Mike Davis erklärt wie die globalisierte Agrarindustrie die Voraussetzungen für den Ausbruch der Schweinegrippe in Mexiko schuf.
Die vielen Urlauber, die in diesem Frühjahr aus Cancún zurückkehrten, hatten ein unsichtbares, jedoch unheimliches Souvenir im Gepäck. Die Schweinegrippe bedroht plötzlich die ganze Welt. Das Virus, ist eine genetische Chimäre, die möglicherweise im Fäkalschlamm einer industriellen Schweinezucht entstand, Das erste Auftreten des Virus in Nordamerika zeigt eine Infektionsrate, die schon jetzt die der letzten offiziellen Pandemie, der Hongkonggrippe von 1968, übertrifft. Dieses Schweinevirus stellt eine Bedrohung unbekannten Ausmaßes dar und stiehlt damit unserem offiziellen Mörder, dem ansonsten kräftig mutierenden H5N1, bekannt als Vogelgrippevirus, die Schau.
Es stimmt, dass es viel weniger tödlich ist als Sars im Jahr 2003, aber als Grippe könnte es viel langlebiger sein und weniger bereit, in sein Schlupfloch zurückzukehren. Angesichts der Tatsache, dass domestizierte saisonale Typ-A-Grippewellen jedes Jahr bis zu 1 Million Menschen töten, kann eine auch nur geringe Steigerung seiner Ansteckungsfähigkeit verheerende Ausmaße nicht unähnlich einem großen Krieg annehmen, erst recht bei schneller Verbreitung. Inzwischen ist eines seiner ersten Opfer der lange von den Kirchenbänken der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gepredigte tröstende Glaube, Pandemien könnten durch schnelle Reaktion medizinischer Bürokratien ebenso schnell wieder eingedämmt werden, ganz unabhängig von der Qualität der örtlichen öffentlichen Gesundheitsfürsorge. Seit den anfänglichen Toden durch H5N1 in Hongkong im Jahr 1997 hat die WHO mit Unterstützung der meisten nationalen Gesundheitssysteme eine Strategie gefördert, die sich auf die Identifizierung und Isolierung eines pandemischen Virenstamms innerhalb seines örtlichen Ausbruchsradius konzentriert, gefolgt von einer flächendeckenden Versorgung der Bevölkerung mit antiviralen Arzneimitteln und (soweit vorhanden) mit Impfstoffen.
Eine Armee von Skeptikern hat berechtigterweise diesen viralen Aufstandsbekämpfungsansatz kritisiert und darauf verwiesen, dass Mikroben heute schneller um die Welt fliegen können (was buchstäblich für die Vogelgrippe gilt), als die WHO oder lokale Beamte auf den Beginn des Ausbruchs reagieren können. Sie haben auch auf die primitive, häufig nicht vorhandene Überwachung der Nahtstelle zwischen menschlichen und tierischen Krankheiten hingewiesen. Aber der Mythos von dem entschlossenen, vorbeugenden (und billigen) Eingreifen gegen die Vogelgrippe war ein wahres Geschenk für reiche Länder wie die USA und Großbritannien, die lieber in ihre eigenen biologischen Maginotlinien investieren, als die Hilfsgelder für epidemiegefährte Fronten in Übersee zu erhöhen. Er war auch nützlich für Big Pharma, die gegen Forderungen der Dritte-Welt-Länder nach Generika, staatlicher Herstellung von wichtigen antiviralen Mitteln wie Roches Tamiflu, vorgingen. Die Schweinegrippe könnte jedenfalls zum Beweis werden, dass die Sicherungsmechanismen der WHO und der US-amerikanischen Seuchenzentren – ohne neue Großinvestitionen in Beobachtung, wissenschaftliche und regulatorische Infrastruktur, grundlegende Gesundheitsfürsorge und globalen Zugang zu lebenswichtigen Arzneimitteln – etwa so lange währen wie das Pyramidensystem der AIG-Derivate und der Madoff-Sicherheiten.
