Vor genau einem Jahr erschoss der 17-jährige Tim K. 15 Menschen und sich selbst. Mit der danach erfolgten Verschärfung des Waffenrechts lassen sich aber Amokläufe nicht verhindern. Denn es gibt einen Zusammenhang zwischen der neoliberalen Entfesselung der Märkte und Gewalt. Von Frank Eßers
Kurz nach dem schrecklichen Amoklauf in Winnenden am 11. März 2009 ist der Ruf nach schärferen Gesetzen und Kontrollen laut geworden. Hätte der Täter Tim K. »keine großkalibrige Pistole in die Hand bekommen, hätte er nicht 15-mal getötet« war sich die »taz« damals sicher. Vielleicht stimmt das in diesem Fall. Doch verallgemeinern lässt sich das nicht.
Als Tim K. seine Taschen mit Munition vollstopft und mit einer Pistole loszieht, um möglichst viele Menschen zu ermorden, geschieht das nicht aus einem vorübergehenden Wutanfall heraus. Wie andere vorher, hat er seinen Amoklauf geplant und längere Zeit vorbereitet. 2006 hatte sich der 18-jährige Bastian B. mit einem Arsenal verschiedener Waffen eingedeckt, um an seiner ehemaligen Schule in Emsdetten (Nordrhein-Westfalen) ein Massaker anzurichten. Dazu gehörten auch selbst gebastelte Sprengsätze.
Im belgischen Dendermonde drang im Januar 2009 ein 20-jähriger in eine Kinderkrippe ein, tötete zwei Babys, die Erzieherin und verletzte 10 weitere Kleinkinder und 2 Erwachsene. Eine Schusswaffe war dazu nicht nötig. Der Täter rüstete sich mit mehreren Messern und einem Beil aus.
Weder durch strengere Kontrollen noch durch ein Verbot der Aufbewahrung von Handfeuerwaffen in Privathaushalten hätten diese Taten verhindert werden können.
Daraus lässt sich selbstverständlich nicht die umgekehrte Schlussfolgerung ziehen, dass eine Liberalisierung der Waffengesetze unproblematisch wäre. Ein weniger eingeschränkter privater Zugang zu Schusswaffen würde auch deren Gebrauch fördern, die Zahl der Opfer würde steigen.
Außerdem hat eine Auswertung von internationalen Berichten über Amokläufe für den Zeitraum 1993 bis 2001 ergeben, dass ein erheblicher Prozentsatz der Täter aus waffentragenden Berufen stammte (26 Prozent Soldaten und 7 Prozent Polizisten) oder »Waffennarren« waren.
Computerspiele produzieren keine Mörder
Nach Winnenden stellte Innenminister Schäuble im Live-Chat bei tagesschau.de einen Zusammenhang zwischen Amokläufen und bestimmten Computerspielen her: »Ist es nicht wahr, dass durch diese Gewaltdarstellungen, durch Killerspiele, durch was der Himmel es alles gibt an schrecklichen Dingen, dann bei jungen Menschen solche Mechanismen ausgelöst werden, dass dann ein junger Mensch, 17 Jahre alt, so etwas entsetzliches tut?«
Für diese beliebte These – 60 Prozent der Bevölkerung stimmen ihr zu – gibt es allerdings keinen Beleg. Die Wirkung von »Ballerspielen« auf das Gewaltpotenzial wird schon länger wissenschaftlich untersucht: »Langfristig konnte noch keine Steigerung der Aggressivität nachgewiesen werden«, stellte der Kommunikationswissenschaftler Jörg Müller-Lietzkow nach dem Amoklauf in Emsdetten klar.
Die Aussichtslosigkeit, die Bastian B. gefühlt habe, sei »nicht spiele-induziert«, erklärte der Medienpädagoge Professor Winfred Kaminski. Wer vor allem Spielverbote fordere, wolle sich seiner Verantwortung entziehen, meinte er.
Dennoch beklagten Politiker, dass Jugendliche viel Zeit mit Computerspielen verbringen – und streichen gleichzeitig Gelder für andere Freizeitmöglichkeiten wie Jugendzentren oder bei der Jugendarbeit. Da liegt der Verdacht nahe, dass die Bundesregierung mit ihren damaligen Forderungen nach einem schärferen Waffengesetz und Verboten bestimmter Computerspiele vom eigentlichen Problem ablenken wollte: Kinder und Jugendliche müssen in einer auf Konkurrenz beruhenden Ellenbogen-Gesellschaft aufwachsen, die steigenden Druck auf den Einzelnen ausübt.
