Keiner wird entlassen, befristete Stellen in dauerhafte umgewandelt: Die Kolleginnen und Kollegen von Europas größtem Flugzeugküchen-Hersteller Sell haben den Kampf um ihre Arbeitsplätze gewonnen. Von Tobias Paul
Der Marktplatz des hessischen Herborn ist meistens ein ruhiger Ort. Doch am 30. Juni änderte sich das schlagartig. 3000 Menschen versammelten sich dort, um den Kolleginnen und Kollegen bei Sell ihre Solidarität auszudrücken. Denn trotz guter Gewinne plante das Management knapp ein Drittel der Stellen zu streichen. Als Gründe nannte die Geschäftsleitung eine schlechte Auftragslage und einen Einbruch der Nachfrage um 30 Prozent.
»Es geht ums Ganze«
Betriebsrat und die IG Metall riefen dazu auf, auf die Straße zu gehen. Die Kundgebung in der Innenstadt stand unter dem Motto: »Es geht ums Ganze! Es geht um uns, unsere Familien, unsere Existenz. Und es geht um Sell, Selzer, Berkenhoff, Zimmermann und viele andere Firmen in unser Region. Wenn wir uns jetzt nicht massiv wehren, verlieren wir den Kampf um unsere Zukunft.«
Im Vorfeld der Aktion versuchte die Geschäftsleitung den Beschäftigteten mit Abmahnungen zu drohen, sollten sie sich vor dem Ende der offiziellen Kernarbeitszeit entschließen, an der Demonstration teilzunehmen – ohne Erfolg.
Am Tag darauf gab das Management des britischen Mutterkonzerns PAIG nach und ließ ihre Entlassungspläne fallen. Mehr noch, alle 380 befristeten Arbeitsverträge wurden in unbefristete Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt. Betriebsbedingte Kündigungen wurden bis zum 30. Juni 2012 ausgeschlossen.
Empörung
Besondere Empörung löste die Tatsache aus, das die Sell GmbH trotz noch voller Auftragsbücher und hohen Marktanteilen 367 Kolleginnen und Kollegen mit befristeten Verträgen nicht weiterbeschäftigen und die übrigen 900 mit Überstunden und Sonderschichten belegen wollte. Dem verweigerte sich die Belegeschaft.
Die PAIG diktierte den Beschäftigten eine immer höhere Gewinnrate auf. Das Handelsblatt schrieb am 10. Juni, dass das Unternehmen 2008 einen operativen Gewinn von 10 Prozent gemessen am Umsatz (200 Millionen Euro) erwirtschaftet hat. Dem Mutterkonzern schien dies aber zuwenig zu sein.
Druck der Finanzinvestoren abgewehrt
Hintergrund sind die hohen Renditeerwartungen der Investoren des Fonds »RBS Special Opportunities Fund«, der von der massiv mit britischen Staatshilfen gestützen »Royal Bank of Scotland« verwaltet wird. Der Investmentfonds ist Eigentümer der PAIG, unter deren Dach neben Sell weitere Luftfahrtzulieferer zusammengeschlossen sind. Nach Aussage der Arbeitnehmervertreter von Sell arbeiten fast alle Tochterunternehmen wegen der Wirtschaftskrise defizitär. Das Herborner Unternehmen müsse deshalb mit seinen Gewinnen den gesamten Fonds stützen – und damit auch die Erwartungen der Investoren befriedigen.
Deswegen stellten die Beschäftigtenvertreter weitere Forderungen, die in Verhandlungen nach der Demonstration durchgesetzt wurden: Festgelegt ist nun, dass alle Produkte am Standort verbleiben und nicht ausgelagert werden. Die Rückübertragung der Vertriebsverantwortung und die alleinige Verantwortung und Kompetenz für die Preisgestaltung und Angebote wurden vereinbart. So soll das Unternehmen Entscheidungen an der Situation vor Ort messen und nicht beeinflußt durch internationale Finanzmarktakteure fällen.
Der Mutterkonzern wurde desweiteren verpflichtet, Vorraussetzungen dafür zu schaffen, dass Sell aus dem Fonds befreit wird.
Sollte das Unternehmen trotz guter Ausgangslage durch die Wirtschaftskrise in Schwierigkeiten kommen, soll das Instrument der Kurzarbeit, sowie der Abbau von Zeitkonten das Mittel der Wahl sein. Dem hatte sich die Geschäftsleitung bis zuletzt verweigert.
Große Freude
Für die strukturarme Region des alten Dillkreises hat dieser Arbeitskampf eine besondere Bedeutung. Nach jahrelangen Abbau von Industriearbeitsplätzen und Betriebsschließungen hat sich nun eine Belegschaft erfolgreich dagegen gewehrt. Entsprechen groß ist war Freude.
Ab sofort gelte bei Sell das Prinzip »Beschäftigung vor Gewinn«, kommentierte der Betriebsratsvorsitzende Gerd Spellerberg den Sieg der Belegschaft.
Der erste Bevollmächtigte der IG-Metall, Hans-Peter-Wieth, erklärte: »Euer Beispiel kann vielen Menschen Mut machen. Es zeigt: Gemeinsam kann man auch gegen mächtige Gegner bestehen. Es zeigt warum und wofür es sich lohnt, Mitglied in der IG Metall zu sein. Beschäftigte sind nicht wehrlos, sie können vieles bewegen – wenn sie sich selbst bewegen.«
Zum Autor:
Tobias Paul ist Mitglied im Kreisvorstand DIE LINKE Darmstadt