Das NS-Regime fand in der deutschen Bevölkerung zahllose Helfer und Mitläufer. Doch die vollkommen gleichgeschaltete Volksgemeinschaft blieb ein Traum der Nazis. Von Stefan Bornost
Sie haben die Welt in einen schrecklichen Krieg gestürzt und allein in der Sowjetunion 25 Millionen Menschen getötet. Sie haben Millionen Juden in die Gaskammern von Auschwitz und anderen Vernichtungslagern geschickt. Sie haben Kommunisten, Sinti und Roma, Homosexuelle und Menschen mit Behinderung zu Tausenden ermordet.
Doch wer waren sie? Folgt man Daniel Goldhagen, so ist die Antwort auf die Frage nach den Tätern eindeutig: »Dabei müssen wir bequeme, aber oft unangemessene und vernebelnde Etikettierungen wie >die Nazis< oder die >SS-Männer< vermeiden und sie als das bezeichnen, was sie waren, nämlich Deutsche. Der angemessenste, ja der einzig angemessene allgemeine Begriff für diejenigen Deutschen, die den Holocaust vollstreckten, lautet >Deutsche<.«
Mitte der 1990er Jahre sorgte der US-amerikanische Historiker mit seinem Buch »Hitlers willige Vollstrecker« für einigen Aufruhr in der deutschen Öffentlichkeit. Auch 15 Jahre später wirkt die von Goldhagen vertretene Kollektivschuldthese nach.
Wie war das Verhältnis »der Deutschen« zum Nationalsozialismus? Diese Frage ist zum Beispiel in dem Bündnis diskutiert worden, das jährlich zu den großen Anti-Nazi-Protesten in Dresden mobilisiert. »Deutsche Täter sind keine Opfer« war einer der zentralen Slogans der antifaschistischen Proteste der vergangenen Jahre – eine Reaktion auf die Nazis, die das Gedenken an die Opfer der Bombardierung instrumentalisieren wollten.
Von Teilen des Protestbündnisses wird diese Position noch immer vertreten. Die Argumentation geht zugespitzt so: »Die Deutschen« haben es verdient, kollektiv durch Flächenbombardements bestraft zu werden, weil sie kollektiv mitschuldig geworden sind an Weltkrieg und Völkermord – mitschuldig durch die Wahl Hitlers, durch aktives Mittun im Regime oder passive Hinnahme, mitschuldig durch das Ausbleiben eines allgemeinen Aufstands gegen das Regime. Sie sind, wie es ein Antifaschist auf einer Aktionskonferenz sagte, ein »Tätervolk«. Doch diese Argumentation ist problematisch und behindert eine erfolgreiche Mobilisierung gegen die Nazis. Zugleich ist sie wenig hilfreich bei der Analyse, wie es zum Aufstieg Hitlers kommen konnte.
Beispielsweise ist die Behauptung, »die Deutschen« hätten Hitler und seine Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) an die Macht gebracht, schlichtweg falsch. Bei keiner Wahl in der Weimarer Republik hat die NSDAP eine absolute Mehrheit der Stimmen erreichen können. Ihr bestes Ergebnis erzielte sie im Juli 1932 mit 37,4 Prozent. Bei den letzten freien Wahlen wenige Monate später musste sie bereits einen Verlust von zwei Millionen Wählerstimmen hinnehmen und kam nur noch auf 33,1 Prozent – weniger als die beiden Parteien der Arbeiterklasse, SPD und KPD, zusammen. Zudem wurde Hitler nicht zum Kanzler gewählt, sondern ihm wurde dieses Amt ohne parlamentarische Mehrheit von Reichspräsident Paul von Hindenburg übertragen.
Dass es überhaupt so weit kommen konnte, war neben dem Versagen der Führungen der Arbeiterorganisationen (SPD, KPD, Gewerkschaften) eine Folge der im Oktober 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise. Bis dahin war die NSDAP eine unbedeutende Splittergruppe. Noch bei den Reichstagswahlen 1928 kam sie auf lediglich 2,8 Prozent der Stimmen. Erst als infolge der Krise große und kleine Firmen bankrott gingen, erhebliche Teile des Mittelstands in Armut stürzten und die Zahl der Arbeitslosen auf etwa sechs Millionen anstieg, erhielt sie Zulauf.
