Ein Gespräch mit Hermann Dierkes über den Nahostkonflikt und die Verantwortung der Linken in Deutschland
marx21: Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sagt, dass er sich für Frieden im Nahen Osten einsetze. Aber gleichzeitig lässt er mehr Siedlungen im palästinensischen Ostjerusalem bauen. Wie schätzt du die Situation ein?
Hermann Dierkes: Die gegenwärtige israelische Regierung verhält sich nicht anders als viele andere vor ihr. Sie agiert als Besatzer, Unterdrücker und Kriegstreiber, sie schert sich einen Dreck um Völkerrecht, UN-Resolutionen und Menschenrechte. Sie will »Frieden« – aber ausschließlich zu ihren Bedingungen als kolonialistische Regionalmacht. Ihr Frieden meint Friedhofsruhe. Netanjahu und seinesgleichen wollen die Selbstaufgabe der Palästinenser und ihrer Hoffnung, einmal selbstbestimmt leben zu können. Das ist für die palästinensische Seite natürlich unakzeptabel und sollte es auch für die internationale Linke sein.
Der Weg zu einem gerechten und dauerhaften Frieden führt nur über eine sofortige Einstellung des fortgesetzten illegalen Siedlungsbaus, die Beendigung jeder kriegerischen Handlung gegen die palästinensische Seite, nur über ein Ende der nun fast 43 Jahre andauernden Besatzung, Kontrolle und teilweisen Annexion des Gazastreifens, des Westjordanlands und der syrischen Golanhöhen, und zwar ohne jede Vorbedingung.
Dazu gehört ohne Wenn und Aber, dass sich eine israelische Regierung mit den aktuellen Vertretern der palästinensischen Seite an den Verhandlungstisch setzt – also sowohl mit der Autonomiebehörde im Westjordanland unter Mahmud Abbas als auch mit der gewählten Hamas-Verwaltung im Gazastreifen. Die Regierung betreibt aber das Gegenteil von Konfliktlösung. Auch innenpolitisch verschärft sie die Konfrontation mit dem arabischstämmigen Bevölkerungsteil und der entschiedenen Opposition, indem sie – zusätzlich zu der faktischen Apartheid – strikte Loyalität zum »jüdischen Staat« Israel einfordert, jegliches Gedenken an den Kolonisierungsprozess (d.h. aus palästinensischer Sicht die Nakba) unter Strafe stellt, Menschenrechtsorganisationen drangsaliert und den Widerstand gegen die Mauer militärisch zu unterdrücken versucht.
Hat sich die Situation im Nahen Osten durch die Wahl von US-Präsident Barack Obama verändert?
Bisher leider nicht. Sein Amtsantritt war mit großen Erwartungen verbunden. Große Teile der Bevölkerung in den USA wollen angesichts der verfahrenen, verlustreichen und kostspieligen Lage im Irak und in Afghanistan und der drohenden Konfrontation mit dem Iran eine andere Politik im Nahen und Mittleren Osten.
Ein Teil des Establishments sieht diese Notwendigkeit offenbar auch, wie beispielsweise Denkschriften führender Militärs bezeugen. Sie haben begriffen, dass die Lösung der Palästinafrage ein Schlüsselelement für die Zukunft der gesamten Region und das Verhältnis zur arabischen Welt ist. Letztlich geht es aber nur um eine Neujustierung der Verhältnisse im Rahmen ihrer Weltmachtstrategie zur Kapitalverwertung und Ressourcenkontrolle. Obama – das lässt sich nach knapp anderthalb Jahren Amtszeit feststellen – ist sprichwörtlich als Tiger gestartet und als Bettvorleger gelandet. In Irak und Afghanistan setzt er die Politik seines Vorgängers George Bush mit »erhöhter Dosis« fort. Die Hoffnung weckende Kairoer Rede, in der er eine Kurswende in Aussicht stellte, ist fast schon vergessen. Sein Vize Joe Biden, der neue Verhandlungen zwischen der israelischen und palästinensischen Seite vorbereiten sollte, wurde von Netanjahu buchstäblich vorgeführt: Als er kürzlich Israel besuchte, wurde zur gleichen Zeit von einem israelischen Minister ein Weiterbau der illegalen Siedlungen angekündigt, was natürlich auch von der palästinensischen Seite nur als Affront verstanden werden konnte. Trotzdem verhielt sich die Obama-Regierung wie jemand – um den israelischen Kritiker Uri Avneri zu zitieren – dem ins Gesicht gespuckt wird und der dann behauptet, es regne.
