Den Klimawandel kann man nicht mit dem Markt bekämpfen. Mike Davis über den angeblichen »Klimaschutz« im Kapitalismus
Unsere Welt, unsere alte Welt, die wir in den letzten 12000 Jahren bewohnt haben, ist am Ende, auch wenn keine Zeitung in Nordamerika und Europa bislang ihren wissenschaftlichen Nachruf abgedruckt hat. Im vergangenen Februar, als auf der Baustelle des Wolkenkratzers von Burj Dubai, der bald die doppelte Höhe des Empire State Building erreichen wird, das 141.Stockwerk errichtet wurde, ergänzte die Kommission für Stratigrafie [die Wissenschaft der geologischen Schichten, die Redaktion] bei der Londoner Geologischen Gesellschaft die Erdgeschichte um eine neue Epoche.
Abschied vom Holozän
Die 1807 gegründete Londoner Gesellschaft ist der Welt älteste Vereinigung von Geowissenschaftlern, ihre Kommission handelt als höchste Autorität in Sachen Einteilung der geologischen Zeitskala. Die Stratigrafen unterteilen die Geschichte der Erde entsprechend den erhaltenen Sedimentschichten in Äonen, Ären, Perioden und Epochen. Diese setzen sich voneinander ab durch Ereignisse wie Massenaussterben, auffällige Artenbildung oder abrupte Veränderungen der Chemie in der Atmosphäre.
Wie in der Biologie oder der Geschichtswissenschaft ist auch in der Geologie die Periodisierung eine komplexe und kontroverse Kunst. Der heftigste Streit in der britischen Wissenschaft des 19.Jahrhunderts – bekannt als die »große Devon- Kontroverse« – drehte sich um die unterschiedliche Interpretation der walisischen Grauwacke und des englischen Roten Sandsteins. In jüngerer Zeit haben Geologen darüber gestritten, wie die Eiszeiten in den vergangenen 2,8 Millionen Jahren stratigrafisch abzugrenzen sind. Einige Wissenschaftler haben nie akzeptiert, dass die jüngste warme Zwischenzeit – das Holozän – als eine eigene »Epoche« aufzufassen ist, weil es die Geschichte der Zivilisation umfasst.
Infolgedessen legen die heutigen Stratigrafen außerordentlich strenge Standards an die Verkündung einer neuen erdgeschichtlichen Unterteilung. Obwohl die Vorstellung von einem Anthropozän – das heißt einer Epoche, die sich definiert durch das Entstehen einer urban-industriellen Gesellschaft, die eigene geologische Spuren hinterlässt – seit langem diskutiert wird, haben sich die Stratigrafen bislang geweigert, ihre Existenz anzuerkennen.
Zumindest was die Londoner Gesellschaft betrifft, ist diese Position nun aufgegeben worden.
Die Frage »Leben wir nun im Anthropozän?« beantworten die 21 Mitglieder der Kommission nun einmütig mit »Ja« Sie erbringen den stichhaltigen Beweis, dass die Epoche des Holozäns – die interglaziale Phase mit einem ungewöhnlich stabilen Klima, das die rasche Entwicklung von Landwirtschaft und städtischer Zivilisation ermöglichte – zu Ende ist und dass die Erde in »ein stratigrafisches Stadium« eingetreten ist, das in den letzten Jahrmillionen keine Parallelen hat. Zusätzlich zur dramatischen Steigerung der Treibhausgase führen die Stratigrafen die Transformation der Landschaft durch den Menschen an, die »nun die [jährliche] Produktion natürlicher Sedimente beträchtlich übertrifft«, die Übersäuerung der Ozeane und die schonungslose Zerstörung der Fauna und Flora.
Kennzeichnend für diese neue Epoche ist sowohl der Trend zur Erwärmung (die nächstliegende Parallele dazu ist womöglich die Katastrophe, die als »thermales Maximum« beim Übergang vom Paläozän zum Eozän vor 56 Millionen Jahren bekannt ist) als auch die radikale Instabilität des Klimas, das in der künftigen Umwelt zu erwarten ist. In düsterer Prosa warnen sie, dass »die Kombination von Aussterben, globaler Artenwanderung und verbreiteter Ersetzung natürlicher Vegetation durch landwirtschaftliche Monokulturen ein charakteristisches zeitgenössisches biostratigrafisches Signal produziert. Diese Auswirkungen sind dauerhaft, weil die zukünftige Evolution auf der Grundlage überlebender (und oft anthropogen umgesiedelter) Stämme ablaufen wird.« In anderen Worten, die Evolution ist auf eine neue Bahn gezwungen worden.