Die Arbeitslosen und die Mittelschichten waren am härtesten von der Krise betroffen. Aus ihrem Kreis rekrutierte sich dann auch die Anhängerschaft der Nazis. Deren sowohl gegen das Großkapital als auch gegen die organisierte Arbeiterschaft gerichtete Demagogie fiel gerade bei den Mittelschichten – Handwerkern, Kleinunternehmern und mittleren Beamten – auf fruchtbaren Boden. Für die Arbeitslosen wurden die paramilitärische Sturmabteilung (SA) und andere Terrororganisationen der Nazis zum sozialen Auffangbecken. Bis zum Juli 1932 wuchs allein die Mitgliedschaft der SA auf etwa 400.000 an.
Aus den Reihen der Arbeiterklasse erhielten die Nazis hingegen kaum Unterstützung. Im Gegenteil: Von dort kam schon vor 1933 der größte Widerstand gegen die immer stärker werdende Hitler-Bewegung. Außerdem radikalisierte sich mit zunehmender Krise auch die Arbeiterschaft. Die Kommunisten wurden immer stärker. Schließlich wurden sie von knapp sechs Millionen Menschen gewählt.
Die Nazis versprachen, gegen die Arbeiterbewegung vorzugehen und die Interessen der Wirtschaft mit aller Gewalt durchzusetzen. Je radikaler die Arbeiterbewegung wurde, desto interessanter wurde Hitler für das Unternehmerlager. Der Hamburger Nazifunktionär Albert Krebs schrieb später in seinen Memoiren: »Zwar waren keineswegs alle Kapitalisten hellauf von den Nazis begeistert. Ihre Skepsis war aber nur relativ. Sie endete, je mehr klar wurde, dass nur Hitler in der Lage war, die Arbeiterbewegung restlos zu zerschlagen.«
Die Nazis waren also eine sich auf radikale Mittelschichten stützende Massenbewegung, die aufgrund ihrer außerparlamentarischen, gewaltbereiten und gegen die Linke gerichteten Straßenbewegung die Unterstützung des Kapitals erhielten. Der Antisemitismus spielte zu dieser Zeit nur eine untergeordnete Rolle. Er war zwar wesentlich, um den Kern der Nazis zusammenzuschweißen – ihre Breitenwirkung verdanken die Nazis ihm aber nicht. Der Hitler-Biograf Ian Kershaw hat auf die auf den ersten Blick erstaunliche Tatsache hingewiesen, dass antisemitische Propaganda gegenüber den Wählern vor der Machtübernahme praktisch keine Rolle spielte. Eine Untersuchung der Wahlkampfmaterialien kam zu dem Ergebnis, dass in den Jahren 1928 bis 1932 lediglich 4,8 Prozent der Nazi-Plakate Hetze gegen Juden enthielt, während knapp 45 Prozent gegen die Linke gerichtet war. In den Monaten vor den letzten freien Wahlen waren 3,4 Prozent der Überschriften des »Völkischen Beobachters« antisemitisch. Ganz anders »Der Stürmer«: Die Zeitung, die nicht für die breite Masse, sondern für den rassistischen Kern der Nazis gemacht wurde, triefte vor Antisemitismus.
Natürlich wären das Nazi-Regime mit seinen Verbrechen ohne das aktive Zutun von Hunderttausenden und das Wegsehen von Millionen Deutschen nicht möglich gewesen. Dennoch lohnt es sich, einen Blick auf die einzelnen gesellschaftlichen Kräfte zu werfen – auch hier ist das Bild komplexer als die Aussage, »die Deutschen« haben die Nazis unterstützt, nahelegt.
Nachdem Hitler an die Macht gelangt war, gingen auch andere gesellschaftliche Kräfte zu ihm über. Beispielsweise wurden die ostelbischen Junker zu einer wesentlichen Stütze des Regimes. Für sie waren die Nazis aus zwei Gründen attraktiv. Zum einen versprach Hitler, die Reichswehr auszubauen, in deren Offizierskorps die Junker außerordentlich präsent waren. Zum anderen unterstützten die Nazis die unproduktiven Landgüter der ostelbischen Großgrundbesitzer schon früh mit großzügigen Subventionen. Zwar stammten auch einige führende Köpfe des Widerstands vom 20. Juli 1944 aus Junkerkreisen. Doch sie trieb weniger die Tatsache in die Opposition, dass Hitler den Krieg begonnen hatte, als dass er drauf und dran war, ihn zu verlieren.
