Übervolle Hörsäle, überbelegte Seminare – zum Semesterstart heißt es an den Hochschulen mal wieder: Nichts geht mehr. Ergebnis kurzsichtiger Politik oder eine gewollte Dauerkrise? Von Nicole Gohlke
Spätestens wenn Hochschulverwaltungen überlegen, Kinosäle oder Kirchenräume anzumieten, um Kapazitäten für Vorlesungen zu schaffen, ist klar: Die Universitäten stecken in der Krise.
Diese Krise zeigt sich in verschiedenen Punkten: Es gibt viel weniger Studienplätze als Menschen, die studieren möchten. Die Gebäude sind marode, die Ausstattungen mangelhaft und die Betreuungsverhältnisse vielerorts katastrophal: Zu viele Lernende kommen auf zu wenig Lehrende. Derzeit betreut ein Professor oder eine Professorin im Schnitt 60 Studierende. Anfang der 1970er Jahre lag dieses Verhältnis bei etwas mehr als 1:30. Das macht die Lehr- und Lernbedingungen oft unzumutbar. Die Ursache für diese Probleme ist eine mittlerweile Jahrzehnte anhaltende Unterfinanzierung des Hochschulsystems.
Boom beendet
Nicht zufällig fällt der Beginn dieser Misere mit dem Ende der außerordentlichen wirtschaftlichen Dynamik der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft zusammen. Der seit den 1950er Jahren anhaltende Boom endete Anfang der 1970er Jahre. Während die Wachstumsraten damals allerdings noch durchschnittlich 2,9 Prozent im Jahr betrugen, lagen sie in den Achtzigern nur noch bei 2,3 Prozent und in den Neunzigern fielen sie in Gesamtdeutschland auf 2,1 Prozent. Im vergangenen Jahrzehnt ergab sich – auch aufgrund der scharfen Krise von vor drei Jahren – ein durchschnittliches Wachstum von gerade einmal 0,6 Prozent. Mit anderen Worten: Seit fast 40 Jahren hat man das Problem des niedrigen Wirtschaftswachstums nicht mehr in den Griff bekommen.
Die einzelnen Bundesregierungen haben unterschiedlich auf diese Situation reagiert: zunächst noch mit Konjunkturpaketen, dann mit neoliberaler Politik. Deren Kern ist die Behauptung: Was gut für die Unternehmen ist und deren Gewinne erhöht, ist auch gut für die Gesellschaft als Ganzes. Altkanzler Helmut Schmidt brachte diese Überzeugung auf die Formel: »Die Gewinne von heute sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen.«
Unis als Profitcenter
In der Sozialdemokratie angekommen erfasste der Neoliberalismus in den Folgejahren alle Bereiche der Gesellschaft, natürlich auch die Hochschulen, wenngleich in paradoxer Weise: Einerseits folgte man der Ideologie, den Unternehmen Steuergeschenke zu machen und die öffentlichen Ausgaben zu drücken. Die Universitäten sollten also so wenig wie möglich kosten. Andererseits sollten sie gleichzeitig Spitzenforschung und hochqualifizierte Arbeitskräfte hervorbringen, um die deutsche Wirtschaft in die Lage zu versetzen, den Weltmarkt zu erobern und das Land im internationalen Wettbewerb an die Spitze zu katapultieren.
Ende der neunziger Jahre wurden eine Reihe von Hochschulreformen verabschiedet, um diese teilweise widersprüchlichen Ziele miteinander vereinbar zu machen: zunächst im Jahr 1998 die Novelle des Hochschulrahmengesetzes durch die Regierung Kohl, dann die Bologna-Reformen unter Rot-Grün. Ihnen ist gemein, dass sie vor allem großangelegte Sparprogramme und Programme der betriebswirtschaftlichen Optimierung der Hochschulen sind.
Weniger Demokratie wagen
Der Spargedanke wird auch deutlich in den Verschulungstendenzen an der Hochschule. So sollen beispielsweise die vermeintlichen »Bummelstudenten« durch ständige Leistungskontrollen oder Anwesenheitspflichten diszipliniert werden.
Diese Neuausrichtung der Hochschule hat den weiteren Abbau von inneruniversitärer Demokratie zu Folge, zum Beispiel durch die Einrichtung aufsichtsratsähnlicher Gremien wie dem mit zahlreichen Wirtschaftsvertretern besetzten Hochschulrat. Darüber hinaus hat sie auch Auswirkungen auf die Inhalte von Studium, Lehre und Forschung. Die unternehmerische Hochschule, die im Zuge der Reformen als Leitbild vorgegeben wurde, befindet sich in zunehmender ökonomischer und struktureller Abhängigkeit von hochschulexternen Finanzierungsquellen.
