Ende Mai ging es im Plenum des Bundestages um Antisemitismus – nicht in der Gesellschaft, sondern um den angeblichen in der Partei DIE LINKE. Der Vorwurf ist nicht neu: Hinter der Kritik an der Politik des Staates Israel verberge sich plumper Judenhass. Doch damit werden Dinge zusammengeworfen, die nicht zusammengehören. Von Stefan Bornost
Für den Gießener Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn steht fest: »DIE LINKE hat ein Antisemitismusproblem.« Anlass für diese Behauptung war die Teilnahme der beiden Bundestagsabgeordneten Inge Höger und Annette Groth an der vom israelischen Militär angegriffenen Gaza-Hilfsflotte. Die beiden verurteilen, wie andere Mitglieder der LINKEN auch, die Politik des israelischen Staats gegenüber den Palästinensern. Für Salzborn grenzt das an Judenhass. Vor allem die Kritik mancher Linker an der israelischen Staatsideologie, dem Zionismus, stößt ihm auf: »Der Antizionismus ist eine jüngere Spielart des Antisemitismus. Die Dämonisierung Israels, die permanenten Vergleiche mit dem Nationalsozialismus und die permanenten einseitigen Verurteilungen machen schon deutlich, dass wir es nicht mit wohlmeinender Kritik zu tun haben. Das Motiv ist Antisemitismus.«
Salzborn wirft hier jedoch zwei Dinge in einen Topf, die nicht zusammengehören: Der Antisemitismus ist eine rassistische Theorie, die einer vorgestellten einheitlichen Gruppe, nämlich »den Juden«, vermeintlich gemeinsame Eigenschaften wie Geldgier oder Hang zur Verschwörung zuschreibt. Sie dient dazu, Ablehnung, Diskriminierung und Ausgrenzung von Juden zu rechtfertigen. Während der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland war der Antisemitismus menschenverachtende Staatsideologie. Er mündete in der Vernichtung von Millionen europäischen Juden im Holocaust.
Der Antizionismus hingegen richtet sich gegen eine politische Theorie, den Zionismus, und die daraus abgeleitete jüdische Nationalbewegung. Antizionisten werfen Israel vor, dass die Staatsgründung auf dem Rücken der Palästinenser durchgesetzt wurde und weiterhin wird. Sie gehen davon aus, dass dies unweigerlich so sein musste, weil die zionistische Siedlungsbewegung in Palästina kolonialistische und teilweise rassistische Züge trug. Als Lösung schlagen Vertreter des Antizionismus kurzfristig ein Ende von Besatzung und Siedlungsbau vor, längerfristig eine Veränderung der staatlichen Ordnung in Nahost. Über die Frage, wie diese aussehen soll, gibt es unterschiedliche Meinungen: Manche plädieren für einen lebensfähigen palästinensischen neben dem bestehenden israelischen Staat – sie sind Anhänger der sogenannten Zweistaatenlösung. Andere halten das aufgrund der Zersiedelung der Palästinensergebiete für nicht realistisch oder aus anderen Gründen für nicht erstrebenswert – sie befürworten einen gemeinsamen Staat von Juden und Arabern, der nicht konfessionell gebunden ist. Tatsache ist jedenfalls, dass der politische Antizionismus selbstverständlich für das Recht der jüdischen Bevölkerung eintritt, im Nahen Osten zu leben. Anders als der Antisemitismus ergehen sich Antizionisten nicht in Entfernungs- und Vernichtungsfantasien. Im Gegenteil: Sie lehnen jegliche Form von Rassismus ab. Der jüdische Sozialist Michel Warschaswki bringt den Unterschied so auf den Punkt: »Wie jeder andere Rassismus negiert der Antisemitismus (oder die Judenfeindlichkeit) den Anderen in seiner Identität und in seiner Existenz. Der Jude ist, egal was er tut, egal was er denkt, Hassobjekt bis hin zur Ausrottung, nur weil er Jude ist. Der Antizionismus hingegen ist eine politische Kritik an einer politischen Ideologie und Bewegung; er greift nicht eine Menschengruppe an, sondern stellt eine bestimmte Politik in Frage.«