Sinken die Treibhausemissionen von selbst?
Die Anerkennung des Anthropozäns durch die Kommission fällt zusammen mit einer zunehmenden wissenschaftlichen Kontroverse über den im letzten Jahr vom »Intergovernmental Panel on Climate Change« (IPCC) [= UN-Klimarat, die Redaktion] herausgegebenen vierten Lagebericht. Der IPCC ist beauftragt, für die internationale Bemühungen zur Reduzierung der globalen Erwärmung wissenschaftliche Grundlagen zu schaffen, aber einige der prominentesten Forscher kritisieren seine Szenarien als zu optimistisch.
Die aktuellen Szenarien gründen sich auf Daten des IPCC aus dem Jahr 2000, mit deren Hilfe Modelle für künftige globale Emissionen auf der Grundlage variabler Annahmen über das Bevölkerungswachstum, die technologische und die ökonomische Entwicklung erstellt wurden. Einige der Szenarien des IPCC sind den politischen Entscheidungsträgern wie auch den Umweltaktivisten durchaus bekannt. Aber nur wenige außerhalb der Forschungsgemeinde haben tatsächlich die Details gelesen oder verstanden – das gilt insbesondere für das Vertrauen des IPCC, dass sich als »automatisches« Nebenprodukt der zukünftigen Wirtschaftsentwicklung eine größere Energieeffizienz einstellen werde. Tatsächlich nehmen alle seine Szenarien, sogar die Varianten »Business as usual«, an, dass sich Kohlenstoff in Zukunft mindestens um 60 Prozent reduzieren werde – unabhängig von aktiven Maßnahmen zur Reduzierung der Treibhausgase.
Der IPCC setzt ausschließlich auf einen nicht planmäßigen, marktgetriebenen Übergang zu einer Weltökonomie nach dem Kohlenstoff – das setzt voraus, dass Energiekonzerne den Reichtum, den sie durch höhere Energiepreise gewinnen, in neue Technologien und erneuerbare Energie investieren werden. Die International Energy Agency (IEA) schätzte allerdings vor kurzem, dass eine Halbierung der Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2050 etwa 45 Billionen Dollar kosten wird.
Abkommen wie das von Kyoto und der Handel mit Kohlenstoffemissionen sind dazu da, den Fehlbetrag zwischen dem erwarteten spontanen Rückgang des CO2-Ausstoßes und den im jeweiligen Szenario geforderten Ziel der Emissionsreduzierung zu überbrücken. Zufällig senkt dies die Kosten für die Abschwächung der globalen Erwärmung auf ein Niveau, das sich an das politisch Mögliche anpasst – dargelegt wird es im britischen »Stern Review on the Economics of Climate Change« (2006) und anderen Berichten dieser Art.
Kritiker argumentieren jedoch, dass damit die ökonomischen Kosten, technologischen Hürden und gesellschaftlichen Veränderungen, die erforderlich sind, um das Wachstum der Treibhausgase einzudämmen, radikal unterschätzt werden. In Europa steigen die Kohlenstoffemissionen zum Beispiel immer noch (in einigen Bereichen sogar dramatisch) trotz der vielfach gelobten Annahme eines Verfahrens der Deckelung und des Handels (cap-and-trade system) 2005 durch die EU. Es hat in den letzten Jahren auch kaum Anzeichen für einen automatischen Fortschritt bei der Energieeffizienz gegeben – der aber eine Voraussetzung für die Szenarien des IPCC ist. Seit 2000 hat die Energieintensität nach Ansicht der meisten Forscher tatsächlich zugenommen, das heißt die globalen CO2-Emissionen haben mit dem Energieverbrauch Schritt gehalten oder sogar geringfügig schneller zugenommen.
