Dass der Kapitalismus nur dem einen Prozent dient, pfeifen die Spatzen von den Dächern. Doch die Kommandowirtschaft des Ostblocks will auch niemand. Die Alternative heißt demokratische Planung
Dass im Kapitalismus etwas grundfalsch läuft, darüber ist man sich in der Linken einig. Wie ein alternatives Wirtschaftsmodell aussehen soll, ist jedoch schon lange Zeit eine heiß diskutierte Frage. Eine Alternative bietet die derzeit wohl bekannteste deutsche Kapitalismuskritikerin Sahra Wagenknecht in ihrem aktuellen Buch »Freiheit statt Sozialismus« an. Dort beschreibt sie einen »kreativen Sozialismus«, in dem neben staatlichen Konzernen und Genossenschaften auch kapitalistische Unternehmen und die Marktwirtschaft noch eine wichtige Rolle spielen sollen.
Dieses Modell unterscheidet sich recht deutlich von den klassischen marxistischen Vorstellungen, die Kapitalismuskritik auch immer als Marktkritik auffassen. Nicht die Konkurrenz auf dem Markt dürfe die Produktion leiten, sondern die Bedürfnisse der Menschen, nach denen die Wirtschaft geplant werden müsse.
Belastet durch den Ostblock
Zweifelsohne ist das Konzept der Planwirtschaft durch die Erfahrungen der ehemaligen Ostblockstaaten mit einer schweren Hypothek belastet. Dort erstellten die herrschenden Bürokratien umfassende Wirtschaftspläne und unterwarfen die Bevölkerung diesen Vorgaben. Statt mehr Demokratie und Wohlstand erlebten die Menschen Unterdrückung und Mangel.
Diese Erfahrungen prägen die Debatte um Alternativen zum Kapitalismus. So ist auch einer der Ausgangspunkte von Sahra Wagenknecht: »Planwirtschaft funktioniert doch nicht.« Ihrer Meinung nach habe es zu viel Staatswirtschaft und zu viel zentrale Planung gegeben. Im Umkehrschluss müsse ein »moderner« Sozialismus Elemente des Marktes übernehme, um Ineffizienz und Misswirtschaft einzudämmen. Ihr zweiter Hauptvorwurf gegen die Planwirtschaft besteht darin, dass sie ökonomisch nicht durchführbar sei. »Eine hoch entwickelte Wirtschaft kann man nicht im Detail planen. Da hat der Markt eine wichtige Funktion«, so Wagenknecht.
Doch muss man aufgrund der Erfahrungen mit den Kommandowirtschaften des Ostblockes die Idee einer geplanten Wirtschaft per se ablehnen?
Auch Kapitalisten planen
Planung ist schon heute ein zentrales Kennzeichen der entwickelten Marktwirtschaften. Die großen Autokonzerne beispielsweise unternehmen Investitionsentscheidungen und erstellen detaillierte Pläne für Multi-Milliarden-Projekte Jahre im Voraus. Sie betreiben im Vorfeld der Produktion umfassende Marktforschung, um mögliche Absatzchancen zu ermitteln und überlegen sich ausgefeilte Werbestrategien, um die Produkte zu vermarkten. Auch gliedern sie die Herstellung von Komponenten in kleinere Betriebe aus. Die Produktion und Anlieferung der Komponenten muss geplant werden, damit sie den Produktionsanforderungen in der »Mutterfabrik« entspricht.
Diese Form der Wirtschaftsplanung ist jedoch vollkommen auf die Profitmaximierung und die anarchische Konkurrenz zwischen den rivalisierenden Unternehmen ausgerichtet. Eine gesamtgesellschaftliche Planung der Wirtschaft gibt es nicht. Daher versucht jedes Unternehmen einen größtmöglichen Marktanteil zu erlangen, indem es so viele Produkte wie möglich herstellt. Das führt dazu, dass ständig mehr hergestellt wird, als gekauft werden kann.
Diese Produktionsüberschüsse schlagen sich auf die Profite der Unternehmen nieder und zwingen sie, den Druck an ihre Angestellten weiterzugeben: Die Arbeitszeiten werden verlängert, die Löhne gesenkt, Arbeitsplätze verlagert oder ganz abgebaut. Durch die Überproduktion verfallen die Preise und ein Teil der Unternehmen geht Pleite. Menschen stürzen ins Elend, nicht weil es zu wenig, sondern weil es zu viele Güter gibt. Solche Wirtschaftskrisen sind untrennbar mit der Dynamik der Marktwirtschaft verbunden. Sie kommen und gehen, werden aber tendenziell schlimmer.
