Die Novemberrevolution war mehr als die Gründung der Weimarer Republik. Wie das Rätesystem nicht nur die Monarchie, sondern auch den Kapitalismus erschütterte, wird heute gerne übersehen
Die Novemberrevolution gilt als Geburtsstunde der ersten Demokratie in Deutschland. Für die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung markiert sie den »Übergang zur parlamentarisch-demokratischen Republik«. In dieser Lesart fällt unter den Tisch, dass die Novemberrevolution von Organen getragen war, die viel demokratischer waren als jedes Parlament, und deren Herrschaft nicht nur die Monarchie, sondern auch den Kapitalismus ins Wanken hätte bringen können: die Arbeiter- und Soldatenräte.
Der Krieg und die Novemberrevolution
Im Sommer 1918 scheiterte die deutsche Großoffensive an der Westfront. Den Generälen der Obersten Heeresleitung (OHL) um Hindenburg und Ludendorff wurde klar, dass der Erste Weltkrieg, der bereits seit vier Jahren wütete und zehn Millionen Soldaten und zehn Millionen weitere Menschen das Leben gekostet hatte, nicht mehr zu gewinnen war. Die einzige Chance, die Monarchie und das Kaiserreich zu retten, sahen sie in Zugeständnissen an die Alliierten und einem Kompromissfrieden einerseits und einer Liberalisierung der Regierung unter Beteiligung der SPD andererseits. Nachdem die SPD 1914 bereits ihre Antikriegshaltung aufgegeben und den Kriegskrediten zugestimmt hatte, verriet sie nun auch ihre republikanische Grundhaltung und trat in die neue Regierung unter dem Kanzler Prinz Max von Baden ein.
Die Novemberrevolution und die Matrosen in Kiel
Doch die Aussicht auf den Frieden hatte die kriegsmüden Arbeiterinnen und Arbeiter und vor allem die Soldaten elektrisiert. In dieser Situation gab die Marineführung Ende Oktober der Flotte in Wilhelmshaven den Befehl zum Auslaufen in die Nordsee zu einer letzten Schlacht gegen England – ein Himmelfahrtskommando. Auf mehreren Schiffen meuterten die Matrosen wie schon im Sommer 1917 (siehe marx21-Magazin Nummer 51). Die Marineführung verlegte die entsprechenden Einheiten an die Ostsee nach Kiel und verhaftete die Anführer während der Fahrt durch den Nord-Ostsee-Kanal.
Der Kieler Matrosenrat war die Autorität in der Stadt
In Kiel verlangten die Mannschaften die Freilassung der Verhafteten und suchten Unterstützung bei anderen Einheiten. Bald schlossen sich auch Hafenarbeiter den Matrosen an. Als regierungstreue Truppen das Feuer eröffneten, wurde es erwidert. Auf einer Massenversammlung mit 20.000 Teilnehmern wurde der Kieler Matrosenrat gewählt, der von da an die einzige Autorität in der Stadt war. Von Kiel breitete sich die Rätebewegung schnell aus. Innerhalb von zwei Tagen kam es auch in Cuxhaven und Wilhelmshaven zu Streiks und Demonstrationen. Arbeiter- und Matrosenräte wurden gewählt und übernahmen auch dort die Macht. In Hamburg beteiligten sich am 6. November 40.000 Menschen an einer spontanen Demonstration für eine Arbeiterräte-Republik. Die Zeitung des Hamburger Arbeiter- und Soldatenrates verkündete: »Es ist der Anfang der deutschen Revolution, der Weltrevolution! Glückauf zur gewaltigsten Tat der Weltgeschichte! Es lebe der Sozialismus! Es lebe die deutsche Arbeiterrepublik! Es lebe der Weltbolschewismus!«
Die Novemberrevolution beginnt
Nachdem mit Hamburg die erste deutsche Großstadt an die Revolution gefallen war, folgten schnell weitere: am 6. November Bremen, Altona, Rendsburg und Lokstedt, am 7. November Köln, München, Braunschweig und Hannover, am 8. November Oldenburg, Rostock, Magdeburg, Halle, Leipzig, Dresden, Chemnitz, Düsseldorf, Frankfurt, Stuttgart, Darmstadt und Nürnberg. Die Revolution war in wenigen Tagen über das ganze Land hinweg gebraust. Überall das gleiche Bild von Massenaufmärschen der Arbeiterinnen und Arbeiter und Soldaten unter roten Fahnen. Die kaiserliche Macht war von der Bildfläche verschwunden. Ihr blieb nur noch Berlin.