Besonders die Kohleförderung erfährt eine dramatische Renaissance, und das 21. Jahrhundert wird vom 19. heimgesucht. Hunderttausende Bergleute arbeiten heute unter Bedingungen, die Charles Dickens erschreckt hätten, sie fördern das schmutzige Mineral, das es China ermöglicht, jede Woche zwei neue Kohlekraftwerke ans Netz zu schließen. Mittlerweile lautet die Prognose, dass bis zur nächsten Generation der Gesamtverbrauch an fossilen Brennstoffen um mindestens 55 Prozent zunehmen wird, die internationalen Ölexporte werden sich verdoppeln.
Das United Nations Development Program (UNDP), das eine eigene Studie über die Ziele erneuerbarer Energie erstellt hat, warnt, dass eine »Reduzierung der weltweiten Treibhausgasemissionen um 50 Prozent bis 2050 gemessen am Stand von 1990« erforderlich ist, sonst werde die Menschheit in den roten Bereich einer aus dem Ruder laufenden Erwärmung geraten (darunter versteht man gewöhnlich eine Zunahme der Erwärmung um 2 Grad in diesem Jahrhundert). Die IEA aber sagt voraus, dass die Emissionen in aller Wahrscheinlichkeit in diesem Zeitraum um nahezu 100 Prozent zunehmen werden – genug Treibhausgas, um uns vielfach über diesen kritischen Punkt hinaus zu katapultieren.
Höhere Energiepreise werden zum Verschwinden der SUVs [Bezeichnung für bestimmte spritfressende PKW, die Redaktion] führen und mehr Risikokapital in erneuerbare Energie lenken, doch sie öffnen auch die Büchse der Pandora der rohesten aller Erdölförderungen – die aus kanadischem Teersand und venezolanischem Schweröl. Das Letzte, das wir uns wünschen sollten, ist, unter der falschen Losung der »Energieunabhängigkeit« neue Felder der Kohlenwasserstoffproduktion zu öffnen.
Kathedralen im Wüstensand
Können wir auf die Fähigkeit des Marktes vertrauen, um Investitionen aus alten in neue Energien oder aus der Rüstung in nachhaltige Landwirtschaft zu verlagern? Unaufhörlich werden wir (besonders über das Fernsehen) mit Propaganda bombardiert, wonach gewaltige Gesellschaften wie Chevron, Pfizer oder Archer Daniels Midland hart daran arbeiten, den Planeten zu retten, indem sie ihre Profite in die Forschung und Entwicklung von Brennstoffen mit niedrigem Kohlenstoffanteil, von neuen Impfstoffen und dürreresistenterem Saatgut investieren.
Wie der gegenwärtige Boom von Ethanol aus Mais, bei dem 100 Millionen Tonnen Getreide für amerikanische Automotoren statt für menschliche Ernährung verwendet werden, auf erschreckende Weise zeigt, kann »Biobrennstoff« ein Euphemismus für die Subventionierung der Reichen und den Hungertod der Armen sein. Ebenso ist »saubere Kohle«, trotz ihrer heftigen Unterstützung durch Barack Obama (der auch Ethanol befürwortet), nicht mehr als eine gigantische Täuschung – eine 40 Millionen Dollar teure Anzeigen- und Lobbykampagne für eine Technologie, die die Business Week als »Jahrzehnte vom kommerziellen Einsatz entfernt« bezeichnet.
Darüber hinaus gibt es beunruhigende Anzeichen, dass Energiekonzerne dabei sind, sich von ihrer öffentlichen Verpflichtung zur Entwicklung alternativer Energietechnologien und zur Reduzierung der Kohlenstoffemissionen abzuwenden. Das Pilotprojekt der Bush-Administration, FutureGen, wurde dieses Jahr aufgegeben, nachdem sich die Kohleindustrie geweigert hat, ihren Anteil an der öffentlich-privaten »Partnerschaft« zu zahlen; ebenso sind die meisten Projekte zur Senkung der Emissionen im US-Privatsektor gestrichen worden. In Großbritannien hat sich Shell mittlerweile aus dem weltweit größten Windenergieprojekt, dem London Array, zurückgezogen. Trotz heroischer Anstrengungen in der Werbung ziehen es Energiekonzerne, ebenso wie Pharmaunternehmen, vor, Profite auf dem Rücken der Allgemeinheit zu erzielen – die dringende, lange überfällige Forschung soll nicht aus ihren Profiten, sondern von Steuergeldern bezahlt werden.