Demokratische und kooperative Wirtschaft
Angesichts dessen müsste eine geplante Wirtschaft als ein demokratischer und kooperativer Prozess organisiert sein. Es existieren durchaus ernstzunehmende Modelle für eine partizipative Wirtschaft jenseits von Markt und stalinistischer Kommandowirtschaft. Sozialistische Planung wäre eine (ständig weiterzuentwickelnde) Technik zur Koordinierung wirtschaftlicher Tätigkeiten, die von der Bevölkerung gelenkt würde – und das auf verschiedenen Ebenen: in der Gesamtwirtschaft, in den Industrie- und Konsumsektoren und in den Betrieben und Haushalten. Demokratische Planung bedarf der Initiative, der Kontrolle und der ständigen Revision durch die Menschen, sowohl in ihrer Eigenschaft als Produzenten – um die Effizienz betrieblicher Prozesse zu steigern – als auch als Konsumenten – um die Produktion so eng wie möglich an die Bedürfnisse und Wünsche der Bevölkerung zu koppeln.
Planung darf nicht bedeuten, dass jeder in seinen Möglichkeiten eingeschränkt ist, wie wir es aus den Ländern des »Realsozialismus« kennen. Unter demokratischen Vorzeichen könnte sich ein umgekehrter Effekt einstellen: Die individuelle Wahlfreiheit kann sich erhöhen, wenn endlich alle Ressourcen in umweltschonender Art und Weise zur Bedürfnisproduktion genutzt werden und nicht für unnötige Dinge wie Werbung oder Rüstung. Güter, die in ihrer Nachfrage oft unerwarteten Schwankungen unterliegen (zum Beispiel bestimmte Lebensmittel), müssten besonders aufmerksam reguliert werden: Niemand sollte für einen Joghurt zwei Tage länger warten, nur weil er oder sie nun spontan Lust darauf hat.
Schon heute funktionieren bestimmte Supermärkte mithilfe moderner Technik so, dass jedes verkaufte Produkt sofort registriert und gegebenenfalls nachproduziert werden kann. Regelmäßige Umfragen und die partizipative Demokratie in Rätestrukturen könnten die tatsächlichen Konsumerwartungen viel eher erfassen als die heutige stichprobenartige Marktforschung. Einige Ökonomen meinen, dass eine demokratische Wirtschaft gerade dort rationellen Konsum fördern würde, wo Aspekte der Gesundheit und Nachhaltigkeit eine größere Rolle spielen.
Planung von unten
Eine alternative, auf horizontaler Koordination basierende Wirtschaft müsste aus dezentralen und zentralen Netzwerken von Produzenten und Konsumenten bestehen, die demokratisch darüber entscheiden, wofür und wie sie ihre Ressourcen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse einsetzen möchten. Planung muss nicht notwendigerweise ein System erzeugen, das von oben gesteuert wird. Kritische Wirtschaftswissenschaftler haben verschiedene Modelle solch einer Wirtschaft vorgestellt – Modelle einer »vereinbarten Koordination« oder »partizipatorischen Planung«.
Die technische Leitung der Produktion kann jeweils von der Sache her gedacht werden. Bestimmte bedeutende ökonomische Fragen wie Umweltprobleme oder Ausgaben für das Verkehrswesen müssen überregional, manchmal auch global, also zentral entschieden werden, vielleicht durch gewählte Delegiertenräte, auf Basis unterschiedlicher Vorschläge. Viele andere Entscheidungen müssen das nicht und sollten dementsprechend dezentral getroffen werden – selbst wenn das mehr Zeit bedürfte.
Demokratie erfordert Zeit. Wenn die Wirtschaft nicht mehr nach den Prämissen der kapitalistischen Konkurrenz um Märkte organisiert wird, kann die Arbeitszeit drastisch gesenkt werden. Vermutlich würden maximal fünf Stunden täglich ausreichen, wenn zum einen niemand zur Arbeitslosigkeit verdammt ist und zum anderen viele unnötige Tätigkeiten entfallen.
