Während sich potenzielle Aktivisten in Ratspositionen verkämpften, zerfielen die lokalen Strukturen.
Anders als die anderen
Um ihrer Rolle als sozialistische Kraft gerecht zu werden, muss DIE LINKE ganz anders sein als die etablierten Parteien. Das bedeutet einen Bruch mit der Fixierung auf Parlamente als wesentliches Aktionsfeld und Hebel für gesellschaftliche Veränderung. Selbstverständlich engagieren sich schon jetzt viele Mitglieder und Parteigliederungen in außerparlamentarischen Initiativen. Was fehlt, ist die Ausrichtung der Gesamtpartei darauf.
Die Arbeit der LINKEN muss vom Kopf auf die Füße gestellt und von Basis, Bewegung und Widerstand her gedacht werden – in der Kommune, im Land und auf Bundesebene. Das würde bedeuten, dass sich die Partei auf einzelne Kampagnenschwerpunkte konzentriert und diese dann auch als Gesamtpartei mit all ihren Ressourcen umsetzt, anstatt einer »Blumenstrauß«-Politik anzuhängen, bei der durch eine Zersplitterung der Parteiarbeit auf zu viele Themenfelder gleichzeitig kaum noch Impulse zur Selbstermächtigung der Unterdrückten gegeben werden können.
Eingreifen in Kämpfe
Ebenso muss die Trennung von politischem und ökonomischem Kampf überwunden werden. DIE LINKE muss sich trauen, in gewerkschaftliche Richtungskämpfe einzugreifen und dort klar Stellung zu beziehen. So kann sie attraktiver für Aktive aus den Gewerkschaften werden.
Es ist gut, wenn DIE LINKE politische Forderungen der Gewerkschaften in den öffentlichen Raum trägt. Es ist aber nicht sinnvoll, »die Gewerkschaften« als einheitlichen Block anzusehen.
Die Partei darf über Fehlentwicklungen nicht schweigen. Gerade in Bezug auf das Handeln in der Eurokrise wird deutlich, dass es erhebliche Differenzen zwischen der politischen Ausrichtung der LINKEN und dem Mainstream der gewerkschaftlichen Führung gibt. Wenn diese Differenzen nicht erklärt und debattiert werden, ist DIE LINKE auch nicht für diejenigen gewerkschaftlichen Aktivisten attraktiv, die sich stärkere und kämpferische Gewerkschaften wünschen. Wenn sie es sich hingegen zur Aufgabe macht, die kämpferischen Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben und Gewerkschaften zu sammeln, sie zu vernetzen und Kräfte zu bündeln, kann wieder eine Bewegung entstehen, die den Klassenkampf an die Stelle von Sozialpartnerschaft und Standortpolitik setzt.
Die Jugend gewinnen
Für die Weiterentwicklung der LINKEN zum Motor und Sprachrohr von Klassenkämpfen und Bewegungen ist es unerlässlich, dass sie die Jugend gewinnt. Insbesondere sollte sie eine Anbindung an die antikapitalistischen Milieus herstellen, die in den letzten Jahren den Kern verschiedener Bewegungen bildeten – etwa im Jahr 2007 gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm, gegen Castortransporte, bei den Bildungsstreiks, gegen Naziaufmärsche oder bei Occupy. Das hat objektive Ursachen: Die junge Generation kennt den sozialstaatlich regulierten Kapitalismus nur noch aus den Erzählungen ihrer Eltern – ihre Realität ist ein Krisenkapitalismus mit erheblichen Legitimationsproblemen, sie leben häufig in prekären Verhältnissen und mit Zukunftsängsten.
Dieses Milieu von einigen zehntausend Bewegungsaktivisten kann eine entscheidende Rolle für die Zukunft revolutionärer Politik in Deutschland spielen, denn es ist radikal, antikapitalistisch und internationalistisch – inspiriert vom Arabischen Frühling und den Jugendprotesten in Europa. Wichtige Innovationen und Erfolge der Bewegungen wie die Massenblockaden von Heiligendamm und Dresden sind maßgeblich von diesem Milieu getragen worden. Diese Erfolge haben dort die Zuversicht reifen lassen, dass durch selbstbewusste Aktionen Veränderungen erkämpft werden können. DIE LINKE braucht diesen frischen Wind und die Dynamik der Bewegungsmilieus, um als kämpferischer Akteur in der Arbeiterbewegung impulsfähig zu sein.
