Das größte Hindernis für den Frieden in Nahost ist die als realistisch bezeichnete Lösung der Schaffung zweier getrennter Staaten, schreibt Slavoj Žižek in seinem Beitrag für das Magazin »New Statesman«.
In Israel gibt es eine wachsende Zahl Initiativen von offiziellen Körperschaften und Rabbis bis zu privaten Organisationen und Gruppen von Ortsansässigen, die gemischte Beziehungen und Ehen zu unterbinden suchen. In Ostjerusalem patrouillieren Bürgerwehren auf den Straßen, um arabische Männer daran zu hindern, mit jüdischen Mädchen des Orts Kontakt aufzunehmen. Vor zwei Jahren richtete die Stadt Petah Tikwa eine Hotline ein, bei der Eltern und Freunde jüdische Frauen melden können, die Umgang mit arabischen Männern haben. Diese Frauen werden dann als krank eingestuft und zum Psychologen geschickt.
Im Jahr 2008 entwickelte die im Süden gelegene Stadt Kirjat Gat ein Programm für ihre Schulen, mit dem jüdische Mädchen vor der Gefahr gewarnt wurden, sich mit männlichen Beduinen einzulassen. Den Mädchen wurde ein Video mit dem Titel »Mit dem Feind schlafen« gezeigt, in dem gemischte Paare als »unnatürliche Erscheinung« bezeichnet wurden. Rabbi Schmuel Elijahu sagte einmal einer lokalen Zeitung, die »Verführung« jüdischer Mädchen sei »eine andere Form des Kriegs«, und eine religiöse Organisation namens Jad L‘Achim führt in Zusammenarbeit mit Polizei und Armee die »Rettung« von Frauen aus »feindlichen« arabischen Ortschaften im militärischen Stil durch. Im Jahr 2009 wurden israelische Juden bei einem später zurückgezogenen staatlich geförderten Werbefeldzug im Fernsehen aufgefordert, Verwandte im Ausland zu melden, die die Absicht hatten, Nichtjuden zu heiraten.
Kein Wunder, dass laut einer Umfrage von 2007 über die Hälfte der israelischen Juden glaubte, gemischte Ehen sollten mit »Landesverrat« gleichgesetzt werden. Zur Krönung gestattete Rabbi Ari Schwat, Experte für jüdisches Recht, im vergangenen Jahr eine Ausnahme: Jüdische Frauen dürfen mit Arabern schlafen, um Informationen über israelfeindliche Aktivitäten zu sammeln, allerdings sollten für diesen Zweck eher unverheiratete Frauen eingesetzt werden.
Zuallererst fällt hier die Geschlechterasymmetrie auf: Die Hüter der jüdischen Reinheit sorgen sich um jüdische Mädchen, die von palästinensischen Männern verführt werden. Der Leiter der kommunalen Wohlfahrt von Kirjat Gat sagte: »Die Mädchen gehen in all ihrer Unschuld mit den ausbeuterischen Arabern.« Besonders deprimierend sind diese Kampagnen, weil sie in einer Zeit relativen Friedens aufblühen, zumindest im Westjordanland. Alle, die an Frieden interessiert sind, sollten es begrüßen, wenn es zu Kontakten zwischen der palästinensischen und der jüdischen Jugend kommt, weil das zur Entspannung und zu einem gemeinsam geteilten Alltag führt.
Bis vor Kurzem wurden immer wieder terroristische Angriffe auf Israel verübt, und liberale, friedensliebende Juden wiederholten das Mantra von der Anerkennung des Unrechts der Besetzung des Westjordanlands, andererseits aber müssten die Bombenattentate aufhören, ehe wirkliche Verhandlungen aufgenommen werden könnten. Jetzt, da die Angriffe zahlenmäßig erheblich zurückgegangen sind, hat der Terror im Westjordanland eine beständige, niedrigschwellige Gestalt angenommen mit Wasservergiftungen, Ernteverbrennungen und Brandanschlägen auf Moscheen. Sollen wir die Schlussfolgerung ziehen, dass Gewalt nicht funktioniert, der Verzicht auf Gewalt aber noch weniger?