Neben ihren gegensätzlichen ideologischen Zielen haben Antisemitismus und Antizionismus auch völlig unterschiedliche historische Wurzeln. Der Antisemitismus ist eine Spielart des modernen Rassismus, wie er im 19. Jahrhundert aufkam. Zwar wurden bereits in den Jahrhunderten zuvor Juden in Europa diskriminiert und verfolgt. Mithilfe von Aberglaube und christlichen Vorurteilen wie der Behauptung, sie würden Brunnen vergiften und rituelle Kindsmorde begehen, wurden sie zu Sündenböcken gemacht. Dieser Judenhass oder christliche Antijudaismus unterscheidet sich jedoch vom modernen Antisemitismus. Im Mittelalter wurde die Ausgrenzung nicht biologistisch begründet. Ein Jude galt nicht qua Geburt als minderwertig. Es war seine Religion, die ihn zum Außenseiter machte. So konnte er meist durch Übertritt zum Christentum der Diskriminierung entgehen. Erst im 19. Jahrhundert hatten die Rassentheorien Hochkonjunktur, im Wesentlichen, um den Kolonialismus und die Sklaverei zu rechtfertigen. Dass er nicht mehr nur als religiöser Außenseiter galt, sondern als Mitglied einer biologisch minderwertigen Rasse, machte einen entscheidenden Unterschied für den einzelnen Juden. Hannah Arendt stellte fest: »Aus dem Judentum konnte man entkommen« (zum Beispiel durch die christliche Taufe), »aus der Jüdischkeit nicht.« In vielen europäischen Ländern wurde der Antisemitismus im 19. Jahrhundert, von oben geschürt, zur Bedrohung für die dort lebenden Juden. Diskriminierung, Übergriffe und Pogrome waren beispielsweise im zaristischen Russland an der Tagesordnung. Es entstanden zudem politische Massenbewegungen, deren Grundlage der Antisemitismus war.
Die moderne jüdische Nationalbewegung, der Zionismus, war eine direkte Reaktion auf diese antisemitische Welle. Ihr Ziel bestand darin, einen eigenen Staat für alle Juden zu schaffen und sie damit vor Angriffen zu schützen. Anfangs hatte diese Bewegung in den jüdischen Gemeinden relativ wenig Einfluss. Ein Großteil der politischen Aktivisten unterstützte vielmehr sozialistische Parteien. Michel Warschaswki beschreibt: »Bis zum Aufstieg des Nazismus hat die überwältigende Mehrheit der Juden weltweit den Zionismus verworfen, sei es als Häresie (das war die Position der großen Mehrheit der Rabbiner und der religiösen Juden), sei es als reaktionär (das war die Position der jüdischen Arbeiterbewegung in Osteuropa), sei es als anachronistisch (so dachten die emanzipierten oder assimilierten Juden in Mittel- und Westeuropa).« So folgten in den ersten fünfzig Jahren der zionistischen Bewegung (bis 1930) nur etwa 120.000 Juden dem Ruf, in Palästina zu siedeln. Das waren viel zu wenig Menschen, um dort einen jüdischen Nationalstaat zu errichten. Der Terror der Nazis, der mit der Schoah (dem Holocaust) in der systematischen, industriellen Ermordung von mehr als sechs Millionen Juden gipfelte, veränderte die Lage grundlegend. Viele Verfolgte wollten zunächst nicht nach Palästina, sondern in andere Länder, vor allem in die USA. Doch für einen Großteil blieben die Grenzen verschlossen. Verfolgt von den Nazis sahen deshalb viele der europäischen Juden in der Emigration nach Palästina den einzigen Ausweg – und zugleich eine neue Hoffnung.
Doch anstatt Frieden zu finden, gerieten die Neuankömmlinge unmittelbar in einen neuen Konflikt. Seit Beginn der zionistischen Besiedlung gab es scharfe Spannungen zwischen den Siedlern und der ansässigen arabischen Bevölkerung. Denn das zionistische Projekt schloss von vornherein ein integriertes Zusammenleben von jüdischen Siedlern und Arabern aus. Stattdessen zielte es auf die Verdrängung der arabischstämmigen Bevölkerung, um einen rein jüdischen Nationalstaat zu schaffen. Organisationen des Zionismus kauften arabischen Großgrundbesitzern so viel Land wie möglich ab und zwangen die darauf lebenden kleinen Pächter, Arbeiter und Nomaden, es zu verlassen.
