Während das Bauhaus überall gefeiert wird, fallen seine revolutionären Wurzeln meist unter den Tisch. Wir sprachen mit Architekturprofessor Philipp Oswalt über den vergessenen Bauhausdirektor Hannes Meyer und darüber, welche Impulse das Bauhaus zur aktuellen Wohnungsdebatte gibt
marx21: Herr Oswalt, »100 jahre bauhaus« wird in Deutschland als nationales Ereignis üppig gefeiert mit Regierungsempfängen, gleich drei Museumsneubauten in Weimar, Dessau und Berlin und einem riesigen Veranstaltungsprogramm. Sie waren fünf Jahre lang Direktor der Stiftung Bauhaus Dessau und sind mit dem Bauhaus-Thema durch Lehr- und Forschungsarbeiten an der Universität Kassel noch immer tief verbunden. Wie erleben Sie dieses Jubiläum?
Philipp Oswalt: Ich bin in einer ambivalenten Situation. Ich habe mit den Werten, die dem Bauhaus zugeschrieben werden, eine starke Identifikation. Das Bauhaus war historisch ein sehr interessanter Ort. Als Teil des nationalen Gedenkens werden die Preußen, Luther und manches andere gefeiert. Da bin ich erst mal dankbar, dass auch ein Erbe der Moderne dabei ist. Meine Kritik richtet sich an die Rezeptionsgeschichte, die noch immer einseitig durch Walter Gropius geprägt ist. Es ist so schwierig, sich von dem freizumachen, was im Nachgang durch die Rezeption konstruiert worden ist. Nur bei den wenigsten Akteuren gibt es eine Bereitschaft, den Sachverhalt unvoreingenommen kritisch anzuschauen und zu reflektieren oder ihn ernsthaft zu kontextualisieren.
Sie waren im neuen Bauhaus-Museum in Weimar. Wie waren Ihre Eindrücke?
Das Bauhaus entsteht ja im Kontext der deutschen Revolution am Ende des Kaiserreichs, nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Das ist eine politisch absolut brisante Konstellation, es ist eine gesellschaftliche Umbruchszeit und eine Suche nach einer Neuorientierung. Es gab den Arbeitsrat für Kunst, der inspiriert von den Arbeiter- und Soldatenräten gegründet wurde. Man hört davon nichts, gar nichts! Da sitzt ein Gropius und zaubert das Bauhaus aus dem Hut. Was es außerdem und auch schon vorher gab, wird nicht nahegebracht. Das Bauhaus wird wie eine Wunderkammer der Kreativität vorgeführt mit irgendwelchen exzellenten Produkten und tollen Leuten und das Ganze geht in der Nazizeit zu Ende. Das ist eine völlig fiktionalisierte Mystifizierung des Sachverhalts. Ich verstehe nicht, wie man im Jahr 2019 ein solches Bild erzeugen kann.
Bei der Eröffnung des Bauhaus-Museums in Dessau sprach Bundeskanzlerin Angela Merkel das Thema sozialer Wohnungsbau an und hob die herausragende Rolle von Walter Gropius und den Bauhäuslern hervor, die ab 1925 die Ideen vom gesunden Wohnen mit der Siedlung Dessau-Törten in die Praxis umgesetzt hätten. War das so?
Das ist leider wieder so ein Mythos. Nicht an allem, was die klassische Avantgarde hervorgebracht hat, ist das Bauhaus beteiligt. Nach dem Ersten Weltkrieg ist es tatsächlich in einigen Städten gelungen, bemerkenswert preiswerten Wohnraum in ganz neuer architektonischer Qualität zu schaffen. Zu nennen sind das Neue Frankfurt von Ernst May und seinem Team oder das Neue Berlin mit Martin Wagner und Bruno Taut. Das waren die ersten Projekte des sozialen Wohnungsbaus. Nach Rotterdam, Amsterdam und Wien kann man gucken und in manche andere Städte. Aber der Wohnungsbau ist keine reine Architekturfrage.