Das Bürgertum, ob im universitären Bereich, in der Justiz oder Administration, war vor der Machtübernahme der Nazis mehrheitlich deutschnational, also rechtskonservativ, eingestellt gewesen. Mit der Weimarer Republik hatte es sich nie recht anfreunden können. Und gerade an den Hochschulen hatte sich der radikale Antisemitismus schon lange vor 1933 durchsetzen können – also an jenen Orten, an denen die Generation ausgebildet wurde, die während der NS-Zeit und vor allem während der Kriegsjahre in die Führungspositionen von Staat und Gesellschaft aufrückte. Schon im Jahr 1921 setzte sich mit dem Deutschen Hochschulring ein Verband an den Universitäten durch, der radikal rassenantisemitisch war. Dementsprechend fanden die Nazis ab 1933 in den Reihen des Bürgertums viele treue Erfüllungsgehilfen – zumal die Entfernung von Juden aus dem Staatsdienst für viele neue Aufstiegsoptionen schuf. Vier Fünftel im Führungskorps von Sicherheitspolizei, Einsatzgruppen und Gestapostellen hatten das Abitur, zwei Drittel einen Hochschulabschluss, ein Drittel einen Doktortitel, fast ausnahmslos in Jura.
In einem Kernbereich der Nazibewegung, nämlich der von Arbeitslosen getragenen SA, kam es hingegen kurz nach der Machtergreifung zu erheblichen Spannungen. Hitler hatte die »Enteignung der Bonzen« und eine klassenlose »Volksgemeinschaft« versprochen. Doch nichts dergleichen geschah nach der Machtübernahme, das Unternehmertum bestand fort und arbeitete Hand in Hand mit den Nazis. Die daraus folgende Unruhe in der SA war wiederum den alten Eliten ein Dorn im Auge. Im Sommer 1934 forderten Reichspräsident Hindenburg und Reichswehrminister Werner von Blomberg von Hitler, »die revolutionären Unruhestifter endlich zur Räson zu bringen«, andernfalls würde der Reichspräsident das Kriegsrecht verhängen und Hitlers Experiment beenden. Der »Führer« reagierte und ließ in der »Nacht der langen Messer« die hochrangigsten SA-Führer verhaften und erschießen – die SA verschwand anschließend nahezu in der Bedeutungslosigkeit. Mit der massiven (schuldenfinanzierten) Wiederbewaffnung kam die Vollbeschäftigung – die Arbeitslosen hörten auf, eine politische Rolle zu spielen.
Bleibt die Arbeiterschaft und ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus. Hier hatten die Nazis vor 1933 die größten Probleme, vorzudringen. Lag ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung bei etwa 50 Prozent, so machten Arbeiter nur knapp 25 Prozent der Parteimitgliedschaft aus. Ein hoher Anteil davon waren Landarbeiter. Die Versuche, in die organisierte Arbeiterschaft einzudringen, scheiterten weitgehend: Von den 170.000 Betriebsräten der Weimarer Republik waren weniger als ein Prozent Mitglieder des NSDAP.
Nach ihrer Machtübernahme leiteten die Nazis unmittelbar die versprochene Zerschlagung der politischen Linken und der organisierten Arbeiterschaft in die Wege. Der deutsch-britische Historiker Francis L. Carsten geht davon aus, dass von 1933 bis 1935 mindestens 75.000 KPD-Mitglieder inhaftiert wurden. Sein Kollege Ben Fowkes setzt die Zahl sogar noch höher an. Ihm zufolge wurden insgesamt 120.000 Kommunisten verhaftet und allein 1933 schon 2500 ermordet. Es ist davon auszugehen, dass die KPD in den ersten Jahren des Regimes mehr als ein Drittel ihrer im Jahr 1932 registrierten Mitglieder verloren hat. Auch die SPD und nicht kooperationswillige Teile des Bürgertums, etwa kirchliche Kräfte, traf der nationalsozialistische Terror. Die Parteien der Arbeiterbewegung und die Gewerkschaften wurden verboten. Ihre Mitglieder wurden misshandelt und in »Schutzhaft« genommen. Überall im Reich entstanden in Turnhallen, Scheunen oder Kellern provisorische Haftorte der SA, in denen die politischen Gegner festgehalten und gefoltert wurden. Ein erstes Konzentrationslager, hauptsächlich für politische Gefangene, wurde im März 1933 in Dachau errichtet.