Die Extraprofite aus den hohen Energiepreisen werden in Immobilien, Wolkenkratzer und Finanzpapiere investiert. Ein führendes Wall-Street-Orakel, das McKinsey Global Institute, sagt voraus, dass die sechs Länder des Gulf Cooperation Council allein »bis 2020 einen Gewinn von fast 9 Billionen Dollar einstreichen« werden, wenn die Rohölpreise weiter über 100 Dollar je Barrel liegen. Die OPEC-Staaten legen Staatsfonds auf, um eine aktivere Kontrolle über ausländische Finanzinstitutionen zu erlangen, und verwenden ihre fantastischen Gewinne dazu, Megastädte, Einkaufsparadiese und private Inseln für britische Rockstars und russische Gangster in Arabiens Sand zu setzen.
Vor zwei Jahren schätzte die Financial Times die Kosten für die geplanten neuen Baustellen in Saudi-Arabien und den Vereinigten Emiraten auf über eine Billion Dollar. Heute werden es eher 1,5 Billionen Dollar sein, das ist erheblich mehr als der gesamte Welthandel mit Agarprodukten. Die meisten Golfstaaten bauen halluzinatorische Skylines – und unter ihnen ist Dubai fraglos der Superstar. In wenig mehr als einem Jahrzehnt hat es 500 Wolkenkratzer errichtet, es beschäftigt derzeit ein Viertel aller Riesenkräne der Welt.
Von diesem Turboboom am Golf behauptet der Stararchitekt Rem Koolhaas, er sei dabei, »die Welt neu zu gestalten« Die Entwickler von Dubai hat er dazu gebracht, die Ankunft eines »Premium-Lebensstils« zu verkünden, der sich in einem 7-Sterne-Hotel, privaten Inseln und Jachten der J-Klasse zeigt. Es überrascht daher nicht, dass die Vereinigten Arabischen Emirate und ihre Nachbarn weltweit den größten ökologischen Fußabdruck pro Kopf der Bevölkerung aufweisen. Für die rechtmäßigen Besitzer des arabischen Ölreichtums aber, die Bevökerung in den engen Wohnvierteln von Bagdad, Kairo, Amman und Khartoum, fallen davon allenfalls ein paar Jobs auf den Ölfeldern oder in von den Saudis subventionierten Koranschulen ab. Während die Gäste des Burj Al-Arab, des berühmten Hotels von Dubai in Form eines Segels, 5000 Dollar für eine Nacht zahlen, gehen die Werktätigen in Kairo gegen unerschwingliche Brotpreise auf die Straße.
Katastrophen verstärken die Ungleichheit
Die Emissionsoptimisten werden über diese düsteren Bilder lächeln und das kommende Wunder des Emissionshandels beschwören. Was sie dabei außer Acht lassen, ist die Möglichkeit, dass ein Markt dafür zwar tatsächlich entsteht, aber dass er die globalen Kohlenstoffemissionen nur minimal reduzieren wird, solange es keinen Mechanismus gibt, den Verbrauch fossiler Brennstoffe wirksam zu senken.
In der aktuellen Diskussion über den Handel mit Emissionsrechten werden viele Nebelbomben geworfen. Zum Beispiel prahlt die reiche Ölenklave Abu Dhabi damit, sie habe mehr als 130 Millionen Bäume gepflanzt – jeder einzelne davon absorbiert CO2 aus der Atmosphäre. Aber dieser künstliche Wald in der Wüste verbraucht auch eine gewaltige Menge (Meer- )Wasser, das in teuren Entsalzungsanlagen gewonnen wird. Sie stellen nur eine energieintensive Kosmetik dar, wie das meiste des sog. grünen Kapitalismus.
