In der Serie »Was will marx21?« werden die politischen Grundlagen des marx21-Netzwerks vorgestellt. Teil 1: »Sozialismus von unten«
Der Spiegel-Redakteur war entsetzt: »Für die meisten Deutschen ist ein Leben im Sozialismus offenbar keine Schreckensvorstellung.« Anlass zur Empörung war eine Emnid-Umfrage. Demnach könnten sich 80 Prozent der Ostdeutschen und 72 Prozent der Westdeutschen ein Dasein in einem sozialistischen Staat vorstellen, solange für Arbeitsplätze, Solidarität und Sicherheit gesorgt wäre.
Diese Umfrageergebnisse sind erstaunlich, wenn man betrachtet, was in der Vergangenheit unter dem Label »Sozialismus« verkehrte. Da ist auf der einen Seite der bis heute im SPD-Programm verankerte »Demokratische Sozialismus« – ein Sozialismus, der offensichtlich voll kompatibel mit Hartz IV, der Rente mit 67 und Bundeswehreinsätzen in aller Welt ist. Und da war auf der anderen Seite der gescheiterte »Sozialismus« der Parteidiktaturen in den Ostblockstaaten.
Trotz dieser Erfahrungen ist, sicher auch angesichts der Verheerungen der Wirtschaftskrise, die Idee einer solidarischen Gesellschaft nicht totzukriegen. Es gibt eine Zukunft – nicht für die gescheiterten Sozialismen von SPD und Ostblock, aber durchaus für eine Tradition, die Angesichts der Dominanz von Sozialdemokratie und Stalinismus Jahrzehnte lang ein Schattendasein fristete: der »Sozialismus von unten«.
Das Urheberrecht für den Begriff »Sozialismus von unten« gebührt dem amerikanischen Marxisten Hal Draper. Ende der 1950er Jahre schrieb er einen Aufsatz unter dem Titel »Die zwei Seelen des Sozialismus«. Dieser Text hatte eine einfache Botschaft: Das Wort Sozialismus hat zwei völlig gegensätzliche Bedeutungen.
Die eine bezeichnete er als »Sozialismus von oben«. Das bedeutete für ihn: Wir versuchen, die Welt zu verändern, indem wir unser Schicksal in die Hände einer weisen und wohlwollenden Führung legen. Sie wird die richtigen Entscheidungen treffen, und wir werden ihre Beschlüsse ausführen und ihre Weisheit bewundern.
Diese Vorstellung vom Sozialismus ist geprägt von dem Gefühl der Ohnmacht, das einige tausend Jahre Klassenherrschaft geschaffen haben. Sie ist elitär und bürokratisch. In Drapers eigenen Worten: »Es ist das immerwährende Versprechen, das jede herrschende Macht abgibt, um die Leute bei den Oberen nach Schutz suchen zu lassen, anstatt bei sich selbst nach Befreiung. Es hat den unschätzbaren Vorteil, den sicheren Weg darzustellen anstelle des Weges der Kühnheit. Den vorsichtigen Weg anstelle des Weges der Aktion. Keine Freiheitsbewegung ist jemals in Gang gekommen, bevor sie nicht diese Haltung überwunden hatte.«
Dies gilt bis heute für den sozialdemokratischen Sozialismus, dessen Prinzip ist: »Wählt uns und lasst euch in eine bessere Zukunft führen«. Eine andere Spielart des »Sozialismus von oben« haben wir im Ostblock gesehen: Die kommunistischen Parteien agierten stellvertretend für die Arbeiter und zunehmend im Gegensatz zu ihnen. Letztendlich wurden sie genau von jenen gestürzt, die sie zu vertreten vorgaben.
Das Gegenstück dazu ist für Draper der »Sozialismus von unten«. Er wächst aus den Kämpfen der Unterdrückten und Ausgebeuteten. Dessen Motto ist der erste Satz aus den Statuten der Arbeiter-Internationale von 1864, »dass die Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden muss«.