Ein Gestapo-Bericht vom April 1939 führt auf, dass zu diesem Zeitpunkt 163.734 Menschen aus politischen Gründen in Untersuchungshaft saßen – mehrheitlich Linke. Von 1933 bis 1945 wurden rund 40.000 Menschen wegen Widerstands gegen das Regime zum Tode verurteilt. Zusätzlich vollstreckten Militärgerichte bei 25.000 Wehrmachtssoldaten Todesurteile wegen »Defätismus«, Desertion oder »Wehrkraftzersetzung«. Vor allem aus den Reihen derjenigen, die vor 1933 in der Arbeiterbewegung organisiert waren, gab es durchgehend bis Kriegsende widerstand. Doch nahm er zu keinem Zeitpunkt Massencharakter an.
Die Arbeiterschaft, ihrer Organisationen beraubt, wurde atomisiert und zweifellos gingen viele dadurch den Weg in die Anpassung. Ebenso unzweifelhaft ist es, dass es keinen organisierten Widerstand gegen die fortschreitende Entrechtung der Juden gab – und dazu viele Arbeiter an der Plünderung jüdischen Besitzes, zum Beispiel durch öffentliche Versteigerung von Möbeln und Kleidung, partizipierten.
Doch das Ausmaß des Terrors nach innen drückt die Unsicherheit des Nazi-Regimes über den Rückhalt in der Arbeiterschaft aus. Hitler war politisch geprägt von der Novemberrevolution 1918, die er als große Katastrophe empfand. Damals hatte ein allgemeiner Aufstand von Arbeitern und Soldaten den Krieg beendet und den Kaiser gestürzt – für Hitler und das gesamte deutschnationale Milieu ein »Dolchstoß« aus der Heimat. Wie präsent dieses Ereignis der Nazi-Elite war, macht eine Rede Hitlers vor Wehrmachtsgenerälen kurz vor dem Angriff auf Frankreich im Frühsommer 1940 deutlich: »Ich werde mit dieser Schlacht stehen oder fallen. Keine Kapitulation! Keine Revolution in der Heimat!«
Um einen neuen November 1918 zu vermeiden, arbeitete das Regime mit »Zuckerbrot und Peitsche«. Die Peitsche äußerte sich in dem Terror gegen abweichende Gesinnungen. Das Zuckerbrot hingegen entsprach den Anstrengungen der Staatsführung, die Versorgungslage für die Bevölkerung nicht zu schlecht werden zu lassen. Bis 1944 blieb der durchschnittliche Lebensstandard in Deutschland höher als in Großbritannien. Nach der Eroberung Frankreichs wurde die Militärproduktion erst einmal beschränkt, um Versorgungsengpässe zu vermeiden. Zur Aufrechterhaltung der Moral zahlte das Deutsche Reich höhere Trennungsbezüge an die Frauen von Frontsoldaten (85 Prozent des vorherigen Durchschnittslohnes des Mannes) als jedes andere Land im Zweiten Weltkrieg.
