Nach den erfolgreichen Umstürzen in Tunesien und Ägypten erreichte die arabische Revolution schnell Libyen. Dort dauern die Kämpfe nun schon Wochen an. Paul Grasse beantwortet die 10 wichtigsten Fragen zum Hintergrund von Muammar el Gaddafis Regime
1. Wie kam Gaddafi an die Macht?
Muammar el Gaddafi kam 1969 in einem Putsch gegen die Herrschaft des libyschen Königs Idris as Sanussi an die Macht. Sanussi selbst hatte nach dem Ende des UN-Protektorats 1951 die Macht im Staate übernommen. Der Staatsstreich Gaddafis war inspiriert von dem ägyptischen Präsidenten Gamal abd el Nasser, der 1952 mit seiner »Bewegung der freien Offiziere« in Ägypten die Macht übernommen hatte und wegen seiner Versuche zur Einigung der arabischen Staaten und zur Verstaatlichung des Suez-Kanals sehr populär auf der arabischen Straße war.
Gaddafi hat sich in den ersten Jahren seiner Herrschaft mit dem Westen angelegt. Nach 1969 verstaatlichte Gaddafi die Ölunternehmen und begann, die Lizenzen neu zu vergeben. Dabei sicherte er dem Staat stets einen Großteil der Gewinne und stellte als erstes arabisches Land die Allmacht der bis dahin beherrschenden sieben größten Mineralölkonzerne, der sogenannten »Seven Sisters«, in Frage.
2. Wie leben die Libyer?
Trotz einer sehr geringen Industrialisierung erlaubte das Öl Gaddafi, soziale Wohltaten zu verteilen. Dank Libyens Ölreichtum hat das Land das höchste Pro-Kopf-Einkommen afrikanischer Staaten, ungefähr dem Portugals entsprechend. Die Einkommensverteilung unter den Einwohnern Libyens ist unklar, aber angesichts der Tatsache, dass sich Gaddafis Vermögen auf mehr als 70 Milliarden Euro beläuft, kann man sich vorstellen, dass ein großer Teil des Geldes von ihm und seiner Clique abgeschöpft wird. Immerhin erhält die Bevölkerung kostenlose Alters- und Krankenversorgung.
Allerdings herrscht eine Arbeitslosigkeit von ungefähr 30 Prozent unter der zu 85 Prozent in Städten lebenden Bevölkerung. Jeder Dritte lebt unterhalb der Armutsgrenze. Streiks sind in Libyen verboten, soziale und politische Opposition wurde immer brutal unterdrückt. Beispielsweise ließ das Regime 1996 1200 Gefangene erschießen, die gegen die Gefängnisverwaltung rebelliert hatten. Die meist ausländischen Unternehmen, die Großprojekte wie den Bau einer Eisenbahnlinie, die ganz Libyen durchqueren soll, oder den »Great Man-made River« (das größte Wasserversorgungsprojekt der Welt) verwirklichen, bringen ihre eigenen Arbeitskräfte mit, so dass es bis zum Ausbruch der Unruhen mehr als eine Million Gastarbeiter im Land gab.
3. Wie wichtig das libysche Öl?
Öl ist der zentrale Rohstoff Libyens: Das Land hat kaum eigenes Wasser und nur 2 Prozent der Fläche sind landwirtschaftlich nutzbar, 85 Prozent sind Wüste. Die ungleiche Verteilung der Ressourcen unter den arabischen Staaten ist das Ergebnis kolonialer Grenzziehungen, die ein Zusammengehen der Staaten der Region aktiv verhindern. Ohne Öl wäre Libyen vermutlich auf der politischen Landkarte des Westens kaum zu finden. In dem Land mit den größten Ölvorkommen Afrikas machen die Einnahmen aus der Ausbeutung des Öls mit 46 Milliarden Euro pro Jahr rund 60 Prozent der gesamten staatlichen Einnahmen aus.