Es ist nicht so, dass das Pandemie-Warnsystem etwa gescheitert wäre, es ist vielmehr nicht existent, nicht einmal in Nordarmeka und der Europäischen Union. Vielleicht überrascht es nicht, dass Mexiko weder über die Kapazität noch den politischen Willen verfügt, Viehseuchen und ihre Folgen für die öffentliche Gesundheit zu überwachen, aber die Lage ist kaum besser nördlich der Grenze, wo die Überwachung an einem Flickenteppich aus staatlicher Gesetzgbung scheitert und die Viehkonzerne Gesundheitsvorschriften mit derselben Verachtung behandeln wie ihre Arbeiter und Tiere. Ebenso hat ein Jahrzehnt der Warnungen von Wissenschaftlern auf diesem Gebiet nicht gereicht, um einen Transfer komplexer Technologie zur Virenbestimmung in Länder zu organisieren, die direkt in der Schneise möglicher Pandemien liegen. Mexiko hat weltberühmte Seuchenexperten, aber es musste Abstriche zu Laboren in Winnipeg schicken (mit einer 33fach kleineren Bevölkerung als Mexiko-Stadt), um das Genom des Virenstamms zu identifizieren. Fast eine Woche ging dadurch verloren.
Kaum jemand aber war weniger am Ball als die legendären Seuchenkontrolleure in Atlanta. Laut Washington Post erfuhr das CDC von dem Ausbruch erst sechs Tage, nachdem die mexikanische Regierung Notmaßnahmen verhängt hatte. Die Post berichtete sogar, dass „Gesundheitsbeamte noch zwei Wochen, nachdem der Ausbruch festgestellt wurde, über die Ereignisse in Mexiko weitgehend im Dunkeln tappen". Keine Entschuldigungen! Das ist kein unvorhersehbares Ereignis. Das Paradoxe an dieser Schweinegrippepanik ist gerade, dass sie zwar völlig unerwartet kam, aber präzise vorhergesagt wurde.
Vor sechs Jahren veröffentlichte die Zeitschrift Science einen großen Bericht (von der bewundernswerten Bernice Wuethrich) über Nachweise, dass „nach Jahren der Stabilität das nordamerikanische Schweinegrippevirus auf eine evolutionäre Schnellstraße eingebogen ist". Seit seiner Entdeckung zu Anfang der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren hatte das H1N1-Schweinegrippevirus nur geringe Abweichungen von seinem ursprünglichen Genom entwickelt. Dann brach 1998 plötzlich die Hölle los. Ein hochansteckender Virusstamm begann, Säue in einer Schweinefarm in North Carolina dahinzuraffen, und fast jährlich tauchten neue und ansteckendere Varianten auf, auch eine merkwürdige Variante von H1N1, das die inneren Gene von H3N2 (die andere Typ-A-Grippe, die Menschen befällt) enthielt. Die von Wuethrich befragten Forscher waren besorgt, dass einer dieser Hybride eine Grippe bei Menschen auslösen könnte (sowohl bei der Pandemie von 1957 als auch von 1968 wird vermutet, dass der Ursprung eine Vermengung aus Vogel- und Menschenviren in Schweinen war), und drängten auf die Einrichtung eines offiziellen Überwachungssystems für die Schweinegrippe. Diese Mahnung wurde in Washington natürlich überhört, wo die Politiker bereitwillig Milliarden Dollar für ihre Bioterrorismus-Fantasien zum Fenster rauswerfen, während sie die offensichtlichen Gefahren vernachlässigen. Aber was hat die Evolution der Schweinegrippe beschleunigt? Vermutlich derselbe Mechanismus, der die Reproduktion der Vogelgrippe begünstigte.
Virologen haben lange geglaubt, dass das System intensiver Agrarwirtschaft Südchinas – ein außerordentlich produktives Ökosystem aus Reis, Fisch, Schweinen und Haus- wie Wildvögeln – der Hauptmotor für die Influenzamutation sei: sowohl bei saisonalem Gendrift als auch bei wiederkehrendem Genshift. (Eher seltener kommt es zu einem direkten Überspringen von Vögeln zu Schweinen und/oder Menschen, so wie bei H5N1 im Jahr 1997.) Die Industrialisierung der Viehproduktion durch Konzerne hat aber das natürliche Monopol Chinas auf die Grippeevolution gebrochen. Viele Autoren haben bereits darauf hingewiesen, dass die Viehhaltung in den vergangenen Jahrzehnten in etwas verwandelt wurde, das sehr viel mehr Ähnlichkeiten mit der petrochemischen Industrie hat als mit der glücklichen Bauernfamilie aus unseren Schulbüchern.