Was aber ist, wenn der Handel mit Kohlenstoffzertifikaten das Thermometer nicht senken kann? Was genau wird Regierungen und Konzerne dann dazu bewegen, für die Reduzierung der Emissionen durch Regulierung und Besteuerung einzutreten?
Die Klimadiplomatie vom Typ Kyoto nimmt an, dass alle Hauptakteure, haben sie erst einmal die den Berichten des IPCC zugrunde liegenden Daten akzeptiert, ein übergreifendes gemeinsames Interesse an der Kontrolle über den Treibhauseffekt entdecken werden. Aber die globale Erwärmung ist kein »Krieg der Welten«, bei dem Invasoren vom Mars beabsichtigen, die gesamte Menschheit ohne Unterschied zu vernichten. Der Klimawandel wird von Anfang an extrem ungleiche Auswirkungen auf die verschiedenen Regionen und sozialen Klassen haben. Er wird die geopolitische Ungleichheit und die Konflikte nicht verringern, sondern verstärken.
Wie das UNDP in seinem letztjährigen Bericht betonte, ist die globale Erwärmung vor allem eine Bedrohung für die Armen und die zukünftigen Generationen, »beides Größen mit geringem oder gar keinem politischen Gewicht« Ein koordiniertes globales Handeln zu ihren Gunsten setzt einen revolutionären Zugang zur Macht voraus (ein Szenario, das der IPCC nicht vorsieht) oder die historisch beispiellose Verwandlung des Eigeninteresses der reichen Länder und Klassen in eine aufgeklärte »Solidarität« Letzteres wäre nur realistisch, wenn die privilegierten Gruppen keinen anderen Ausweg haben, wenn eine internationalistische öffentliche Meinung die Politik in den wichtigsten Ländern beeinflusst und wenn die Senkung der Treibhausgasemissionen ohne größere Opfer für den Lebensstandard der höheren Schichten auf der nördlichen Hemisphäre erreicht werden kann. Alle diese Annahmen erscheinen als sehr unwahrscheinlich.
Und wenn die zunehmenden sozialen und Umweltturbulenzen dazu führen, dass die Eliten sich noch massiver vom Rest der Menschheit abschotten? Die globale Abschwächung des Treibhauseffekts würde in diesem noch unerforschten, aber nicht unwahrscheinlichen Szenario stillschweigend aufgegeben zugunsten der beschleunigten Investition in eine selektive Anpassung zugunsten der Erste-Klasse-Passagiere des Planeten – z.B. durch grüne, abgezäunte Oasen permanenten Wohlstands auf einem ansonsten schwer mitgenommenen Planeten.
Vielleicht übernehmen einige europäische Städte und kleine Länder vollständig alternative Energien. Doch der Übergang zu einem Lebensstil mit geringen oder gar keinen Emissionen wird fast unvorstellbar teuer. Nach 2030 wird er gewiss noch weniger vorstellbar sein, wenn sich die Auswirkungen von Klimawandel, Öl- und Wasserknappheit und zusätzlich 1,5 Milliarden Menschen auf dem Planeten summieren und das Wachstum ersticken.
Die ökologische Schuld des Nordens
Die wirkliche Frage lautet: Werden die reichen Länder jemals den politischen Willen und die ökonomischen Ressourcen aufbringen, um die Ziele des IPCC zu erreichen oder den ärmeren Ländern zu helfen, sich an die bereits erreichte Erwärmung anzupassen? Werden die Wähler in den reichen Nationen ihre verriegelten Grenzen öffnen, um die Flüchtlinge aus den kommenden Epizentren der Dürre und Verödung wie dem Maghreb, Mexiko, Äthiopien oder Pakistan aufzunehmen? Werden die US-Amerikaner, das geizigste Volk gemessen an der Auslandshilfe pro Kopf, bereit sein, sich selbst zu besteuern, damit die Millionen, die aus dicht besiedelten Deltaregionen wie Bangladesh durch Überschwemmungen vertrieben werden, wieder angesiedelt werden können?
Der größte Teil der Dritten Welt will, dass die Erste Welt die Umweltkatastrophe zugibt, die sie geschaffen hat, und die Verantwortung für ihre Beseitigung übernimmt. Sie protestiert zu Recht gegen die Auffassung, dass diejenigen die größte Last bei der Anpassung an das Anthropozän tragen sollen, die am wenigsten zu den Emissionen beigetragen und die geringsten Vorteile aus 200 Jahren Industrialisierung gezogen haben.