Wohnungsbau ist nicht nur Architektur
Entscheidend waren die politischen Akteure. Das waren die Sozialdemokraten und die Arbeiterbewegung. Genossenschaften und kommunale Wohnungsbaugesellschaften entwickelten sich zu neuen Bauherren. Und es gab Modelle, wie das staatlich finanziert werden konnte. Das ist auch entscheidend in den Debatten heute. Das sind politische Probleme, die politisch gelöst werden müssen. Der Beitrag des Bauhauses zum sozialen Wohnungsbau geht gegen Null. Erst ab 1928, nachdem Hannes Meyer Direktor geworden war, gab es Ansätze für den Wohnungsbau, die interessant sind. Erst dann hatten die Bauhaus-Studierenden Baupraxis.
Wer war Hannes Meyer und woher kam er?
Er kam aus der Genossenschaftsbewegung in der Schweiz. Sein erstes großes Projekt war die Genossenschaftssiedlung Freidorf bei Basel. Dort hat er selbst als Genosse mehrere Jahre gelebt und auch künstlerisch gearbeitet. Er entwickelte eine Architektursprache, die sich am osteuropäischen Konstruktivismus anlehnte. Sein zusammen mit Hans Wittwer entwickelter Entwurf für den Völkerbundpalast in Genf fand international große Beachtung. In dieser Phase entdeckte er die Möglichkeiten neuer Technologien für sich und artikulierte seine Fortschrittsbegeisterung sehr prononciert 1926 in dem Aufsatz »Die neue Welt«. Das ist ein kraftvoller Text. Doch manche haben sehr kritisch darauf reagiert. Er reflektiert dieses Feedback und nimmt 1928 bei den Gründungssitzungen des CIAM-Kongresses (Congrès Internationaux d’Architecture Moderne, deutsch.: Internationale Kongresse für Neues Bauen, d. Red.) schon eine relativ technikkritische Position ein. Er plädiert dann auch für eine lokale Materialverwendung und lehnt die Fokussierung auf Glas, Stahl und Beton ab.
Wie war es zum Direktorenwechsel von Walter Gropius zu Hannes Meyer gekommen?
Anders als es in der Rezeption zumeist dargestellt wird, befand sich das Bauhaus 1927/28 in einer substanziellen Krise. Die Stadt Dessau hatte 1926 Walter Gropius mit dem Großprojekt Siedlungsbau Dessau-Törten betraut. Gropius hatte viel vom industriellen Wohnungsbau gesprochen, mit dem alles schneller und billiger gehen sollte. Aber das wurde ein Fiasko. Die Bauqualität war schlecht, die Häuser waren zu teuer und für viele Interessenten unerschwinglich, ganz abgesehen von den technischen und funktionalen Mängeln. Ein Teil der Wohnhäuser verfügte nicht einmal über ein Badezimmer, und die Fenster waren im Wohnzimmer und Elternschlafzimmer so hoch angeordnet, dass man nicht nach draußen schauen konnte, ein Teil der Treppen hatte eine Durchgangshöhe von 1,8 Metern. Kein Wunder, dass es im Januar 1928 zu einer Protestversammlung von 1000 Dessauern kam. Die regierenden Sozialdemokraten gingen auf Distanz zu Gropius.
Differenzen im Bauhaus
Auch innerhalb des Bauhauses gab es Differenzen, weil das 1923 von Gropius im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit der Industrie entwickelte Konzept »Kunst und Technik – eine neue Einheit« nicht aufging. Das führte zu wirtschaftlichen und politischen Problemen. Die Einnahmen der Werkstätten blieben hinter den Erwartungen zurück. Im Frühjahr 1928 reichte Walter Gropius sein Rücktrittsgesuch ein und schlug Hannes Meyer als seinen Nachfolger vor, den er schon im April 1927 mit der Einrichtung einer Architekturabteilung beauftragt hatte.
Wie hat Hannes Meyer das Bauhaus geprägt?
Sein Ziel war es, das Versprechen von einer guten, funktionalen und für jedermann erschwinglichen Gestaltung von Industrieprodukten einzulösen. Sein Motto hieß »Volksbedarf statt Luxusbedarf«. Deshalb hat er die Hochschule in Lehre und Praxis grundlegend reformiert. Er strebte eine Trennung von Kunst und angewandter Gestaltung an. Neue Lehrkräfte und Gastdozenten holte er ans Haus und im Unterricht wurde die wissenschaftliche Entwurfsvorbereitung verstärkt. So wurden in der Baulehre nicht nur der Bauplatz, sondern auch die Vegetation und das Klima und das Leben der künftigen Nutzer im Tages- und Jahresverlauf untersucht. Erstmals gelang die Zusammenarbeit mit der Industrie. So wurden Bauhaus-Tapeten hergestellt und Leuchten für die Lampenfabrik Kandem entwickelt, die in höherer Stückzahl zu moderaten Preisen hergestellt wurden.