Nach dem Ende der Herrschaft der »Seven Sisters« nach 1969 wuchs die Bedeutung libyschen Öls vor allem für Europa stetig an. 85 Prozent der bis zum Einbruch der Produktion vor wenigen Wochen täglich geförderten 1,6 Millionen Barrel gingen an den europäischen Kontinent. Auch libysches Gas wird immer wichtiger: Allein Italien bekommt über eine Pipeline jährlich 8 Milliarden Kubikmeter Erdgas aus Libyen.
4. Welche Rolle spielt der Islam für Gaddafi?
Als Gaddafi 1969 an die Macht kam, hatte der Panarabismus Nassers durch den israelischen Sieg über die arabischen Armeen im Sechstagekrieg 1967 bereits seine entscheidende Niederlage erlitten. Seit den 70er Jahren benutzt Gaddafi statt panarabischer mehr und mehr religiöse Rhetorik, um seine Macht zu legitimieren.
So stellte er in den 80er Jahren eine islamische Legion auf. Einer seiner Söhne trägt den Beinamen arabisches Schwert, der andere aber heißt Saif al Islam – Schwert des Islam. Der Austritt aus dem Islam wird mit dem Verlust der Staatsbürgerschaft geahndet. Als Symbol der »Arabisierung« wurde die größte Kathedrale in Tripolis in eine Moschee umgewandelt. Ehebruch ist ebenso wie Homosexualität strafbar.
Diese Handlungen stehen im Widerspruch zu Gaddafis Rolle als treuer Partner des Westens im »Krieg gegen den Terror«: Seit 1999 erkaufte Gaddafi sich Schritt für Schritt die Aufhebung der wegen des Anschlags von Lockerbie 1988 verhängten UN-Sanktionen. Nach dem 11. September 2001 verteidigte er das Recht der USA auf Selbstverteidigung, eine Legitimation der Kriege gegen den Irak und Afghanistan. Als Belohnung für seine Unterwürfigkeit wird Libyen seit 2006 nicht mehr von den USA als Terrorstaat gelistet und wurde mit der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen beehrt. Gaddafi wurde ein treuer Partner im Kampf gegen das Phantom Al-Qaeda und gegen palästinensische Gruppen, die sich dem Ausverkauf palästinensischer Rechte und Ressourcen 1994 im sogenannten Oslo-Prozess nicht unterwerfen wollten. Damit sicherte er sich auch israelische Unterstützung zu.
5. Was bedeutet die Zusammenarbeit von Gaddafi mit der EU für afrikanische Flüchtlinge?
Libyen kooperiert mit dem Programm der EU-Flüchtlingsbekämpfung FRONTEX. Dafür sagte die EU dem Land im vergangenen Jahr 50 Millionen Euro zu. Die Kooperation schließt das Beschießen und Versenken von Flüchtlingsbooten ein. In den Flüchtlingslagern in der libyschen Wüste werden die Migranten auf engstem Raum eingesperrt, misshandelt oder gar ermordet. Der Bau solcher Lager wurde 2004 vom damaligen Innenminister Otto Schily (SPD) gefordert. Viele Flüchtlinge werden auch mitten in der Wüste ausgesetzt, was einem Todesurteil gleichkommt. Die Bundesregierung assistiert dem Regime in vielfältiger Weise: 2005 kam heraus, dass eine Security-Firma von deutschen Ex-Polizisten und GSG-9-Beamten mit Wissen des Auswärtigen Amtes libysche Polizisten trainierte. Seit 2008 wurden mit offizieller Genehmigung Waffen und Ausrüstung für mehr als 80 Millionen Euro aus Deutschland nach Libyen exportiert.
