In der Nacht zu Montag brach im Nordlondoner Stadtviertel Tottenham Wut auf die Polizei aus, nachdem diese den Schwarzen Mark Duggan getötet hatte. Judith Orr berichtet aus London
Rund 200 Familienmitglieder und Freunde Duggans marschierten am Abend von dem Wohnblock Broadwater Farm zur Polizeistation von Tottenham, um gegen Marks Tod zu protestieren. Er war am Donnerstagabend erschossen worden. Ganze Familien mit Kleinkindern waren unterwegs, einige mit selbst gefertigten Plakaten. Sie riefen: »Keine Gerechtigkeit, kein Friede!« Als sie sich auf den Stufen des Polizeireviers versammelten, wurde ihnen versprochen, dass ein höherer Polizeibeamter sich ihren Fragen stellen werde. Das passierte aber nicht. Innerhalb weniger Stunden schlug die Wut in Gewalt um. Polizeiautos, etliche Läden und ein Bus gingen in Flammen auf. Um 2 Uhr morgens war Nordlondon von riesigen dunkelroten Rauchwolken eingehüllt.
Mehrere hundert Menschen gingen auf die Straße. Sie waren ein Spiegel der Bevölkerung: Jedes Alter war vertreten, Schwarze wie Weiße, Asiaten und viele chassidische Juden waren gekommen. Eine Teenagerin, die ein Freund von Mark gewesen war, sagte zu mir: »Alle hier kannten Mark, er hat vier Kinder. Er war 29 Jahre alt. Er war kein Jugendlicher. Er wurde am Ende meiner Straße erschossen. Die Polizei hat doch angeblich eine Ausbildung, sie sollten in der Lage sein, jemand zu kontrollieren, ohne ihn umzubringen. Warum haben sie ihm ins Gesicht geschossen? Er hatte keine Chance. Das ist Rassismus. Ich bin viele Male von der Polizei angehalten worden. Nur weil ich eine Kapuze trage. Die Polizei behandelt uns nicht mit Respekt. Jetzt erleben sie die Folgen, weil sie uns so behandeln. Das ist nicht das Ende. Sie bringen weiter Leute um. Als ich gesehen habe, dass diese Nacht auch jüdische Menschen rauskamen, war ich glücklich. Ich dachte: »Nicht nur wir!« Sie gaben uns Brot. Es waren nicht nur Jugendliche heute Nacht, alle waren da.«
Eine Gruppe junger Männer beobachtete uns von der anderen Straßenecke. Einer sagte mir: »Die Polizei hat gesagt, dass Mark Duggan das Feuer auf sie eröffnet hat. Aber sie haben keinen Beweis dafür. Du kannst der Polizei nicht glauben!« In der Nacht war es zu einer stundenlangen Pattsituation gekommen, als eine Reihe Bereitschaftspolizisten Tottenham High Road abriegelten, um zu verhindern, dass sich weitere Menschen dem Aufstand anschließen. Als Verstärkung mit ihren Wannen durch die Menge fuhr, wurden sie mit Steinen und anderen Gegenständen beworfen.
In Tottenham war es schon im Jahr 1985 zu einem Massenaufstand gekommen, als die Anwohnerin Cynthia Jarrett, Mutter zweier Kinder, bei einer Razzia auf ihr Haus ums Leben kam. Das geschah nur wenige Tage nachdem die Polizei mit Cherry Groce eine weitere schwarze Frau im Südlondoner Brixton erschossen hatte. Weyman Bennett, der mehrere Jahre in diesem Viertel gewohnt hat, sprach mit mir, während die Menge die Polizei abwehrte. »Die Stimmung ist wie in den 1980er Jahren«, sagte er. »Es gibt eine tief gehende Verbitterung über den Rassismus der Polizei und über die Schikanen der Polizei mit ihren »Stop and search«-Aktionen – dem Anhalten und Durchsuchen vor allem von Schwarzen.
»Außerdem gibt es wegen den von der konservativen Regierung vorgenommen Kürzungen kaum noch Jugendzentren und Hilfsdienste. Jugendliche haben keine Chance mehr. Die Arbeitslosigkeit ist gestiegen. Die Leute haben das Gefühl, dass sie keine Zukunft haben. Du kannst an dem, was geplündert wird, erkennen, woran es den Leuten mangelt: Ich habe Leute mit dicken Paketen Toilettenpapier und Wegwerfwindeln wegrennen sehen.«
Jody McIntyre, der bei den Studierendenprotesten im vergangenen Jahr von der Polizei aus seinem Rollstuhl gezerrt worden war, und der ebenfalls nachts in Tottenham war, sagte: »Ich kann verstehen, warum so viele Leute auf die Straße gekommen sind. Wenn die Polizei jemanden erschießt, reagieren die Menschen darauf. Ich weiß nicht genau, was passiert ist, als der Mann erschossen wurde, aber ich weiß, dass ein Polizeibeamter verletzt wurde und ein Mann erschossen wurde. Wäre es andersherum gewesen, säße der Mann schon im Knast. Wir müssen die Polizei überwachen. Wir müssen sie jedes Mal, wenn sie uns angreifen, zur Rechenschaft ziehen!«
Zum Text:
Der Artikel erschien zuerst auf Englisch bei der Wochenzeitung Socialist Worker. Aus dem Englischen Rosemarie Nünning.