Die jüdische Besiedlung Palästinas nahm die Form einer gewaltsamen Kolonisierung an. Sie wurde anfangs von der britischen Kolonialmacht unterstützt, die seit dem Zerfall des Osmanischen Reiches das Gebiet kontrollierte. Der erste palästinensische Aufstand in den Jahren 1936 bis 1939 wurde von der britischen Armee im Bündnis mit zionistischen Milizen niedergeworfen. Im Jahr 1948 verübten ebenfalls zionistische Milizen mehrere Massaker an palästinensischen Dorfbewohnern – das größte fand in Deir Jassin statt – und lösten so eine Fluchtwelle aus: 750.000 Palästinenser verließen ihre Heimat. Inmitten dieser Massenvertreibung wurde der israelische Staat gegründet. Es ist eine historische Tragödie, dass der Zionismus, geboren aus der Erfahrung antisemitischer Unterdrückung, sein eigenes politisches Ziel, die Schaffung eines jüdischen Nationalstaats, mit den Mitteln von Terror und Vertreibung durchgesetzt hat. Daran setzt die Kritik des Antizionismus an, seine historische Wurzel ist die Auseinandersetzung mit der sich entwickelnden jüdischen Nationalbewegung.
Aber natürlich gilt: Wenn die Kritik an der Politik Israels auf »die Juden« an sich übertragen wird, stehen Linke und Antizionisten in der Pflicht, entschieden dagegen aufzutreten: Nicht »die Juden« entrechten die Palästinenser, sondern der zionistische israelische Staat und seine Unterstützer. Eine wachsende Zahl von Juden, insbesondere unter denen, die nicht in Israel leben, sieht diese Entwicklung sehr skeptisch. Auch die US-Regierung deckt das Vorgehen Israels nicht, wie gelegentlich behauptet, weil sie unter dem Einfluss »der Juden« stehe. Vielmehr liegt es in ihrem strategischen Interesse: Israel ist in einer wichtigen, ölreichen Region der zentrale Bündnispartner der USA, »der größte Flugzeugträger Amerikas«. Bei anderen US-Verbündeten wie Ägypten, Saudi-Arabien oder Pakistan vermutet ja auch niemand eine große »muslimische Lobby« als Grund für die Unterstützung – es ist offensichtlich, dass es sich hierbei um strategische Partnerschaften handelt.
Nun ist aber nicht jeder, der falsche Verallgemeinerungen vornimmt, ein Antisemit. So geben zum Beispiel viele arabischstämmige und/oder muslimische junge Männer an, gegen »die Juden« zu sein.
Ein Befund, den einige Wissenschaftler zum Anlass nehmen, von einer »neuen Welle des Antisemitismus« zu sprechen. Doch hinter dieser Judenfeindschaft steht zumeist nicht das Ziel, Juden zu diskriminieren, sich als vermeintlich höhere Rasse über eine minderwertige zu erheben. Zwar begründen junge Araber in Europa ihre Feindschaft gegenüber Israel und den Juden mit Ideen, die zum Teil dem modernen Antisemitismus entliehen sind. Dennoch ist, so der britisch-jüdische Aktivist Brian Klug, »Israels Besatzung des Westjordanlands kein Hirngespinst. Auch die jüdischen Siedlungen in diesen Gebieten sind es nicht. Und auch nicht die institutionalisierte Diskriminierung israelisch-arabischer Bürger in verschiedenen Lebensbereichen. Das sind Realitäten. Es ist eine Sache, auf der Grundlage antisemitischer Hirngespinste gegen Israel oder gegen den Zionismus zu argumentieren, eine andere jedoch, wenn man es der Realitäten am Ort wegen tut. Letzteres ist nicht antisemitisch.«
In der deutschen Öffentlichkeit gibt es mittlerweile zum Glück eine hohe Sensibilität beim Thema Antisemitismus. Es ist zurzeit kaum vorstellbar, dass ein Politiker mit der Herabwürdigung von Juden große Erfolge feiert. Anders sieht es leider bei Muslimen aus: Ihre Bewertung als vermeintlich anders, kulturell rückständig und minderwertig ist mittlerweile gesellschaftliche Mehrheitsmeinung, die sogar bis in die Linke wirkt. Sollte über die Islamfeindschaft der Rassismus wieder respektabel werden, dann ist auch einer größeren gesellschaftlichen Akzeptanz des Antisemitismus Tür und Tor geöffnet. Das ist die wesentliche Gefahr für Juden heute – nicht die Kritik an der Politik Israels.