Der Aufstand in Ägypten wirft die Frage nach dem Verlauf von Revolutionen auf und wie sie Erfolg haben können. Judith Orr, kürzlich aus Kairo zurückgekehrt, gibt darauf Antworten
Die Schlacht, die vergangene Woche in den Straßen Kairos stattgefunden hat, mag vielen wie ein Ereignis aus einem längst vergangenen Zeitalter erschienen sein. Die Barrikaden, auf der Straße kämpfende Menschen, die Steine aus dem Pflaster brechen und Katapulte basteln, um die Schläger des Diktators abzuwehren – all das hätte auch die Schlacht um die Pariser Kommune von 1871 oder eine bürgerliche Revolution in Europa 1848 sein können.
Dennoch handelt es sich um eine durch und durch moderne Revolution. Von den Kampfflugzeugen, die Husni Mubarak eingesetzt hat, bis zur staatlichen Abschaltung des Internetzugangs ist dies ein Klassenkampf des 21. Jahrhunderts, brutal und anschaulich.
Auf der einen Seite stehen die Armen, die Arbeitslosen, Arbeiterinnen und Arbeiter, Studenten und die Bauern aus den ländlichen Gegenden Ägyptens. Auf der anderen Seite stehen die reiche und privilegierte Elite, ihre Anhänger unter den Kleinunternehmern und die Staatsmacht. Die Ereignisse in Ägypten sind noch im Fluss. Aber Diskussionen und Argumente über Revolutionen und wie wir die Gesellschaft verändern können, sind plötzlich sehr konkret geworden.
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Geschichte von Klassenkämpfen
Oft wird gesagt, dass die Idee von einer Klassengesellschaft überholt sei. Aber 40 Prozent der ägyptischen Bevölkerung leben von 2 US-Dollar am Tag, während Mubaraks Reichtum auf 70 Milliarden Dollar geschätzt wird. Seit fast 30 Jahren wurden solche Ungleichheiten und der aufgeblasene Staatsapparat, um diese durchzusetzen, mehr oder weniger schweigend hingenommen.
Im Kapitalismus, wo eine Elitenminderheit all ihren Reichtum aus der Arbeitskraft der Masse einfacher Leute schöpft, gibt es immer Spannungen, selbst wenn sie tief verborgen sind. Unter der Oberfläche der Ruhe in Ägypten zeigte sich in den vergangenen Jahren immer wieder auch die Verbitterung in der Bevölkerung.
Es kam zu einem heftigen Ausbruch, als die Polizei den politischen Blogger Khaled Said im vergangenen Jahr ermordete. Es gab Streikwellen im Jahr 2006, Lebensmittelaufstände 2008 und Demonstrationen für den Zugang zu Trinkwasser in den Jahren 2007 und 2008.
Der Revolutionär Karl Marx hat im »Kommunistischen Manifest« geschrieben: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.« Damit meinte er, dass es wegen des Interessenkonflikts zwischen der herrschenden Klasse und der Mehrheit der einfachen Leute immer zu Zusammenstößen kommen wird. Das kann ein Aufstand gegen steigende Lebensmittelpreise sein oder ein Streik oder ein Kampf für eine freie Presse oder freie Wahlen.
Die ägyptische und tunesische Revolution brachen wegen der Auswirkungen der Wirtschaftskrise aus, entwickelten sich dann aber schnell zu einem Kampf für ein übergreifenderes Ziel, für »Freiheit«. Wie sich dieser Kampf weiterentwickeln wird, diese Frage stellen sich viele. Es steht so viel auf dem Spiel.
Revolution als Prozess
Werden die Menschen ein paar Reformen akzeptieren und dann wieder zu ihrem normalem Leben zurückkehren, oder werden sie in den jetzigen Auseinandersetzungen das Selbstbewusstsein gewinnen, weiterzukämpfen, um einen viel weitergehenden Wandel zu erreichen?