Ein wesentlicher Grund: Die gemeinsame solidarische Aktivität verändert das Bewusstsein der Menschen. Karl Marx formulierte, »dass sowohl zur massenhaften Erzeugung [eines] kommunistischen Bewusstseins wie zur Durchsetzung der Sache selbst eine massenhafte Veränderung der Menschen notwendig ist, die nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann; dass also eine Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andre Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden.« Nur die Bewegung der Mehrheit im Interesse der Mehrheit kann eine andere Welt schaffen – im Gegensatz zu anderen Umwälzungen wie den bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts, die nur eine Minderheit durch eine neue Minderheit ersetzten.
Befreiung kann also nicht stellvertretend für die Menschen erreicht werden. Eugene Debs, Arbeiteraktivist aus den USA, brachte das schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf den Punkt: »Zu lange haben die Arbeiter der Welt auf irgendeinen Moses gewartet, sie aus der Knechtschaft zu führen. Er ist nicht gekommen; er wird niemals kommen. Ich würde euch nicht hinausführen, wenn ich es könnte; denn wenn ihr hinauszuführen wäret, könntet ihr auch wieder zurückgeführt werden. Ich möchte, dass ihr begreift, dass es nichts gibt, das ihr nicht für euch selbst tun könntet.« Dementsprechend lautet eine Strophe der »Internationale«, dem berühmten Lied der Arbeiterbewegung: »Es rettet uns kein höh'res Wesen, / kein Gott, kein Kaiser noch Tribun / Uns aus dem Elend zu erlösen / können wir nur selber tun!«
Die Erfahrung revolutionärer Bewegungen im 20. Jahrhundert bestätigt diese Annahmen – Emanzipation durch und in Massenbewegungen ist möglich. Eine anrührende Beschreibung dieses Prozesses gelang Georg Orwell in seinem Buch »Mein Katalonien«. Ende 1936 kam Orwell als Reporter einer britischen Zeitung nach Barcelona, um über den Spanischen Bürgerkrieg zu berichten. Mitgerissen von der Revolution, schloss er sich der Miliz der kleinen Partido Obrero de Unificación Marxista (Arbeiterpartei der marxistischen Einigung, POUM) an und kämpfte in dieser an der Front gegen die Faschisten. Er schreibt: »Wenn man aber gerade aus England kam, hatte der Anblick von Barcelona etwas Überraschendes und Überwältigendes. Zum ersten Mal war ich in einer Stadt, in der die arbeitende Klasse im Sattel saß. Jeder Laden und jedes Café trugen eine Inschrift, dass sie kollektiviert worden seien. Man hatte sogar die Schuhputzer kollektiviert und ihre Kästen rot und schwarz gestrichen. Kellner und Ladenaufseher schauten jedem aufrecht ins Gesicht und behandelten ihn als ebenbürtig. Unterwürfige, ja auch förmliche Redewendungen waren vorübergehend verschwunden. Niemand sagte ›Senor‹ oder ›Don‹ oder sogar ›Usted‹. Man sprach einander mit ›Kamerad‹ und ›du‹ an und sagte ›Salud!‹ statt ›Buenos dias'.
Trinkgelder waren schon seit Primo de Riveras Zeiten (Militärdiktatur 1923-1930, Anm. d. Red.) verboten. Eins meiner allerersten Erlebnisse war eine Strafpredigt, die mir ein Hotelmanager hielt, als ich versuchte, dem Liftboy ein Trinkgeld zu geben. Private Autos gab es nicht mehr, sie waren alle requiriert worden. Sämtliche Straßenbahnen, Taxis und die meisten anderen Transportmittel hatte man rot und schwarz angestrichen. Überall leuchteten revolutionäre Plakate in hellem Rot und Blau von den Wänden, so dass die vereinzelt übrig gebliebenen Reklamen daneben wie Lehmkleckse aussahen. Auf der Rambla, der breiten Hauptstraße der Stadt, in der große Menschenmengen ständig auf und ab strömten, röhrten tagsüber und bis spät in die Nacht Lautsprecher revolutionäre Lieder. All das war seltsam und rührend. Es gab vieles, was ich nicht verstand. In gewisser Hinsicht gefiel es mir sogar nicht. Aber ich erkannte sofort die Situation, für die zu kämpfen sich lohnte.