6. Wie ist das Verhältnis zwischen Deutschland und Libyen?
Die Bundesrepublik hat schwere Aktien in Libyen: Die BASF-Tochter Wintershall ist seit 1958 in Libyen vertreten und betreibt acht Ölfelder. Libyen ist mit 10 Prozent der drittwichtigste Öllieferant Deutschlands. Der Diktator und seine Familie besitzen sogar eine eigene Tankstellenkette in Deutschland: HEM. 2008 bestätigte der Konzern RWE Dea, dass er im Oktober 2007 Lizenzen zur Erforschung von Gasvorkommen auf 10.000 Quadratkilometern (andere Quellen sprechen von 40.000 Quadratkilometern) östlich der Hafenstadt Bengasi erworben hatte.
Für eine ähnliche Lizenz auf 55.000 Quadratkilometern hatte der britische Ölriese BP im gleichen Bieterverfahren 600 Millionen Euro auf den Tisch gelegt. So wundert es kaum, dass vor wenigen Tagen eine Gruppe bestehend aus britischen SAS-Soldaten und einem Diplomaten in Libyen aufgegriffen wurde, die von den Rebellen unter Empörung sofort ausgewiesen wurde.
Bei Infrastrukturprojekten stehen deutsche Unternehmen an zentraler Stelle: Siemens ist an dem weltgrößten Wasserversorgungsprojekt zum Bau des sogenannten »Great Man-made River« beteiligt. Deutsche Exporte nach Libyen sind allein 2009 um fast ein Viertel gestiegen, wobei Investitionen in Libyen nur durch die Beteiligung staatlicher Unternehmen gemacht werden können, die zu großen Teilen vom Gaddafi-Clan kontrolliert werden.
7. Welche strategische Bedeutung hat Libyen für den Westen?
Nur rund 400 Kilometer trennen Europa von der Küste Libyens. Seit der Antike bis hin zu den Nazis galt Libyen als strategisches Einfallstor nach Afrika. Der Westen ist neben seinen materiellen Interessen an Öl und Gas daran interessiert, nicht die gesamte Südküste des Mittelmeeres den Menschen Nordafrikas zu überlassen. Bisher konnte die Flotte der NATO im gesamten Mittelmeer relativ frei agieren. In Sachen Frontex konnte sich die EU zusätzlich auf das Militär der arabischen Despoten verlassen.
Dass die Südküste des Mittelmeeres der westlichen Kontrolle zu entgleiten droht, ist für die NATO-Strategen ein Alptraum. Auch Israel dürfte davon wenig begeistert sein, denn dank der NATO und des Schweigens der arabischen Staaten war es möglich, seine Seegrenzen beliebig zu bestimmen und dadurch zum Beispiel die Solidaritätsflotte für Gaza weit außerhalb seiner Hoheitsgewässer anzugreifen oder unbehelligt Gasfelder in fremden Hoheitsgewässern zu erkunden. Der große arabische Nachrichtenkanal Al Jazeera fasste diese Verschiebung der Macht unter der Überschrift »Initiave for a New Arab Century« zusammen. Das ist die Gegenthese zum US-Plan »Für ein neues amerikanisches Jahrhundert« .
Eine militärische Präsenz der NATO in Libyen würde eine ständige Bedrohung für die arabischen Umsturzbewegungen darstellen. Eine gerechtere Aufteilung der Reichtümer unter den arabischen Völkern wird durch die Kolonialgrenzen verhindert: Konkret hat Ägypten eine ernstzunehmende Industrie, Libyen nicht, Ägypten hat – wenn auch nicht viel – Wasser, Libyen nicht, Libyen hat Öl im Überfluss, Ägypten ist dank riesiger Pipelines und des Suezkanals ein zentrales Transitland. Wird Libyen vom Westen kontrolliert oder ein UN-Protektorat, wird es auch keine Debatte über mehr Gerechtigkeit geben können. Es wäre zudem sehr wahrscheinlich, dass eine solche Intervention, wie man Kriegseinsätze heutzutage beschönigend nennt, zu einem langen Bürgerkrieg mit vielen Verletzten, Toten wie im Irak oder in Afghanistan und zu einer dauerhaften Besatzung führen würde.