Viele stellen sich eine Revolution als eine Nacht auf den Barrikaden gefolgt von einem Aufstand vor, durch den die Macht ergriffen oder niedergeschlagen wird. Eine Revolution ist jedoch kein einziges Ereignis, sie ist ein Prozess. Ein Prozess mit Ebbe und Flut, Fortschritten und Rückschlägen, sie kann sich über Wochen, Monate oder sogar Jahre hinziehen. Zu keiner Zeit ist das Ergebnis vorherbestimmt. Während dieses Prozesses organisieren sich beide Seiten, versuchen jeden sich ihnen bietenden Vorteil auszunutzen und suchen nach Schwächen der anderen Seite.
Nachdem 8 Millionen Menschen am Dienstag, den 1. Februar, demonstrierten, schien die Revolution in Ägypten nicht mehr aufzuhalten zu sein. Nur 24 Stunden später griffen Mubaraks Schläger und Aufstandsbekämpfungseinheiten die Bastion der Demonstranten, den Tahrirplatz, brutal an. Solche Schwankungen im Kräfteverhältnis finden zurzeit innerhalb weniger Tage statt, und der ganze Prozess kann sich lange hinziehen. In diesem Prozess können bestimmte Momente den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage ausmachen.
Die Entscheidung der Mubarakgegner, den Tahrirplatz zu besetzen, und die Entscheidung, ihn zu halten, haben sich als sehr wichtig erwiesen. Tage der Straßenproteste verwandelten sich in etwas qualitativ anderes: eine revolutionäre Situation. Es gibt auch Schlüsselmomente, in denen die herrschende Klasse ihre Kontrolle zurückzugewinnen versucht. Die Reichen und Mächtigen können besonders überrascht von dem Ausbruch der Revolte sein. Häufig sind sie so selbstgefällig und so weit entfernt von der Realität des Lebens ihrer Mitbürger, dass sie zu Beginn eines solchen plötzlichen Angriffs von unten wie gelähmt sein können. Aber diese Situation ist nicht von Dauer. Sie gruppieren sich um und versuchen, die Kontrolle zurückzuerobern.
Die Macht Mubaraks
Als Mubarak die Kampfjets mit ohrenbetäubendem Lärm über Kairos Dächern fliegen ließ, wollte er damit die Menschen in Angst und Schrecken versetzen und sagen: Seht her, das ist die Macht, die ich entfesseln kann.
Mubarak hat Zuckerbrot und Peitsche eingesetzt, Versprechen auf Wandel begleitet von gewaltsamer Unterdrückung. Als Mubarak verkündete, er wolle im September abdanken, versuchten Flügel des Staatsapparats und Anhänger des Regimes den Moment zu nutzen, um die Initiative zurückzugewinnen. Es folgte eine massive Mobilisierung konterrevolutionärer Kräfte. Dieses Regime kämpfte um sein Überleben und zeigte, dass es vor nichts zurückschrecken würde, um seine Herrschaft zu sichern.
Die Barbarei, die wir auf den Straßen Ägyptens am Mittwoch und Donnerstag vergangener Woche sehen konnten, war nur ein kleiner Vorgeschmack auf die Gewalt, mit denen die Protestierenden rechnen müssten, würde Mubaraks Regime gewinnen.
Konterrevolutionen sind die Rache der herrschenden Klasse – und sie haben kein Erbarmen. In der Geschichte hat es schon viel Blutvergießen gegeben, wenn eine Revolution scheiterte oder nur halb vollendet wurde.
Viele Demonstranten sind sich sehr bewusst, was eine Niederlage heißen kann. Einer hielt ein Plakat hoch auf dem stand: »Wir sind nicht Chile«. Auf einem anderen hieß es einfach: »Tahrirplatz: durchhalten oder sterben«. Für die vielen tausend Besetzer des Tahrirplatzes ist es eine Frage von Leben und Tod, ob sie die Revolution weitertreiben können. Schon in den ersten 14 Tagen haben sich die Diskussionen verändert.
Ägypten zeigt, dass Revolutionen nicht unbedingt das Ergebnis eines sich langsam aufbauenden Kampfes und sich ausweitender Streiks ist, bis Millionen daran beteiligt sind. Sie brechen häufig als spontane Volksbewegungen aus.