Wichtig war Hannes Meyer auch die soziale Öffnung des Bauhauses für junge Menschen aus ärmeren Familien und aus der Arbeiterschaft. Frauen wurden nicht mehr in die Weberei abgeschoben, ihnen standen alle Bereiche offen.
Wie wurden die Studierenden an der Bauplanung und -praxis beteiligt?
Das erste große Projekt war die Bundesschule für den Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) in Bernau. Meyer hatte schon bei den Entwürfen Hans Wittwer und Studierende einbezogen, aber das Projekt lief noch über sein Privatbüro, weil der Bauherr den Auftrag nicht ans Bauhaus geben wollte. Die Stärke von Bernau ist zum einen die Verwendung des lokal vorhandenen und preiswerten Materials Ziegel und zum anderen die Auseinandersetzung mit der Topografie. Es wurde nicht eine skulpturale Form hingesetzt, sondern der Bau bezog sich auf die vorgefundene Landschaft. Damit legte Hannes Meyer den Grundstein für eine Architekturentwicklung, die auf Jahrzehnte hin wirksam werden sollte.
Und wie kam es zu den Laubenganghäusern in Dessau-Törten?
Das war ein Auftrag der Dessauer Wohnungsbaugenossenschaft, mit dem die von Gropius gebaute Siedlung erweitert werden sollte. Zehn Geschossbauten waren geplant, davon wurden fünf errichtet – auch hier mit Ziegelsteinen. Im Sommer 1930 waren die Häuser fertig. Es war funktionaler und preiswerter Wohnraum, der heute noch in guter Qualität steht. Aber die weitergehenden Pläne konnten infolge der Weltwirtschaftskrise nicht mehr realisiert werden. 1930 war mit dem sozialen Wohnungsbau in ganz Deutschland Schluss.
Die Laubenganghäuser und die Bundesschule des ADGB gehören heute zum UNESCO-Weltkulturerbe, wofür Sie sich sehr eingesetzt haben.
Das war mir ein wichtiges Anliegen. Immerhin waren die Laubenganghäuser die einzigen Gebäude, die von den Bauhausschülern gebaut wurden.
Für Hannes Meyer aber endete die Bauhausphase 1930 mit einem politischen Rauswurf. Wie kam es dazu, nachdem alles so gut angelaufen war?
Mit der Weltwirtschaftskrise gab es auch am Bauhaus eine politische Polarisierung. Kommunistische Zirkel waren sehr aktiv. Meyer wurde vorgeworfen, nicht mit Konsequenz gegen diese vorgegangen zu sein. Er war selbst sozialistisch orientiert, aber damals noch kein Kommunist. Ludwig Grote, Landeskonservator und Leiter der Anhaltischen Gemäldegalerie, und die Altmeister Josef Albers und Vasilij Kandinskij haben mit Argumenten der rechten Presse und Unterstützung von Walter Gropius Hannes Meyer beim Bürgermeister verleumdet, um die Kündigung zu erreichen. Ihnen ging es wesentlich auch um Widerstand gegen die Neuausrichtung des Bauhauses. Meyer wurde am 1. August 1930 fristlos entlassen. Die Kündigung war für ihn ein Schock. Das hat ihn auch entwurzelt, denn er hatte sich sehr mit der neuen Aufgabe identifiziert.
Schon wenige Wochen später geht er in die Sowjetunion. Eine Gruppe Studierender folgt ihm als Bauhaus-Brigade Rot Front. Wie ging es mit Hannes Meyer weiter?