Im Jahr 1965 gab es beispielsweise 53 Millionen amerikanische Schweine in über einer Millionen Farmen; heute sind 65 Millionen Schweine in 65.000 Einrichtungen konzentriert, wobei die Hälfte der Schweine in Riesenanlagen mit 5.000 Tieren oder mehr gehalten werden. Das ist im Kern ein Übergang von den altmodischen Schweineställen zu gigantischen Exkrementhöllen mit Dutzenden, Hunderten, gar Tausenden von Tieren mit geschwächtem Immunsystem, die unter Hitze und Kot leiden und mit ihren Leidensgenossen und der traurigen Nachkommenschaft Krankheitserreger mit rasender Geschwindigkeit austauschen ‒ ein in der Natur beispielloser Zustand. Wer jemals durch Tar Heel, N. C., oder Milford, Utah gefahren ist wo die Niederlassungen von Smithfield Foods jede jährlich über eine Millionen Schweine produziert und Hunderte Lagunen voll giftiger Scheiße, wird spontan verstehen, wie grundlegend sich das Agrarbusiness in die Naturgesetze eingemischt hat. Im vergangenen Jahr hat eine Sonderkommission des Pew Research Center einen bahnbrechenden Bericht über „industrielle Tierproduktion" vorgelegt und die akute Gefahr unterstrichen, dass „die beständige Virenzirkulation … in großen Herden oder Schwärmen die Möglichkeit für die neue Generation von Viren erhöht, durch Mutation oder neu kombinierte Ereignisse noch effektiver von Mensch zu Mensch überzuspringen." Die Kommission warnte auch vor dem wahllosen Einsatz von Antibiotika in Schweinefabriken (was billiger ist als ein gutes Abwassersystem oder eine artgerechte Umgebung), der zu einer Steigerung von resistenten Staphylokokkeninfektionen führt, während übergelaufene Gülle die albtraumhafte Ausbreitung von choleraerzeugenden Kolibakterien und Pfisteriaalgen (das Weltuntergangsplankton, das über eine Milliarde Fische in den kalifornischen Meeresarmen getötet hat und bei Dutzenden Fischern zu Erkrankungen führte) befördert.
Jede Besserung dieser neuen krankmachenden Ökologie müsste jedoch die unglaubliche Macht der Viehhalterkonglomerate wie Smithfield Foods (Schweine und Rinder) und Tyson (Hühner) konfrontieren. Die Kommission des Pew Research Center unter dem Vorsitz von John Carlin, ehemaliger Gouverneur von Kansas, berichtet von systematischer Behinderung ihrer Untersuchungen durch Konzerne, wozu auch offene Drohungen gehören, mitwirkenden Forschern die Gelder zu streichen. Schlimmer noch, dies ist eine hoch globalisierte Industrie mit entsprechender internationaler politischer Schlagkraft. So wie der Hühnerriese Charoen Pokphand in Bangkok in der Lage war, die Untersuchung seiner Rolle bei der Verbreitung der Vogelgrippe in Südostasien zu blockieren, wird sehr wahrscheinlich auch die gerichtsmedizinische Untersuchung des Ausbruchs der Schweinegrippe an den Konzernmauern der Schweineindustrie scheitern. Das heißt nicht, dass niemals ein Beweis gefunden werden wird: Es gibt bereits Gerüchte in der mexikanischen Presse über ein Grippeepizentrum um eine riesige Smithfield-Filiale im Bundesstaat Veracruz. Noch wichtiger ist jedoch (vor allem angesichts der weiterbestehenden Bedrohung durch H5N1) das Gesamtbild: die gescheiterte Pandemiestrategie der WHO, der weitere Abbau der öffentlichen Gesundheitssysteme weltweit, der Würgegriff von Big Pharma hinsichtlich lebensnotwendiger Arzneimittel und die den Globus umspannende Katastrophe der industrialisierten und ökologisch durchgeknallten Viehproduktion.
(Aus dem Englischen von Rosemarie Nünning und David Paenson)