Ein Muster der ersten Tage solcher Revolutionen ist die Zweckgemeinschaft und sind die Forderungen, die die Opposition zusammenführt. In der Russischen Revolution von 1917 war es der Ruf nach „»Brot, Frieden, Land«. In Kairo ist es das Wort »Geh!«, das allen auf den Lippen liegt. Nach Mubaraks Sturz aber stellt sich die Frage: Was kommt dann? Was oder wer wird ihn ersetzen? Nach den vereinten Rufen nach Mubaraks Abgang gibt es jetzt alte oder neu entstehende politische Strömungen, die unterschiedliche Ideen und Strategien verfolgen.
Diskussionen darüber, wie weit die Revolution gehen soll und was eine akzeptable Lösung sei, finden an jeder Straßenecke statt.
Volksaufstand und organisierte Arbeiterklasse
Der russische Revolutionär Leo Trotzki entwickelte die Theorie der »permanenten Revolution«. Er argumentierte, dass nicht jede Gesellschaft dieselben Etappen durchlaufen muss, um zum Sozialismus zu kommen.
Zum Beispiel argumentierte er 1917 im bäuerlich dominierten Russland, dass die kleine Arbeiterklasse die Fähigkeit besaß, eine Revolution zu anzuführen, die über die Durchsetzung einer parlamentarischen Demokratie hinausgehen konnte. Er erkannte, dass diese Länder im Vergleich zu den schon etablierteren kapitalistischen Ländern schwache Glieder in der Kette des Kapitalismus waren und deshalb eher durch Revolutionen erschüttert werden konnten.
Deshalb sprach er selbst in Russland 1917 von der Notwendigkeit, die Revolution unablässig weiterzutreiben, von den ersten Forderungen bis zu einem grundlegenden Angriff auf das System. Nur weil eine Revolution auf den Straßen mit dem Ruf nach Demokratie ausbricht, muss sie nicht notwendig stehen bleiben, wenn Neuwahlen zugestanden werden.
Wenn eine Revolution die formelle Demokratie in Ägypten durchsetzt, muss das nicht das Ende bedeuten – die wirtschaftlichen Fragen können von überragender Bedeutung werden.
Eine Revolution im 21. Jahrhundert wirft unmittelbar die Frage nach der Grundlage des Kapitalismus selbst auf und der Möglichkeit für Sozialismus. Damit aber die Revolution eine Alternative zum Kapitalismus anbieten kann, muss die Arbeiterklasse eine Schlüsselrolle spielen. Das gilt sogar in Ländern, in denen die Arbeiterinnen und Arbeiter zahlenmäßig in der Minderheit sind.
In vielen Ländern der Welt gibt es das, was Leo Trotzki »kombinierte und ungleichmäßige Entwicklung« nannte.
Die Ungleichmäßigkeit besteht darin, wenn es zum Beispiel primitive Landwirtschaftsmethoden gibt und eine Produktionsweise, die sich seit Jahrhunderten nicht verändern hat, neben entwickelter kapitalistischer Produktion mit modernster Technologie. In Ägypten können wir Wasserbüffel in Sichtweite von Stahlwerken mit neuesten Produktionstechniken sehen.
»Kombiniert« heißt, dass die kapitalistische Produktion über nationale Grenzen hinweg verbunden ist durch Handelsbeziehungen, Ressourcengewinnung und Investitionen, weil wir in einem Weltwirtschaftssystem leben.
Ägyptische Stahlwerke gehören zu den modernsten der Welt und sind in die globale Wirtschaft eingebettet. Das versetzt die Arbeiterklasse selbst in weniger industriell entwickelten Ländern in eine einzigartige mächtige Position.
Die ägyptische Arbeiterbewegung
Die Macht der Arbeiterinnen und Arbeiter wurzelt in ihrer kollektiven Organisierung im Betrieb – die Gesellschaft kann nicht ohne die Arbeit von Millionen funktionieren. Die ägyptische Arbeiterklasse ist die größte und mächtigste der arabischen Welt.