Selbst unter diesen Umständen ist es dem Hitler-Regime jedoch nicht gelungen, Arbeitern die Widerständigkeit im Betrieb auszutreiben. So verstanden es die Arbeiter, die bessere Verhandlungsposition durch den eintretenden Arbeitskräftemangel – 1938 fehlten durch die massive Aufrüstung fast eine Million Arbeitskräfte – in Lohnsteigerungen umzusetzen. Bis 1938 erhöhten sich die durchschnittlichen Reallöhne gegenüber dem Wert von 1932 um 14 Prozent. Erst durch den massiven Einsatz von Frauen und Millionen Zwangsarbeitern sowie die Einberufung von Millionen Arbeitern an die Front wurde die widerständige Tradition in den Betrieben gebrochen. Bemerkenswert ist auch, dass die Nazis damit scheiterten, unmittelbar nach Beginn des Zweiten Weltkriegs ein Kriegswirtschaftsregime in den Betrieben durchsetzen. Ein Maßnahmenbündel vom September 1939, das die unbezahlte Verlängerung der Arbeitszeit und die Streichung von Urlaub vorsah, musste nach einer reichsweiten Welle von Krankfeiern und Bummelstreiks im November 1939 zurückgenommen werden – Funktionäre der Deutschen Arbeitsfront (DAF) empörten sich über »Sabotage und Arbeitsverweigerung«, konnten aber wenig tun, da sie insbesondere auf die qualifizierten Rüstungsarbeiter angewiesen waren.
Die geschilderten Vorgänge zeigen zunächst einmal nur, dass es den Arbeitern gelang, ihre ökonomischen Interessen gegenüber dem Naziregime durchzusetzen. Ausgeprägtes politisches Bewusstsein oder gar Opposition gegen die Nazis muss das nicht zwangsläufig bedeuten. Doch die Tatsache, dass es massiv Widerstand gegen die Einführung der Kriegswirtschaft gab, macht zumindest deutlich, dass sich die Identifikation der deutschen Arbeiterschaft mit dem Krieg in Grenzen hielt.
Bis zuletzt befürchtete Hitler Arbeiteraufstände und verlangte, dass ein motorisiertes Regiment, ausgerüstet mit den modernsten Waffen, immer in der Nähe der Reichskanzlei stationiert sein müsse. Gegenüber Rüstungsminister Albert Speer erklärte er wiederholt: »Nach den Erfahrungen von 1918 kann man nicht vorsichtig genug sein.«
Letztendlich kam es zu keinem Aufstand. Der Zweite Weltkrieg wurde hierzulande nicht durch eine Revolution beendet, sondern durch den Sieg der Alliierten. Mehr noch: Deutschland war eines der wenigen Länder, in denen es während des Kriegs nicht zu größeren Streiks und Gegenbewegungen kam. Die Zerschlagung der Linken, die Atomisierung der Arbeiterschaft und die Beschäftigung der Mehrheit mit dem täglichen Überlebenskampf in den zerbombten Städten waren dafür maßgeblich verantwortlich. Hinzu kam eine weit verbreitete Angst vor dem, was nach der Niederlage des Naziregimes kommen würde. Durch die Heimkehrer von der Ostfront war vielen bekannt, wie barbarisch die Wehrmacht dort gewütet hatte. Sie befürchteten im Falle der militärischen Niederlage furchtbare Rache durch die sowjetischen Truppen. Nazifunktionäre nahmen diese Ängste mit dem zynischen Spruch auf: »Genießt den Krieg, der Frieden wird schrecklich.«
Das bis hierhin Beschriebene macht deutlich, dass nicht »die Deutschen« als Kollektiv Hitler an die Macht gebracht und unterstützt haben. Vielmehr verhielten sich unterschiedliche Gesellschaftsgruppen sehr unterschiedlich gegenüber den Nazis. Zugleich existierten auch innerhalb dieser Schichten verschiedene Ansichten im Bezug auf das Regime.
»Den Deutschen« die Schuld am Naziregime zu geben, ist daher in dieser Vereinfachung falsch. Nationen sind konstruierte Gemeinschaften. Zu Recht haben Linke stets darauf hingewiesen und sich geweigert, Menschen unter dieser Kategorie zusammenzufassen. Genauso wie wir es ablehnen, von »den Amerikanern« oder »den Muslimen« zu sprechen, kritisieren wir Schlagzeilen wie »Wir sind Papst« oder »Unsere Jungs gewinnen die WM«, weil sie soziale Unterschiede innerhalb eines Landes überdecken sollen. Nationalismus bleibt Nationalismus, auch unter umgekehrten Vorzeichen. Ob »den Deutschen« jetzt besonderer Heldenmut oder Hang zum Völkermord als inhärente Eigenschaft angedichtet wird – die Logik bleibt dieselbe. Mit der Verwendung des Slogans »Deutsche Täter sind keine Opfer« begibt sich die Linke ins Fahrwasser der Kollektivschuldthese – und damit einer Konstruktion, die letztendlich der Entlastung der Verantwortlichen für die Verbrechen der Nazizeit dient. Die Kollektivschuldthese ist ein Kind des heraufziehenden Kalten Kriegs. Noch in den Nürnberger Prozessen galt das Prinzip der individuellen Verantwortlichkeit – Persönlichkeiten aus Politik, Militär und, im geringeren Maße, aus der Wirtschaft wurden gemäß ihrer Funktion in der Nazi-Mordmaschinerie verurteilt.