Am 9. November war Berlin im Generalstreik
Dort blieben Massenaktionen wie in den anderen Städten zunächst aus und die Polizei schien die Kontrolle zu behalten. Die Leitung des Spartakusbundes um die späteren KPD-Gründer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zögerte. Am 8. November gaben Liebknecht und andere schließlich die ersten Aufrufe zur Revolution heraus. Sie fielen auf fruchtbaren Boden. Am 9. November war Berlin im Generalstreik. Hunderttausende Arbeiterinnen und Arbeiter zogen in das Berliner Stadtzentrum und aus den Kasernen schlossen sich ihnen die Soldaten an.
Das Polizeipräsidium wurde besetzt, die Polizei entwaffnet und ein neuer revolutionärer Polizeichef ernannt. Vom Fenster des besetzten Berliner Schlosses rief Liebknecht die »Freie sozialistische Republik Deutschland« aus. Er forderte die versammelte Menge auf, die Hand zum Schwur auf die sozialistische Republik und die Weltrevolution zu erheben. Tausende Hände erhoben sich.
Die SPD wollte nicht so weit gehen wie Liebknecht und fürchtete vielmehr eine Radikalisierung der Massen. Ihr Vorsitzender Friedrich Ebert lehnte die Abschaffung der Monarchie ab, weil er fürchtete, dies würde »freie Fahrt für den Bolschewismus« bedeuten. Doch unter dem Druck der Massen rief der SPD-Mann Philipp Scheidemann vom Reichstag aus fast gleichzeitig mit Liebknecht die Republik aus. Die Monarchie in Deutschland war gestürzt. Es sollte nicht das letzte europäische Land sein, in dem die Arbeiterinnen und Soldaten in den folgenden Monaten und Jahren die alte Herrschaft stürzten. Dafür gab es ein großes Vorbild. [emaillocker]
Die Oktoberrevolution in Russland als Vorbild
Bereits ein Jahr zuvor, im November 1917 (nach damaliger russischer Zeitrechnung Oktober), hatte die russische Oktoberrevolution die Herrschaft des Adels, der Großgrundbesitzer und der Kapitalisten beendet. Unter Führung der Bolschewiki war eine revolutionäre Regierung an die Macht gekommen, die sich auf die Räte (russ.: Sowjets) der Arbeiterklasse, Soldaten und Bauernschaft stützte. Das Land, das kurz zuvor noch als der Hort der Reaktion in Europa galt, wurde innerhalb kürzester Zeit zu einem der freiesten Länder der Welt. Die Arbeiterklasse übte demokratisch die Kontrolle über die Produktion aus, die Armee wurde demokratisiert, die Offiziere von den Soldaten gewählt und die Rechte von Frauen und Minderheiten massiv gestärkt.
Die politische Form der Räte selbst bedeutete eine noch nie dagewesene Demokratisierung der Gesellschaft
Haushaltsarbeit und Kinderfürsorge, die Frauen an das Haus fesselten, wurden soweit wie möglich vergesellschaftet, das Frauenwahlrecht wurde eingeführt, der Analphabetismus zurückgedrängt und die Bildungseinrichtungen allen zugänglich gemacht. Auf dem Land wurde der Boden der Großgrundbesitzer unter den Bauern aufgeteilt und der Antisemitismus stark zurückgedrängt. Doch nicht nur die Maßnahmen der neuen Regierung waren revolutionär. Auch die politische Form der Räte selbst bedeutete eine noch nie dagewesene Demokratisierung der Gesellschaft. Die Bewegung der Räte, die 1917 Russland und im November 1918 auch Deutschland ergriff, war eine spontane Bewegung von unten. Die Arbeiterklasse und Soldaten hatten instinktiv diese Form der Organisierung gewählt, weil sie den Erfordernissen der revolutionären Situation entsprach. Dies war ein Prozess, der sich vielerorts abspielte. Räte waren schon vorher die politische Form gewesen, in der sich die Arbeiterklasse organisierte, wenn sie den Kampf um die Macht führte. Zugleich waren sie ein Modell für eine neue Gesellschaftsordnung.