Eine Welt, in der Geld regiert
Welche Motive Tim K. dazu bewogen haben, zum Mörder zu werden, ist nicht klar. Bastian B. hingegen hatte einen Abschiedsbrief hinterlassen, aus dem hervorgeht, was ihn umtrieb:»Das einzigste was ich intensiv in der Schule beigebracht bekommen habe war, dass ich ein Verlierer bin. (…) Ich erkannte, dass die Welt, wie sie mir erschien, nicht existiert, dass sie eine Illusion war, die hauptsächlich von den Medien erzeugt wurde. Ich merkte mehr und mehr in was für einer Welt ich mich befand. Eine Welt in der Geld alles regiert, selbst in der Schule ging es nur darum. Man musste das neuste Handy haben, die neusten Klamotten, und die richtigen "Freunde". hat man eines davon nicht ist man es nicht wert beachtet zu werden.«
Einen Sinn im Leben konnte Bastian nicht finden: »Wozu das alles? Wozu soll ich arbeiten? Damit ich mich kaputtmaloche um mit 65 in den Ruhestand zugehen und fünf Jahre später abzukratzen?« Dieser Gesellschaft, so schrieb er, wolle er sich nicht anpassen.
Weitere Teile des Briefes bestehen aus reaktionären Beschreibungen seiner Rachegefühle und der Diffamierung unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen und Jugendkulturen, die er für seine Lage verantwortlich macht. Sich selbst heroisierte er als militanten Einzelgänger, der es allen zeigen werde.
Sicher stehen viele Jugendliche unter ähnlichem Druck, ohne gewalttätig zu werden. Doch jeder reagiert auf andere Weise. Der Weg von Isolierung, Hass auf die Welt, Gewaltphantasien bis zum Amoklauf ist eine extreme Form fremdgerichteter Aggression. Andere Effekte dieser Normierung von Jugendlichen sind Magersucht, Bulimie, Selbstverletzungen, der Missbrauch von Psychopharmaka, Beruhigungsmitteln oder Drogenkonsum. In jedem Jahr endet diese Aggression nach innen für rund 1500 Jugendliche im Suizid.
Lösungen lassen sich nur dann finden, wenn erstens die sozialen Verhältnisse nicht ausgeblendet werden und zweitens von den Bedürfnissen der Jugendlichen ausgegangen wird. Schärfere Gesetze, mehr Verbote oder das Verwandeln von Schulen in Festungen gehen genau an diesen vorbei.
Auslöser von Amokläufen
Fachleute beschreiben mehrere Auslöser von Amokläufen: eine fortgeschrittene psychosoziale Entwurzelung des Täters, der Verlust beruflicher Integration durch Arbeitslosigkeit, Rückstufung oder Versetzung, zunehmend erfahrene Kränkungen sowie Partnerschaftskonflikte.
Seit dem Massaker an der Columbine High School (USA) im Jahr 1999 sind die so genannten school shootings, Amokläufe an Schulen, ins Blickfeld geraten. Einige Umstände im Leben der Täter treten gehäuft auf:
- Mobbing in der Schule
- unangemessener Leistungsdruck, sowie daraus resultierende Zukunftsängste
- mangelnde Kommunikation und Integration im Elternhaus beziehungsweise im sozialen Umfeld
- Vereinsamung, Entwurzelung oder Isolation
- Versager- oder Einzelgängerschicksale
- Konflikte mit nahestehenden Personen
- intensive Gewaltphantasien
- Kompensation von erfahrenen Kränkungen oder Minderwertigkeitsgefühlen durch extreme Handlungen
- die Nachahmung ähnlicher, vorangegangener Taten
- das Bedürfnis nach Erregen von Aufmerksamkeit
- fehlende Kontrolle über das eigene Leben soll durch Macht über andere kompensiert werden
Warum wird von den Tätern gerade ihre (ehemalige) Schule ausgewählt? Weil sie der Ort sei, »wo sie ihre größte Kränkung erlitten haben. Hier wollen sie die fehlende Kontrolle wieder herstellen, indem sie die Kontrolle haben darüber, wer leben und wer sterben soll«, sagte der Diplom-Kriminologe Frank Robertz nach Winnenden gegenüber dem »Tagesanzeiger«. Robertz führt europaweit Fortbildungen zur Prävention und Intervention gegen Schulgewalt durch. Er beschreibt die Täter als »eher introvertierte Jugendliche, die soziale Brüche und Verlusterfahrungen erleben mussten und sehr empfindlich auf diese Ereignisse reagiert haben.«
Individuelle Hilfe
Laut dem Kriminologen, der nach eigener Aussage jahrelang mit auffälligen und straffällig gewordenen Kindern und Jugendlichen gearbeitet hat, komme es darauf an, »die Warnsignale zu erkennen und den Jugendlichen dann auf dreifache Weise zu begegnen.« Weitere Informationen müssten gesammelt und Normen des Zusammenlebens verdeutlicht werden.