Man hatte das Gefühl, plötzlich in einer Ära der Gleichheit und Freiheit aufgetaucht zu sein. Menschliche Wesen versuchten, sich wie menschliche Wesen zu benehmen und nicht wie ein Rädchen in der kapitalistischen Maschine. In den Friseurläden hingen Anschläge der Anarchisten, in denen ernsthaft erklärt wurde, die Friseure seien nun keine Sklaven mehr. Farbige Plakate in den Straßen forderten die Prostituierten auf, sich von der Prostitution abzuwenden.«
In solchen Bewegungen stellt sich schnell die Frage der Selbstorganisation – und wird von den Menschen selbst beantwortet. So zum Beispiel während der »Biennio rosso«, der »zwei roten Jahren« Anfang der 1920er in Italien. Zu dieser Zeit begannen Arbeiter im ganzen Land mit spontanen Hungerrevolten, Streiks, Landbesetzungen, Demonstrationen und Straßenschlachten mit der Polizei. Um ihre Streiks zu organisieren und auszuweiten, bildeten die Arbeiter Fabrikkomitees. 1920 erreichte die Bewegung ihren Höhepunkt. Im April jenes Jahres streikten in Turin eine halbe Million Menschen, weil die Bosse mit Unterstützung der Regierung versuchten, die Fabrikkomitees aufzulösen. Im Sommer gingen die Metallarbeiter im ganzen Land in den Ausstand, weil die Unternehmer Lohnerhöhungen verweigerten. Die Bosse sperrten die Arbeiter aus. Wenige Tage später besetzten zunächst 400.000, dann eine Million Arbeiter ihre Fabriken. Den Metallern schlossen sich Arbeiter benachbarter Gaswerke und chemischer Betriebe an.
In einigen Städten wählten die streikenden Arbeiter Räte, die neben den Streiks die Verwaltung der gesamten Stadt übernahmen. Die Räte stellten auch bewaffnete Gruppen von Arbeitern zusammen, die verhinderten, dass die Polizei die Streikenden niederschoss. In einigen Fabriken wurde die Produktion wieder aufgenommen, um die Streikenden zu versorgen. Die Eisenbahnergewerkschaft organisierte die Anlieferung des notwendigen Materials.
Letztendlich endeten all diese Bewegungen aus unterschiedlichen Gründen in Niederlagen. Sowohl in Spanien als auch in Italien wurden sie von den Faschisten besiegt. Doch liefern sie ein anschauliches Bild dafür, wie schnell sich Gesellschaften verändern und wie Menschen ihre Geschicke selbst in die Hände nehmen können.
Nur nette Geschichten aus der sozialistischen Antike? Anscheinend nicht. Lateinamerika ist seit dem Jahr 2000 Schauplatz großer Bewegungen, ob in Argentinien, Venezuela oder Bolivien. Auch hier dasselbe Phänomen: »Assembleas« (Versammlungen) brachten die Beteiligten zu Diskussionen und Entscheidungen zusammen. Noch immer gibt es in vielen vom Staat vernachlässigten Vierteln Nachbarschaftsassambleas, die praktische Selbsthilfe organisieren. Der »Sozialismus von unten« ist also kein frommer Wunsch von marx21, sondern entwickelt sich aus der Praxis von sozialen Bewegungen.
Buchtipps:
- Hal Draper: »Die zwei Seelen des Sozialismus«
- Chris Harman: »Das ist Marxismus«, 88 Seiten, 3 Euro. Bestellbar bei edition.aurora[ät]yahoo.de
- Alex Callinicos: »Die revolutionären Ideen von Karl Marx«, 264 Seiten, 14,80 Euro. Bestellbar bei edition.aurora[ät]yahoo.de