Mit Beginn der Blockkonfrontation wurde dieses Vorgehen fallengelassen. In großem Stil integrierten die Westalliierten die Funktionseliten der Nazis, allesamt ausgewiesene Antikommunisten, in den westdeutschen Staatsapparat. Als Beispiel die Bundeswehr: Ende der 1950er Jahre lag die Zahl der ehemaligen Wehrmachtsoffiziere in der neugegründeten Bundeswehr bei mehr als 12.000, darunter 40 Wehrmachtsgeneräle, hinzu kamen rund 300 ehemalige Offiziere der Waffen-SS. Ein ähnliches Bild bot sich in Justiz und Verwaltung. Um diesen Übergang zu organisieren, wurde von der Frage der individuellen Verantwortung Abschied genommen. Die Schuld des Einzelnen wurde aufgelöst in das Kollektiv »die Deutschen«. Wenn der Kriegsindustrielle und Wehrmachtsgeneral genauso viel oder wenig Schuld trägt wie der Bäckerlehrling, dann konnten auch sie problemlos in Westdeutschland integriert werden.
Auf dieser Grundlage wurden auch bereits abgeurteilte Naziverbrecher rehabilitiert – zum Beispiel der Großindustrielle Alfred Krupp von Bohlen und Halbach. Dieser war 1948 wegen Sklavenarbeit (Einsatz von Zwangsarbeitern) und Plünderung von Wirtschaftsgütern im besetzten Ausland zu zwölf Jahren Haft und der Einziehung seines gesamten Vermögens verurteilt worden. Doch schon 1951 begnadigte ihn der US-amerikanische Hohe Kommissar John Jay McCloy. Er wurde aus dem Kriegsverbrechergefängnis Landsberg entlassen, erhielt 1953 sein Vermögen zurück und übernahm kurz darauf wieder die Leitung der Krupp AG.
Die »Kollektivschuldthese« liefert letztendlich wenig Erklärung für den Aufstieg Hitlers und die innere Dynamik des NS-Regimes. Stattdessen öffnet sie dem Geschichtsrevisionismus Tür und Tor. Die Verantwortung für die Naziherrschaft wird einfach an das große Kollektiv »die Deutschen« abgegeben. Aber wenn alle ein bisschen schuld sind, ist es niemand mehr so richtig. Das war und ist sehr bequem für die Funktionseliten der NS-Bürokratie, für willfährige Wehrmachtsgeneräle und vor allem für die Unternehmer, die Hitler finanziert und von Krieg, Enteignung und Sklavenarbeit profitiert haben.
Zum Autor:
Stefan Bornost ist leitender Redakteur von marx21.
Im Internet:
- Am 19.2. Neonazis in Dresden stoppen: Im vergangenen Jahr konnte der Aufmarsch von 6000 Neonazis in Dresden durch Blockaden verhindert werden. Auch dieses Jahr soll der geplante braune Aufmarsch am 19. Februar 2011 durch Massenprotest unmöglich gemacht werden. Macht mit, fahre nach Dresden, gemeinsam stoppen wir die Nazis!
- Mobilisierungskampagne »Bring 2«: Die Idee ist einfach: Alle, die im letzten Jahr den Naziaufmarsch verhindert haben, kommen wieder und jeder bringt noch zwei Freunde mit. Zum Erfolg der Kampagne kann jede und jeder beitragen «Bring 2« ruft dazu auf: »Beteiligt euch an der Mobilisierung, dreht Videos und macht Fotos für bringzwei.com