In einer nüchternen Studie, die jüngst von der National Academy of Science der USA veröffentlicht wurde, hat ein Forscherteam versucht, die Umweltkosten der ökonomischen Globalisierung seit 1961 zu berechnen – für Entwaldung, Klimawandel, Überfischung, Zerstörung der Ozonschicht und Expansion der Landwirtschaft. Sie kommen zu dem Schluss, dass die reichsten Länder, die für 42 Prozent der Schäden verantwortlich sind, nur 3% der daraus entstehenden Kosten tragen.
Radikale Kräfte im Süden verweisen zu Recht auf eine weitere Schuld. Seit dreißig Jahren sind die Städte in den Entwicklungsländern rasant gewachsen – ohne entsprechende Investitionen in Infrastruktur, Wohnung und Gesundheit. Zu einem großen Teil war dies die Folge der Auslandsschulden der Diktatoren, der erzwungenen Zahlungen an den IWF, der Ruinierung des öffentlichen Sektors wegen der »Strukturanpassungsprogramme« der Weltbank.
Laut UNO leben derzeit mehr als eine Milliarde Menschen in Slums; ihre Anzahl soll sich bis 2030 verdoppeln. Ebenso viele oder mehr suchen ihr Auskommen im sog. informellen Sektor (ein Euphemismus der Ersten Welt für Massenerwerbslosigkeit). Beim gegenwärtigen demografischen Trend wird die städtische Weltbevölkerung in den nächsten vierzig Jahren um 3 Milliarden zunehmen (90 Prozent davon in armen Städten) – und absolut niemand hat eine Vorstellung davon, wie ein Planet von Slums mit wachsenden Nahrungsmittel- und Energiekrisen für ihr biologisches Überleben sorgen kann, geschweige für ihre unvermeidliches Streben nach Würde und elementarem Glück.
Wem dies übertrieben apokalyptisch scheint, der sollte berücksichtigen, dass die meisten Klimamodelle voraussehen, dass die Ungleichheit entschieden zunimmt. Einer der Pioniere der Ökonomie der Klimaerwärmung, William R. Cline, veröffentlichte kürzlich eine Länderstudie über die wahrscheinlichen Auswirkungen des Klimawandels auf die Landwirtschaft bis zum Ende des jetzigen Jahrhunderts. Die optimistischsten Simulationen ergeben einen Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion in Pakistan um 20 Prozent, in Nordwestindien um 30 Prozent – ebenso in einem großen Teil des Mittleren Ostens, des Maghreb, der Sahelzone, Südafrikas, der Karibik und Mexikos. Das bedeutet die Verwüstung der landwirtschaftlichen Systeme. In 29 Entwicklungsländern wird die Produktion wegen der Klimaerwärmung um 20 Prozent oder mehr zurückgehen, während die Landwirtschaft im schon reichen Norden wahrscheinlich um durchschnittlich 8 Prozent zunehmen wird.
Im Licht solcher Studien ist die rücksichtslose Konkurrenz unter den Energie- und Nahrungsmittelmärkten durch die internationale Spekulation mit Rohstoffen und Agrarland nur ein schwaches Vorzeichen für das Chaos, das sich aus dem Zusammentreffen von Ressourcenverknappung, hartnäckiger Ungleichheit und Klimawandel ergibt und bald exponentiell zunehmen kann.
Die wirkliche Gefahr ist, dass die menschliche Solidarität dabei selbst wie ein westantarktisches Eisschelf in tausend Stücke auseinanderbricht.
Zum Autor:
Mike Davis ist Autor, Historiker und Sozialist. Er lehrt am Department of History an der University of California in Irvine (USA). Zuletzt auf deutsch erschienen ist sein Buch »Planet der Slums«, Assoziation A, 248 Seiten, 20 Euro.
Zum Text:
Veröffentlichung auf marx21.de mit freundlicher Genehmigung von SoZ – Sozialistische Zeitung.
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