Nachdem etwas genölt wurde, versicherte US-Außenministerin Hillary Clinton der Regierung Netanjahu umgehend, Israel sei einer der besten Freunde der USA. Obama steht massiv unter Druck der Neocons (der Neokonservativen, Anm. d. Red.), sowohl der Republikanischen als auch seiner eigenen Demokratischen Partei, sowie der christlichen Fundamentalisten und der Israel-Lobby.
Bei wichtigen Personalentscheidungen war er schon früh eingeknickt. All das ist übrigens nur ein Spiegelbild seiner innenpolitischen Schwierigkeiten und gebrochenen Versprechen.
Es gibt viele Bücher zur Situation in Israel und Palästina. Jetzt hast du zusammen mit Sophia Deeg ein weiteres heraus gegeben. Was wollt ihr damit erreichen?
Wir haben uns nach den massiven Antisemitismusvorwürfen gegen DIE LINKE und der Rufmordkampagne gegen mich im Frühjahr vergangenen Jahres für das Buchprojekt entschieden. Mit den darin enthaltenen Beiträgen von rund zwanzig Autoren aus Palästina, Israel und weiteren Ländern wollen wir entscheidende Aspekte der Nahost-Konflikte sowie die besondere deutsche Verwicklung – etwa durch ständige Rüstungsbeziehungen – und Verantwortung deutlich machen und diskutieren.
Vergleichbare Publikationen gibt es auf dem deutschsprachigen Buchmarkt bisher nicht. Wir wollen zeigen, dass das Niveau der politischen Diskussion über Nahost und über ernsthafte Lösungsstrategien und Aktionsperspektiven global gesehen viel höher ist als hierzulande. Wir verweigern uns mit guten Argumenten einer Staatsräson der bedingungslosen Solidarität mit Israel. In diesem Zusammenhang diskutieren wir die inkonsequente – oder sogar falsche – Haltung der deutschen Linken allgemein und ihre mangelnde internationalistische Praxis.
Einige Beiträge greifen direkt in die Positionsbildung der Partei DIE LINKE ein. Und schließlich dokumentieren wir noch einmal die Auseinandersetzung vom Frühjahr 2009 um die BDS-Kampagne. Wir sind sicher, dass wir alle aus den Beiträgen in dem Buch viel lernen können.
Die Frage Israel/Palästina ist in der LINKEN sehr umstritten. Was sagst du den Leuten, die eine gewisse Skepsis gegenüber der Partei haben?
Die Skepsis scheint mir begründet zu sein, weil es um politische Glaubwürdigkeit geht. DIE LINKE hat sich in der Nahostfrage bisher sowohl in der politischen Positionsbildung wie in der praktischen Aktion nicht mit Ruhm bekleckert. Ein Teil ihres Führungspersonals steht mehr oder weniger offen auf Seiten Israels, wenngleich dies mit der Behauptung von der »doppelten Verantwortung« – gegenüber Israel und den Palästinensern – kaschiert wird.
Mit der Nahostfrage sind jedoch zahlreiche programmatische Essentials der LINKEN verbunden: das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Antirassismus und Antikriegspositionen. Sie gelten entweder universell oder gar nicht. Wenn wir Israel davon ausnehmen und das mit der deutschen Geschichte und dem – ohne jeden Zweifel – untilgbaren Völkermord der Nazis an den europäischen Juden begründen, ziehen wir die falschen Lehren aus der Geschichte. Als Linke in einem mächtigen und international einflussreichen Land wie Deutschland müssen wir Unterdrückung und Unrecht überall auf der Welt bekämpfen und unserer Regierung in den Arm fallen, wo sie mitverantwortlich ist.
Wir können und dürfen uns der historischen Schuld nicht dadurch »entledigen«, dass wir die brutale Unterdrückung der Palästinenser geschehen lassen bzw. auch noch unterstützen. Die Aufweichung oder der offene Bruch von programmatischen Essentials in der Nahostfrage wäre eine gefährliche Rutschbahn. Sie hätten darüber hinaus auch verheerende Auswirkungen auf den innenpolitischen Kurs der LINKEN. Wir würden schnell den Weg der Grünen gehen und die großen Erwartungen von Millionen Menschen an unsere Partei enttäuschen. Auch deshalb müssen wir für programmatische Kontinuität, Präzisierung und Klarheit sorgen.
