Die Bewegung gegen »Stuttgart 21« gewinnt weiter an Stärke. Am Samstag erlebte Baden-Württembergs Landeshauptstadt die bislang größte Massendemonstration seit Beginn der Proteste gegen die Tieferlegung des Hauptbahnhofs. Von Herbert Wulff
Laut Veranstaltern gingen rund 150000 Menschen auf die Straße, um ihre Ablehnung des milliardenschweren Prestigeprojekts kundzutun. Die stets deutlich niedrigeren Angaben der Polizei lagen erst bei 55000, später bei 63000 Demonstranten – ebenfalls ein Rekordwert. Auf der Kundgebung warnte der ehemalige Leiter des Design-Centers der Deutschen Bahn AG, Karl-Dieter Bodack, vor den negativen Folgen des Großprojekts. Ein zuverlässiger Bahnbetrieb sei mit dem geplanten »Tunnel-Labyrinth« unter Stuttgart nicht möglich. Zudem sei es für einen Fahrzeitgewinn von nur drei Minuten nicht zu verantworten, den Schloßpark im Stadtzentrum weitgehend abzuholzen. Die Schwabenmetropole habe den am besten funktionierenden Kopfbahnhof Europas, so der ehemalige Bahn-Funktionär. Unter Berufung auf Quellen aus dem Bahn-Tower in Frankfurt am Main berichtete er, dort würden die Chancen eines Scheiterns von »Stuttgart 21« mittlerweile auf 50 Prozent geschätzt.
Angesichts der anhaltenden Proteste betonte Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) am Wochenende erneut seine »Dialogbereitschaft«. Um hierfür »eine erste Brücke zu bauen«, habe er sich »mit einigen Schülern getroffen, die in der vergangenen Woche im Schloßgarten mit dabei waren«, so Mappus in einem offenen Brief vom Sonnabend. Im Rahmen einer »Dialogagenda Stuttgart 21« solle das Vorhaben »zu einem echten Bürgerprojekt« werden. »Für uns wie für alle anderen Teile der Bewegung gegen Stuttgart 21 ist klar: Ohne einen wirklichen Abriß-, Bau- und Vergabestopp gibt es überhaupt keine Grundlage für irgendwelche Gespräche«, erklärte dagegen Florian Toniutti von der »Jugendoffensive gegen Stuttgart 21« am Sonntag auf jW-Nachfrage. Auf einer Pressekonferenz hatte die Gruppe – die den Schülerstreik am 30.September organisiert hatte – Videoaufnahmen vom Polizeieinsatz im Schloßgarten gezeigt, bei dem über 400 Menschen verletzt worden waren. Die Aufnahmen machten nicht nur das extrem brutale Vorgehen der Polizei, sondern auch die provokative Rolle von Beamten in Zivil deutlich. »Sieht so die Dialogbereitschaft des Herrn Mappus aus?« fragte Toniutti.
Der Konflikt um »Stuttgart 21« ist zur Macht- und Grundsatzfrage geworden, wie Unionspolitiker am Wochenende bekräftigten. »Wenn wir es nicht schaffen, lokale und gesamtwirtschaftliche Interessen zusammenzubringen, dann ist dieses Land nicht mehr veränderbar«, sagte Kanzlerin Angela Merkel am Samstag beim Landestag der Jungen Union in Mecklenburg-Vorpommern. Und Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich nutzte die Stuttgarter Auseinandersetzung für »Ost-Werbung«. »Bei uns gibt es noch mehr Motivation«, schrieb er in einem vorab veröffentlichten Beitrag für den Focus. In Sachsen gebe es kein Großprojekt, das erfolgreich durch Klagen gestoppt wurde. »Wir haben Kohlekraftwerke gebaut, Straßen und Autobahnen, Braunkohletagebaue erweitert. Das ist in anderen Bundesländern nicht mehr möglich«, rühmte Tillich den Freistaat.
Für eine Grundsatzfrage hält den Bau des Stuttgarter Tiefbahnhofs auch der örtliche ver.di-Geschäftsführer und Linke-Landessprecher, Bernd Riexinger. »Stuttgart 21 ist auch eine soziale Frage und eine Frage der Demokratie«, erklärte er am Sonntag gegenüber jW. Während Milliarden für das Prestigeprojekt verschwendet würden, kürze der Staat bei Erwerbslosen und Armen. Vor diesem Hintergrund plädiert Riexinger dafür, die Bewegung gegen »Stuttgart 21« mit den Gewerkschaftsprotesten gegen das Sparpaket der Bundesregierung zu verbinden.
Zum Text: Der Text erschien zuerst in der Jungen Welt vom 11.10.2010