»Vor allem aber muss den Jugendlichen klargemacht werden, dass ihre im Vorfeld subjektiv unlösbar erscheinenden Probleme nicht unlösbar sind«, erklärte Robertz: »Sie müssen begreifen, dass ihnen von diesem Zeitpunkt an Erwachsene zur Seite stehen – nicht um zu strafen, sondern um auch Hinweise zu geben auf die Lösung der immer gleichen Kernprobleme«.
Dazu müsse auch die Schule ein Ort werden, »wo man gerne hingeht und Beziehungen aufbauen kann.« Es sei wichtig, »gefährdete Jugendliche rechtzeitig zu erkennen und für ein Umfeld zu sorgen, in welchem diese Gefahren gar nicht erst entstehen.« Die Schule könne »soziales Lernen propagieren« und den Jugendlichen zeigen, »wo sie – auch abseits der Schulnoten – Anerkennung finden.«
Schule sondert Kinder aus
Daraus ergibt sich die Frage, wer das leisten soll. Lehrer, die Klassen mit 25 bis 30 Schülern unterrichten müssen, können das nicht bewältigen. Auch an anderem qualifizierten Personal mangelt es: Bundesweit kommen auf einen Schulpsychologen etwa 16.500 Schülerinnen und Schüler.
Mit mehr Personal allein ist es jedoch nicht getan. An der betroffenen Schule in Winnenden gab es eine Sozialarbeiterin. Um Konflikte frühzeitig zu erkennen und zu schlichten, sind auch einige Schüler zu speziellen Schlichtern, so genannten Mediatoren ausgebildet worden. Tims Probleme wurden trotzdem nicht erkannt.
Damit gerne gelernt wird, müsste sich viel mehr ändern. Die Anforderungen, die von der Winnender Schule gestellt werden, sind von den Medien als hoch beschrieben worden: eine verharmlosende Beschreibung für Leistungsdruck. Dafür kann die Schule nichts, denn Druck und Auslese sind Kennzeichen des gesamten Bildungssystems.
Nach dem Schulmassaker in Emsdetten Ende 2006 stellte der Hannoveraner Erziehungswissenschaftler Wolfgang Bergmann gegenüber der »Zeit« fest: »Die deutsche Schulkultur sondert Kinder mit bürokratischer Kälte aus.« Das trifft den Nagel auf den Kopf. Denn schon im Alter von zehn Jahren werden Kinder auf die verschiedenen Schultypen verteilt. Damit wird oft über ihr ganzes weiteres Leben entschieden. Chancen auf einen guten Arbeitsplatz hat meist, wer aufs Gymnasium kommt. Hauptschüler stehen von vornherein auf der Verliererseite.
Sebastian B., der Amokläufer von Emsdetten, musste nach der Realschule als Mini-Jobber in einem Baumarkt arbeiten.
Wer in Deutschland einen höheren Bildungsabschluss haben will, sollte über gut verdienende Eltern verfügen: Schüler aus wohlhabenderen Familien haben eine viermal höhere Chance, das Gymnasium zu besuchen und Abitur zu machen. Das ging aus der zweiten Pisa-Studie hervor, die international die Leistungen von Schülern misst. Im Vergleich zu anderen Ländern haben es in Deutschland Kinder aus sozial schwächeren Elternhäusern besonders schwer, haben die Pisa-Forscher festgestellt.