Organisation statt Rückzug
Und umgekehrt: Junge Menschen, die etwas verändern wollen, brauchen eine Organisation, wenn sie für ihre Ziele die Mehrheit der deutschen Bevölkerung erreichen wollen. Diese Rolle kann DIE LINKE spielen. Denn sie hat das Potenzial, Millionen von Menschen für antikapitalistische Politik zu gewinnen. Ohne eine solche Perspektive besteht die Gefahr, dass die antikapitalistischen Milieus sich in stellvertretender Militanz aufreiben. Dann wird zum Beispiel der zivile Ungehorsam mit seiner medialen Wirksamkeit zu einer scheinbaren Alternative zum beschwerlichen Kampf um die Hegemonie in der Arbeiterbewegung.
Schnell kann es dann passieren, dass sich die Aktivisten aus Frustration und Perspektivlosigkeit selbstgenügsam in eigene selbstverwaltete Räume zurückziehen. Dieses Milieu für die dauerhafte politische Organisierung in der LINKEN und für das Projekt der Selbstemanzipation der Arbeiterklasse zu gewinnen, wird zur Existenzfrage für eine erfolgreiche Erneuerung von Arbeiterbewegung und Linkspartei.
Strategie mit drei Elementen
Die Philosophie des strategischen Dreiecks lässt sich von allen drei Polen aus argumentieren:
Aus der Perspektive der Arbeiterbewegung: DIE LINKE kann aktiven Gewerkschaftern einen Rahmen bieten, um einen Pol links von der Sozialdemokratie in den Gewerkschaften aufzubauen. Gleichzeitig ist die Anbindung an die aktivistischen Milieus gewinnbringend für die Arbeit unter den Kolleginnen und Kollegen, weil diese Milieus einen praktischen Fokus für Bewegung, radikale Kritik und aktivistische Innovation in die gewerkschaftliche Debatte einbringen können.
Aus der Perspektive der LINKEN: Wirkliche Veränderung kann nur durch die Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse durchgesetzt werden. Dafür muss die Partei zum kämpferischen Akteur in den Gewerkschaften werden und dafür braucht sie die Radikalität und den Aktivismus der Bewegungsmilieus.
Aus der Perspektive der antikapitalistischen Milieus: DIE LINKE kann das strategische Instrument sein, um die Massen für sozialistische Politik zu erreichen und um die Vorherrschaft sozialpartnerschaftlicher Ideen in den Gewerkschaften herauszufordern. Mit einigen tausend Radikalen alleine lässt sich keine Gesellschaft verändern und schon gar kein Kapitalismus stürzen.
marx21 als Brückenbauer
Strategisch geht es darum, die drei Elemente jeweils miteinander in Verbindung zu setzen. marx21 hat sich die unbescheidene Aufgabe gestellt, diese Brücken zu bauen und dafür in der LINKEN wirksam zu werden. Um die Kräfte konzentrieren und gemeinsam praktische Impulse setzen zu können, trifft das Netzwerk strategische Verabredungen.
Wie sieht das konkret aus? marx21 setzt sich dafür ein, dass DIE LINKE zu Bewegungsevents wie Blockupy oder »Dresden nazifrei« mobilisiert und dass in der Mobilisierung gleichzeitig die Debatten über Perspektiven der radikalen Linken offen mit den antikapitalistischen Milieus geführt werden. marx21 macht sich dafür stark, dass DIE LINKE aktiv Verbindungen zu betrieblichen Kämpfen aufnimmt und zu einem politischen Akteur in den Gewerkschaften wird. Dabei gilt es auch Räume zu schaffen, in denen die kämpferischen Teile zusammenkommen können, um ihre Erfahrungen zu verallgemeinern
In der Partei macht sich das Netzwerk für eine kampagnenorientierte Arbeitsweise stark, damit DIE LINKE dort handlungsfähig wird, wo sich gesellschaftliche Konflikte zuspitzen, wo Widersprüche aufbrechen, wo Bewegung entsteht, und damit sie sich nicht im parlamentarischen Alltag verzettelt. Wenn sich die Partei mit ihren Ressourcen mit diesen Kernen des Widerstands verbindet, hat nicht nur sie eine Zukunft – auch die Bewegung von unten wird stärker und es wird möglich, grundsätzliche Veränderungen durchzusetzen.
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