Aber sie hat gerade erst angefangen, Jahrzehnte der Unterdrückung und Illegalität abzuschütteln. Der offizielle Gewerkschaftsverband ist eng mit der alten Ordnung verflochten. Er gab sogar zu Beginn der Revolution eine Erklärung ab, in der er Mubarak seiner Loyalität versicherte.
Natürlich kann sich das ändern. In Tunesien brach der Gewerkschaftsverband UGTT mit dem Regime, schloss sich der Bewegung an und stellte sich sogar an die Spitze des Aufstands.
Arbeiterinnen und Arbeiter in ganz Ägypten haben schon eine wichtige Rolle in der Revolution gespielt. Sie haben zu Zehntausenden demonstriert und Streiks geführt.
Aber die Arbeiterklasse hat noch keine Kämpfe als besondere kollektive Kraft geführt. Auch das ist nicht ungewöhnlich. Tatsächlich haben viele Revolutionen, auch die Russische Revolution von 1917, als Volksaufstände begonnen. Erst später in diesem Prozess begann die Arbeiterklasse eine Führungsrolle zu übernehmen.
Im Verlauf der Revolution stellt sich die zentrale Frage, wer die Gesellschaft kontrolliert. Wegen der kollektiven Macht der Arbeiterklasse, wird ihre Rolle zunehmend wichtig und entscheidend.
Von der Selbstorganisation zur Arbeiterkontrolle
Viele Leute fragen sich: Wenn die ägyptischen Massen sich spontan erheben und solch eine große Fähigkeit zur Selbstorganisation und zum Widerstand zeigen, brauchen sie dann politische Parteien und Führung?
Es wäre ein Irrtum, zu glauben, dass es keine politischen Parteien in Ägypten gibt. Unter sehr schwierigen Umständen haben mutige politische Aktivisten über viele Jahre im Untergrund oder auch offen organisiert: Sozialisten, die Muslimbruderschaft und andere.
Selbst die entstehenden Lokalkomitees, die ich in Kairo gesehen habe, sind mögliche Kerne alternativer Organisationen. Es handelte sich um eine Koalition von Gruppen, wozu auch Jugendnetzwerke, revolutionäre Sozialisten und andere gehörten, die zum ersten großen Protest am 25. Januar aufriefen. Auch wenn die revolutionären Sozialisten gering an der Zahl sind, treffen sie sich regelmäßig und greifen aktiv in die Massenbewegung ein.
Wie aber kann die Mehrheit der Menschen für sozialistische Ideen gewonnen werden? Marx hat das in der »Deutschen Ideologie« so formuliert: »[Das kann] nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen; dass also die Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andre Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden.«
Er meinte damit, dass die Erfahrungen mit der Revolution uns von Ideen und Spaltungen befreit, die wir unter dem Kapitalismus entwickelt haben, und dass wir uns für neue Möglichkeiten öffnen.
Selbst wenn es sich nur um wenige Tage handelt, können wir schon jetzt die unglaublich befreiende Erfahrung der Revolution in den Kämpfen von Ägypten erkennen.
Der Ausgang ist immer noch unsicher. Aber Millionen auf der Welt wurden zum ersten Mal in ihrem Leben Zeugen einer Revolution. Die Armen und die Arbeiterklasse Ägyptens haben bewiesen, dass die einfachen Menschen die Macht haben, ihre eigene Geschichte zu machen.
Zum Text:
Der Artikel erschien zuerst in Englisch auf »Socialist Worker Online«. Übersetzung ins Deutsche: Rosemarie Nünning
Mehr auf marx21.de:
Mehr im Internet:
- Al Jazeera Live Stream: Die beste Liveberichterstattung über die Ereignisse in Ägypten liefert der Fernsehsender Al Jazeera aus Doha (leider nur in Englisch)
- Leo Trotzki – Die permanente Revolution: Angesichts von Stalins Angriffen verteidigte Trotzki 1929 im Exil seine nach 1905 entwickelte Theorie der permanenten Revolution im Lichte der Revolution von 1917 und fasste sie zusammen