Als er ankommt, ist schon die Etablierung des Stalinismus im Gange. Der Konstruktivismus und Funktionalismus wird kritisiert. Es heißt, damit würden die emotionalen Bedürfnisse der Leute nicht angesprochen. Meyer macht mit zwei Studierenden einen Entwurf für den Palast der Sowjets, in dem sie den Ansatz eines Psychofunktionalismuses skizzieren. Aber der entspricht nicht den politischen Erwartungen. Er zieht sich dann ganz aus der Architektur zurück und weicht auf den Städtebau aus. Mit seinen Planungen ist er wieder seiner Zeit weit voraus. Diese haben eine gewisse Elastizität. Das Wesentliche ist geklärt, aber in der konkreten Umsetzung lässt er Spielräume. Aber davon wurde kaum etwas umgesetzt.
Ausweichen auf die Stadtplanung
Sein Leben hat schon eine Tragik. Er hat sich dann sehr klar zum Kommunismus und auch zum Stalinismus bekannt. Aber er war auch ein eigenwilliger Kopf, dafür gab es keinen Raum. 1936 ist er aus der Sowjetunion rausgekommen, wie Thomas Flierl herausgefunden hat, mit einem Parteiauftrag des stalinistischen Regimes. Damit hat er vielleicht sein Leben gerettet. Seine Geliebte ist im Lager umgekommen, wie auch befreundete Kollegen und einige seiner Schüler. Zuerst geht er zurück in die Schweiz und 1939 nach Mexiko. Sein Interesse gilt den tradierten Bauformen. So versucht er, zu modernen Architekturlösungen zu kommen. Es ist faszinierend, welch erstaunliches Ideenrepertoire er entwickelte. Aber es ist tragisch, kaum etwas konnte realisiert werden.
Er wäre nach dem Krieg gern in die DDR gekommen. Warum klappte das nicht?
In Mexiko gab es Querelen zwischen den kommunistischen Fraktionen. Meyer hatte besonders Konflikte mit der Exilgruppe der KPD und den dort dominanten Trotzkisten. Diese schreiben sich fort. Er hat keine Chance, in die DDR zu kommen.
Herr Oswalt, mit dem Projekt »Bauhaus bauen! Das wachsende Haus« haben Ihre Studierenden der Universität Kassel in diesem Sommer in drei Wochen ein Holzhaus gebaut nach einer Planung von Ludwig Hilberseimer, Hannes Meyer und Bauhausstudierenden. Warum haben Sie gerade auf dieses Projekt zurückgegriffen?
Wir haben erkannt, dass das der mit Abstand innovativste Beitrag des Bauhauses zum Wohnungsbau ist, der aber aufgrund der Weltwirtschaftskrise und der politischen Krise nicht realisiert wurde. Er war fast vergessen, er entspricht ja auch nicht dem Bauhaus-Klischee aus Glas, Stahl und Beton. Es geht um einfache Holzbauweise, preiswert, ökologisch und erweiterbar. Rund 500 Einfamilienhäuser in drei unterschiedlichen Varianten sollten die von Hannes Meyer gebauten Laubenganghäuser ergänzen. Wir wollen damit einen Impuls zu der heute so aktuellen Wohnungs- und Städtebaudebatte geben. Ein Holzbau ist heute mit Vorfertigung preiswert und schnell herstellbar. Der Baustoff ist ökologisch und nachwachsend. Als wachsendes Haus kann die Größe jeweils an den Wohnbedarf angepasst werden und die Durchmischung unterschiedlicher Wohnweisen mit Flachbau und Hochbau ist geeignet, den sozialen Zusammenhalt zu fördern und Synergien zu ermöglichen. Unser Haus steht neben dem Laubenganghaus von Hannes Meyer. Es ist kein Wohnhaus, sondern ein Nachbarschaftshaus und es wird als solches gut angenommen. Hannes Meyer ist der eigentlich Interessante für uns heute.
Herr Oswalt, wir danken ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Barbara Fuchs.
Zur Person:
Philipp Oswalt ist Architekt und Professor für Architekturtheorie und Entwerfen an der Universität Kassel. Über Hannes Meyer sind erschienen: »Hannes Meyers neue Bauhauslehre. Von Dessau bis Mexiko.« hrsg. von Philipp Oswalt 2019 sowie »Hannes Meyer und das Bauhaus. Im Streit der Deutungen. Reprints und Essays« hrsg. von Thomas Flierl und Philipp Oswalt 2018.
Foto: Nate Robert
Schlagwörter: Architektur, Kultur, Wohnungsbau