Jung und arbeitslos
Wer die Schule hinter sich hat, steht vor einem zweiten Problem: einen Ausbildungsplatz zu finden. Auf drei erwerbstätige Jugendliche kommt mindestens einer, der auf Arbeitslosengeld I oder Hartz IV angewiesen ist. Das sind insgesamt 1,2 Millionen junge Menschen. Zu diesem Ergebnis kam die Studie »Arbeitsmarkt aktuell – Jugendarbeitslosigkeit wird unterschätzt« des deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB).
Und wer aus der Arbeitslosigkeit herauskommt, wechselt laut Studie vermehrt nur in eine prekäre Beschäftigung oder Maßnahme der Arbeitsagentur – Jugendliche wesentlich öfter als Ältere. Im Berufsleben sind befristete Verträge und niedrige Einkommen für einen großen Teil junger Menschen Alltag.
Nach der Berufsausbildung erfolgt für die Mehrheit junger Arbeitnehmer keineswegs eine Übernahme durch die ausbildende Firma. 69 Prozent müssen sich anderweitig umsehen. Für 31 Prozent der Ausgebildeten gestaltet sich der Übergang sogar sehr schwierig: Jeder dritte Jugendliche gelangt laut Studie »erst auf Umwegen mehrerer atypischer Beschäftigungsverhältnisse wie Praktika, befristete Beschäftigung usw. in ein Vollzeitarbeitsverhältnis.«
»Killerspiel« Afghanistan
»Wir müssen alles tun, um zu schauen, dass Kinder nicht an Waffen kommen, dass ihnen auch sicherlich nicht zu viel Gewalt zugemutet wird«, sagte Kanzlerin Merkel nach dem Winnender Amoklauf im Deutschlandfunk und schlug die Sperrung gewaltverherrlichender Internetseiten vor. Wenn es ihr mit dem Schutz von Kindern ernst wäre, dann müsste sie zuerst ans »real life« denken: zum Beispiel an die Gewalt verharmlosenden Werbeauftritte der Bundeswehr in Schulen.
In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit nutzt der Staat die Verunsicherung von jungen Menschen, um sie als Berufssoldaten zu rekrutieren. Eine solche »Karriere« kann schnell darin enden, in anderen Teilen der Welt Menschen zu töten oder selbst getötet zu werden. Der Bundeswehreinsatz in Afghanistan ist das ganz reale »Killerspiel« der Bundesregierung.
Menschen bleiben auf der Strecke
Es ist kein Zufall, dass die Zahl der Amokläufe zugenommen hat. Der von Neoliberalen beschleunigte Sozialabbau hat öffentliche soziale Netzwerke zerstört und den sozialen Zusammenhalt im Privaten untergraben. Gesellschaftliche Entwicklungen setzen sich zwar nicht eins zu eins in individuelles Verhalten um, aber es gibt einen Zusammenhang.
Wo sich Politik und Unternehmen aus ihrer sozialen Verantwortung verabschieden, wo Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden, bleiben Menschen auf der Strecke – nicht nur ökonomisch, sondern auch emotional. Das schafft Raum für Egoismus und auch Hass, der sich gegen andere entlädt.
Entschuldigt oder relativiert sind die brutalen Morde, die Tim K. und andere begangen haben, damit nicht. Doch es reicht nicht, Amokläufe nur als Taten einzelner extremer Charaktere zu beschreiben. Es geht vielmehr darum, sich nicht mit einem Gesellschaftssystem abzufinden, das Kinder und Jugendliche in Perspektivlosigkeit und Isolation treibt.
Zum Text:
Dieser Artikel ist eine leicht bearbeitete Neuveröffentlichung der marx21-Analyse »Der Kapitalismus frisst seine Kinder« vom 17. März 2009. Nicht berücksichtigt in diesem Artikel ist die Tatsache, dass die meisten Amokläufer an Schulen männlich sind, also Jugendgewalt sehr oft Jungen-Gewalt ist. Das wäre ein lohnendes Thema für eine weitere Analyse.
Zum Autor:
Frank Eßers ist Online-Redakteur von marx21.de und aktiv in der LINKEN.Berlin-Neukölln