Viele Aktivistinnen und Aktivisten solidarisieren sich mit den Palästinensern und wollen etwas gegen deren Unterdrückung tun. Habt ihr konkrete Vorschläge, was sie jetzt machen können?
Die Solidarität muss noch sehr viel stärker werden. Im Unterschied zu anderen Nahost-Publikationen der letzten Zeit informieren wir deshalb ausführlich über die internationale BDS-Kampagne (Boykott, Desinvestment und Sanktionen), die sich das Weltsozialforum 2009 zu eigen gemacht hat. Insofern hat unsere Publikation auch etwas von einem Aktionshandbuch. Diese Kampagne, die alle Profiteure von Besatzung, Unterdrückung und Mauerbau in Israel/Palästina treffen soll, ist derzeit die zentrale Widerstandsperspektive der palästinensischen Zivilgesellschaft.
Sie lehnt sich an den weltweiten Boykott von Südafrika an, der sehr wirksam war, um die rassistische weiße Herrschaft zu stürzen. Sie verdient unsere Unterstützung, genauso wie es bereits in Britannien, Frankreich, Skandinavien, den USA und in vielen weiteren Ländern der Erde der Fall ist.
Als Herausgeber vertreten wir klar die Meinung: Versagen wir als Linke dieser Kampagne unsere Unterstützung, indem wir uns die unsägliche und heuchlerische Gleichsetzung mit dem Nazi-Boykott gegen Juden aufnötigen lassen, dann schwächen wir die internationale Kampffront. Wenn wir dann auch noch in einem Atemzug »jede bewaffnete Auseinandersetzung« verurteilen – wie es leider in offiziellen Dokumenten der LINKEN getan wird – lassen wir die unterdrückten Palästinenser in Wahrheit nicht nur im Stich. Man könnte uns angesichts der wichtigen Rolle Deutschlands und der EU für Israel in Wirtschafts-, Rüstungs- und diplomatischen Beziehungen sogar eine gewisse Komplizenschaft vorwerfen.
Wir räumen gerne ein, dass es aufgrund der deutschen Geschichte bei uns schwieriger ist, die BDS-Kampagne umzusetzen, weil der Spielraum für die angesprochene unredliche Gleichsetzung und Diffamierung durch die so genannte Israel-Lobby, durch Mainstream-Politik und -Medien viel größer ist als in anderen Ländern.
Eine glaubwürdige Linke in Deutschland muss aber zumindest offensiv für ein Ende der Rüstungsbeziehungen zu Israel eintreten, gegen den (zollbegünstigten) Import von angeblich israelischen Waren aus den besetzten Gebieten, wie es unlängst der Europäische Gerichtshof entschieden hat; gegen jede weitere Aufwertung der Handelsbeziehungen Israels mit der EU, gegen die Aufnahme Israels in die OECD, für eine Befassung des Bundestages mit dem Goldstone-Bericht (Bericht des UN-Menschenrechtsrats über den Gaza-Krieg, Anm. d. Red.) und die Umsetzung der darin enthaltenen Empfehlungen.
Der Druck auf die israelische Regierung muss so lange verstärkt werden, wie sie UN-Beschlüsse, Völker- und Menschenrecht brutal missachtet. Diese Forderungen dürfen nicht nur auf dem Papier stehen, nicht nur in parlamentarischen Gremien vertreten werden, sondern sie müssen durch Mobilisierungen durchgesetzt werden.
Das erwarten die Palästinenser von uns und auch die linken Israelis, wie es Briefe und Beiträge zeigen, die wir ebenfalls in unserem Buch veröffentlicht haben. Massiver internationaler Druck – das zeigen historische Erfahrungen – würde große Auswirkungen auf die öffentliche Meinung in Israel, Palästina und in Deutschland haben. Das wäre die entscheidende Vorbedingung für einen politischen Kurswechsel der jeweiligen Regierungen bzw. Vertretungen.
Zum Text:
Das Interview ist erschienen in: marx21, Heft 15, Mai/Juni 2010
Zum Autor:
Hermann Dierkes ist Vorsitzender der Duisburger Ratsfraktion der LINKEN. Nach dem Einmarsch der israelischen Armee in den Gaza-Streifen im Winter 2008/09 rief er zur Unterstützung der Kampagne Boykott, Desinvestment und Sanktionen (BDS) gegen Israel auf. Dafür wurde er, auch innerhalb der LINKEN, scharf kritisiert.