Wenn es eine Lehre aus den langwierigen Verhandlungen zu ziehen gibt, dann die, dass das größte Hindernis für den Frieden die als realistisch bezeichnete Lösung der Schaffung zweier getrennter Staaten ist. Obwohl keine Seite das will (Israel würde vermutlich gerne sehen, wenn die Gebiete des Westjordanlands, die es schon abzutreten bereit ist, Teil Jordaniens werden, während die Palästinenser das Land, das seit 1967 an Israel gefallen ist, als ihres betrachten), wird die Errichtung zweier Staaten irgendwie für die einzig machbare Lösung gehalten, eine Position, die durch die peinliche Veröffentlichung geheimer palästinensischer Verhandlungsdokumente im Januar unterstrichen wird.
Beide Seiten schließen dagegen als unerreichbaren Traum die einfachste und offensichtlichste Lösung aus: einen binationalen säkularen Staat bestehend aus ganz Israel einschließlich der besetzten Gebiete und Gaza. Viele werden das als utopischen Traum zurückweisen, der sich durch die Geschichte von Hass und Gewalt bereits diskreditiert hat. Aber statt eine Utopie zu sein, ist der binationale Staat schon Realität: Israel und das Westjordanland sind ein Staat. Das gesamte Territorium untersteht faktisch der Kontrolle der souveränen Macht Israel und wird durch innere Grenzen zerschnitten. Also lasst uns die bestehende Apartheid beseitigen und dieses Land in einen säkularen und demokratischen Staat verwandeln.
Den Glauben verloren
All das bedeutet nicht, Sympathie für terroristische Akte zu hegen. Stattdessen bietet es die einzige Grundlage, von der aus Terrorismus ohne Heuchelei verurteilt werden kann. Ich bin mir des großen Leidens, dem Juden seit tausenden Jahren ausgesetzt sind, sehr bewusst. Traurig stimmt dabei jedoch die Tatsache, dass viele Israelis anscheinend alles dafür tun, die einzigartige jüdische Nation in eine Nation wie alle anderen zu verwandeln.
Vor einem Jahrhundert erkannte der Schriftsteller G. K. Chesterton das grundlegende Paradox, vor dem Religionskritiker stehen: »Menschen, die im Namen der Freiheit und Menschlichkeit die Kirche bekämpfen, werfen am Ende Freiheit und Menschlichkeit fort, solange sie nur die Kirche bekämpfen können … Säkularisten bringen nicht die Idee vom Göttlichen zum Verschwinden, sondern zerstören vielmehr das Säkulare, falls ihnen das ein Trost sein kann.« Gilt dasselbe nicht für die Verteidiger der Religion? Wie viele Verteidiger der Religion begannen mit dem Angriff auf die zeitgenössische säkulare Kultur und endeten bei der Aufgabe jeglicher sinnvoller religiöser Erfahrung?
Ebenso sind viele liberale Krieger so begierig darauf, den demokratiefeindlichen Fundamentalismus zu bekämpfen, dass sie Freiheit und Demokratie wegwerfen, solange es gegen den Terrorismus geht. Einige lieben die menschliche Würde so sehr, dass sie Folter legalisieren, die ultimative Erniedrigung der menschlichen Würde, um eben diese zu verteidigen. Und was die israelischen Hüter der jüdischen Reinheit angeht: Sie wollen sie so sehr beschützen, dass sie bereit sind, eben den Kern ihrer jüdischen Identität aufzugeben.
Zum Text:
Der Artikel erschien zuerst auf Deutsch bei znet. Übersetzung ins Deutsche von Rosemarie Nünning. Englische Version auf der Homepage des Magazins »New Statesman«.