Enteignen und vergesellschaften
Eine solch umfassende Demokratisierung der Produktion ist natürlich auf der Grundlage von privatkapitalistischem Eigentum nicht durchführbar. Wie allerdings ein Prozess von Enteignung und Vergesellschaftung vollzogen werden soll, ist umstritten. Auch in der Partei DIE LINKE gibt es hierzu keine eindeutige Position. Dem gemeinsamen Kampf gegen Privatisierungen folgt selten eine Diskussion, was anstelle dessen folgen könnte und jenseits der Wiederverstaatlichung oder der Rekommunalisierung liegt.
Unsere Machteliten argumentieren in dieser Frage unmissverständlich: Sie bestehen aggressiv auf das Recht des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Dem gegenüber muss hervorgehoben werden, dass es keine selbstregierte und demokratische Wirtschaft geben kann, solange reiche Individuen und private Konzerne die Möglichkeit besitzen, die Bevölkerung von den wesentlichen Mitteln der Produktion auszuschließen.
Vergesellschaftung bedeutet etwas anderes als bloße Verstaatlichung. Staatsbesitz als Eigentumsform ist mit kapitalistischer Ausbeutung vereinbar – was sich im Stalinismus, in den verstaatlichten Wirtschaftszweigen im Westen oder den Entwicklungsdiktaturen des Südens gezeigt hat und noch heute zeigt. Entscheidend ist erstens die Frage der Kontrolle und der Selbstbestimmung: Kontrollieren die Beschäftigten die wirtschaftlichen Einrichtungen – oder eine Schicht von Bürokraten? Dabei muss die Kontrolle und das Ziel der Selbstverwaltung viel weiter reichen als die »Mitbestimmung« in einigen kapitalistischen Unternehmen. Das führt zum zweiten wesentlichen Kriterium: dem Markt. Solange die Tätigkeit des verstaatlichten Unternehmens dem Ziel der Konkurrenzfähigkeit auf dem kapitalistischen Markt unterworfen bleibt, kann es keine wirkliche Demokratie auf der betrieblichen Ebene geben. Im Gegenteil: Die Konkurrenz unter den Arbeitern würde sogar noch verschärft. Sie müssten jetzt kollektiv darüber mitentscheiden, wie die Konkurrenzfähigkeit des Betriebes erhöht werden kann – sprich: sich selbst Lohnkürzungen und Personaleinsparungen verordnen.
Nach Bedürfnissen statt nach Profiten
Die Produktion der verstaatlichten oder vergesellschafteten Betriebe muss sich nach den Bedürfnissen der Produzenten richten, und nicht nach den Gesetzmäßigkeiten des Marktes von Konkurrenz um Profite.
Zweifellos dürfen nicht alle Entscheidungen der gesellschaftlichen Kontrolle unterliegen. Über unsere Arbeitskraft sollten wir beispielsweise frei verfügen können. Die Freiheit eines Individuums zu entscheiden, was es tun möchte, ist ein im Kapitalismus zwar versprochenes, aber nicht eingehaltenes Recht. Sie muss zum Wesen einer sozialistischen Gesellschaft gehören. Wie es sich mit dem persönlichen Eigentum und den Konsumgütern verhalten wird, müssten die Menschen debattieren und beurteilen. Die schrecklichen Erfahrungen der Zwangskollektivierungen in der Sowjetunion haben gezeigt, dass sozialistische Reformen unbedingt auf dem Prinzip der Freiwilligkeit basieren müssen. Es ist durchaus vorstellbar, dass, je mehr Menschen an den Entscheidungen der Gesellschaft beteiligt sind, sie im Laufe der Zeit Wege finden werden, dies sehr effektiv zu tun.
Auch wenn der Kapitalismus eine ungeheure Dynamik hat, so zerstört er doch gleichzeitig in großem Ausmaß die Energie und Kreativität der Menschen. Es besteht daher die Notwendigkeit für eine Wirtschaft, die die menschlichen Möglichkeiten besser zur Geltung bringen und sie zugleich in ein ausgewogeneres Verhältnis zur Natur setzen könnte. Selbst wenn das sicherlich keine perfekte Welt wäre und neue Konflikte entstünden – möglicherweise aber auch vernünftigere Wege, diese zu lösen -, drängen die aktuellen Verwerfungen geradezu zu einer neuen Diskussion über die Idee einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft.
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