Die Räte als eine demokratischere Alternative
Der erste, der dies scharfsinnig beobachtete und bemerkte, war Karl Marx in seiner Schrift über die Pariser Kommune von 1871: »Die Kommune bildete sich aus den durch allgemeines Stimmrecht in den verschiedenen Bezirken von Paris gewählten Stadträten. Sie waren verantwortlich und jederzeit absetzbar. Ihre Mehrzahl bestand selbstredend aus Arbeitern oder anerkannten Vertretern der Arbeiterklasse. Die Kommune sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit. Die Polizei, bisher das Werkzeug der Staatsregierung, wurde sofort aller ihrer politischen Eigenschaften entkleidet und in das verantwortliche und jederzeit absetzbare Werkzeug der Kommune verwandelt. Ebenso die Beamten aller andern Verwaltungszweige. Von den Mitgliedern der Kommune an abwärts, musste der öffentliche Dienst für Arbeiterlohn besorgt werden. (…) Ihr wahres Geheimnis war dies: Sie war wesentlich eine Regierung der Arbeiterklasse, das Resultat des Kampfs der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte.«
Die Räte waren eine demokratischere Alternative, nicht nur zur Monarchie, sondern auch zum Parlamentarismus. Im Gegensatz zur bürgerlichen Demokratie, in der die ganze wirtschaftliche Macht in den Händen einer kleinen Elite von Kapitalisten liegt, waren die Räte gerade ein Organ zur demokratischen Kontrolle der Wirtschaft durch die Arbeiterinnen und Arbeiter selbst. Sie ermöglichten Millionen Menschen einen bisher ungekannten Grad an Selbstbestimmung über ihr Leben.
Ganz Europa ist vom Geist der Revolution erfüllt
Die Massen der Entrechteten und Geknechteten hatten aus eigener Kraft das Tor zu einer neuen, freieren Welt aufgestoßen. Die Herrschenden, welche die Welt in Krieg und Elend gestürzt hatten, fürchteten um ihre Macht. So notierte ein besorgter britischer Premierminister Lloyd George im März 1919: »Ganz Europa ist vom Geist der Revolution erfüllt. Die Arbeiter sind nicht nur von einem tiefen Gefühl der Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen, wie sie vor dem Krieg bestanden, ergriffen, sondern von Groll und Empörung. Die ganze bestehende soziale, politische und wirtschaftliche Ordnung wird von der Masse der Bevölkerung von einem Ende Europas zum anderen in Frage gestellt.«
Seine Sorge war begründet. Spanien erlebte zwischen 1917 und 1920 die »drei bolschewistischen Jahre«, Italien 1919/20 die »zwei roten Jahre« mit Fabrikbesetzungen, Streiks und Aufständen. Der Staat Österreich-Ungarn zerbrach, die Monarchie wurde gestürzt, die nationale Unterdrückung beendet und in Österreich bildeten sich Räte. In Ungarn und Bayern entstanden 1919 sogar kurzzeitig Räterepubliken. Frankreich erlebte Meutereien der Soldaten und einen Generalstreik in Solidarität mit Sowjetrussland. In diesen Jahren schien die sozialistische Weltrevolution möglich. Die Entscheidung über ihr Schicksal sollte in Deutschland fallen, das nicht nur eines der höchst entwickelten Industrieländer war, sondern auch die größte Arbeiterbewegung Europas beheimatete. Auch hier schienen die Räte gesiegt zu haben und die kaiserliche Macht geschlagen. Doch der Schein trog.
Die alte Staatsmacht des Kaiserreichs, die Bürokratie und der Militärapparat, wurde nicht zerschlagen und die Kapitalisten wurden nicht enteignet
Zwar hatten die Räte zeitweise formal die Macht und die erste Regierung der Republik aus SPD und USPD stützte sich auf sie. Aber die alte Staatsmacht des Kaiserreichs, die Bürokratie und der Militärapparat, wurde nicht zerschlagen und die Kapitalisten wurden nicht enteignet. So blieb genug Macht in den Händen der alten Eliten, um die Entwicklung hin zum Sozialismus mit Gewalt rückgängig zu machen. Tatkräftige Unterstützung bekamen sie dabei von der SPD, die ihre Mehrheit in den Räten nutzte, um diese zu entmachten, und wo dies nicht gelang, die Arbeiterinnen und Soldaten von rechtsradikalen Freikorps niederschlagen ließ.
Das Scheitern der Novemberrevolution
Die Novemberrevolution erreichte viele Verbesserungen, vom allgemeinen Wahlrecht über das Frauenwahlrecht bis hin zum Achtstundentag und zur Sozialgesetzgebung. Doch sie blieb eine unvollendete Revolution. Dass sich der Sozialismus nicht durchsetzte und die alten Eliten und Kapitalisten nicht entmachtet wurden, lag schließlich an dem Agieren der größten sozialistischen Partei Deutschlands, der SPD. Das Scheitern der deutschen Revolution besiegelte auch das Scheitern der Weltrevolution. Das revolutionäre Russland blieb isoliert und unter dem Diktator Stalin kam schließlich eine neue herrschende Klasse an die Macht (vgl. marx21-Magazin Nummer 49).
[/emaillocker]Foto: wikimedia / Bundesarchiv, Bild 183-B0527-0001-810 / Unbekannt / CC-BY-SA 3.0
Schlagwörter: 1918, Erster Weltkrieg, KPD, Novemberrevolution, Räte