8. Wie kann man den Flüchtlingen helfen?
Es gibt an den Grenzen Ägyptens und Tunesiens zu Libyen durch die beinahe 200.000 bisher Geflohenen (zum allergrößten Teil keine Libyer) eine humanitäre Notlage, wenn auch nach Angaben des Auswärtigen Amtes in übersichtlichen Größenordnungen: In Ägypten waren demnach am 4. März 4.000 Menschen zu betreuen, in Tunesien 18.000. Aber es zeigt sich auch hier, dass das Militär nicht für humanitäre Aufgaben zu gebrauchen ist: Während es den Ägyptern nach Berichten der Tagesschau gelang, 56.000 Menschen aus Tunesien nach Ägypten zu verschiffen, schafften die deutschen Militärfregatten gerade mal 400. Das unterstreicht die Unsinnigkeit militärischer Mittel zu Bewältigung der humanitären Katastrophe.
9. Was will die libysche Opposition?
Dass bei den libyschen Protesten und den bewaffneten Gruppen die Fahne des Königreiches Libyen auftaucht, bedeutet nicht, dass es sich bei den Aufständischen um Royalisten handelt. Die Fahne symbolisiert die Einigung der drei Landesprovinzen zu einem Staat, und steht für den Unabhängigkeitskampf gegen die italienische Besatzung bis 1943. Man sieht auf den Protesten, dass das Symbol der Königsfamilie in der rot-schwarz-grünen Flagge meist nicht benutzt wird. Es gibt ohnehin nur noch einen potentiellen Kandidaten für die Thronfolge, nämlich den Sohn des Neffen des ehemaligen Königs, den in Großbritannien lebenden Mohammed al Rida, der bisher jedoch keinerlei Ansprüche angemeldet hat.
Abgesehen davon sind starke Zweifel daran angebracht, ob die verschiedenen Stämme sich ausgerechnet wieder auf einen Sanussi einigen würden. Der Anwalt der 1996 massakrierten Gefangenen, Fathi Terbel, widersprach in einem Interview mit der ägyptischen Tageszeitung Al-Masry al-Youm der Annahme, dass es sich bei dem aktuellen Aufstand überhaupt um Stammeskonflikte handele. Zieht man in Betracht, dass die Bevölkerung zu 85 Prozent in den Städten wohnt, ist Terbels Erklärung logisch: Das ganze libysche Volk sei zu einem Volk zusammen gewachsen, da es in jeder libyschen Stadt eine große Vielfalt von Stämmen gebe.
10. Wie will sich Gaddafi retten?
Gaddafis letzte Option ist die Spaltung der Bevölkerung und auch des Landes. Schon im Jahr 2000 gab es Pogrome arbeitsloser Libyer gegen afrikanische Gastarbeiter. Zwar ließ Gaddafi über 300 der Angreifer verurteilen. Meldungen über afrikanische Söldner haben aktuell aber dazu geführt, dass Menschen mit dunkler Hautfarbe in Libyen um ihr Leben fürchten müssen. Gleichzeitig versucht Gaddafi sich gegenüber Europa nach wie vor als Bollwerk gegen afrikanische Flüchtlinge darzustellen. Angesichts der Tatsache, dass über eine Million Libyer dunkelhäutige Afrikaner sind, schafft die Hetze gegen dunkelhäutige Afrikaner ein Misstrauen, das die Bewegung gegen Gaddafi schwächt und außerdem dem Westen einen weiteren Vorwand für ein militärisches Eingreifen liefert.
Slogans, die sowohl in Libyen als auch auf Solidaritätsdemos sofort auftauchten, wenden sich eindeutig gegen eine Teilung des Landes, die den Westen ohne Bodenschätze lassen würde, die alle in einem relativ kleinen Gebiet in Libyens Nordosten konzentriert sind: 95 Prozent der aktuell geförderten Bodenschätze lagern im Sirte-Becken nahe der Hauptstadt Tripolis.
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