Unternehmen profitieren
Das ermöglicht Unternehmen nicht nur den direkten Zugriff auf Forschungsergebnisse. Auch sonst profitieren sie in hohem Maße vom Einfluss auf Wissenschaft und Forschung. So gibt es an der Goethe-Universität Frankfurt mit der Aventis-Stiftungsprofessur für chemische Biologie eine eigene Professur des größten europäischen Pharma-Unternehmens. Auch die Schweizer Bank UBS, die zu den weltweit größten Vermögensverwaltern zählt, hat eine Stiftungsprofessur für Finanzen inne, die Dresdner Bank eine für Wirtschaftsrecht. Man kann sich ausmalen, wie an diesen Lehrstühlen über Genmanipulation oder über die Regulierung der Finanzmärkte diskutiert und geforscht wird.
Zudem nutzten der Neoliberalismus und seine politischen Verfechter die Unterfinanzierung der Hochschulen für ein weiteres politisches Ziel: nämlich das einer neuen Elitebildung. Mit leeren Kassen und einem ständigen Mangel lassen sich Zulassungsbeschränkungen zum Master oder ein Mangel der Qualität in der Breite politisch gut rechtfertigen.
Kosten für Hochschulen senken
Bei der neu eingeführten gestuften Studienstruktur von Bachelor und Master geht es im Kern auch um den Gedanken der Kostensenkung und zwar in mehrfacher Hinsicht: Das auf sechs Semester zusammengestauchte Bachelorstudium braucht natürlich geringere öffentliche Ausgaben. Es erlaubt den Arbeitgebern, niedrigere Löhne für Hochschulabsolventen und -absolventinnen zu zahlen. Und als dritter Aspekt kommt hinzu, dass die Verkürzung des Studiums letztlich auch Teil des Projektes ist, die Lebensarbeitszeit zu verlängern. Hierzu gehören auch das Abitur nach 12 Schuljahren, die Rente ab 67 und die Verlängerung der Wochenarbeitszeit. Diese, auf die Bedürfnisse der Wirtschaft zugeschnittene Logik, sieht Menschen in erster Linie als Objekte der Verwertung: Man lebt, um zu arbeiten, und ein Studium darf nicht länger dauern, als unbedingt notwendig ist.
Viele Studierende haben sich mit so einer Logik nicht abgefunden: Europaweit haben sie demonstriert und protestiert, auch in der Bundesrepublik blicken wir zurück auf einige Semester Bildungsstreik, Hörsaalbesetzungen und Demonstrationen.
Sozialabbau und Bildungsabbau
Der Zusammenhang zwischen Sozialabbau und Bildungsabbau liegt auf der Hand: Steuersenkungen für Reiche und Unternehmen und die Schuldenbremse strangulieren alle öffentlichen Ausgaben, sowohl die Sozialkassen als auch die Finanzierung der Hochschulen. Es gibt einen Zusammenhang zwischen guten Studienplätzen und guten Arbeitsplätzen.
Wenn in öffentlichen Krankenhäusern, Schulen oder Kindergärten immer mehr qualifiziertes Personal eingespart wird, lässt sich der Mangel an Studienplätzen auch leichter rechtfertigen. Und solange die Wirtschaft weitestgehend undemokratisch organisiert ist, solange nur eine Minderheit entscheidet und die Mehrheit ausführt, solange liegt es nahe, dass eben auch nur eine Minderheit zum Entscheiden und eine Mehrheit zum Ausführen ausgebildet wird. Und solange wir in einer Gesellschaft leben, in der sich alles um Profit dreht, brauchen wir uns nicht wundern, wenn Bildung auf die Vermittlung von wirtschaftlich nützlichen Fertigkeiten und Forschung auf rein anwendungsorientierte Produktforschung reduziert wird.
Bessere Bildung für alle
Dass man Bildung auch ganz anders gestalten kann, hat der Sozialdemokrat Carlo Schmid im Jahr 1964 sehr schön formuliert: »Es ist kein Zufall gewesen, dass gleich zu Beginn der Arbeiterbewegung die Forderung nach besseren Bildungsmöglichkeiten für alle bestand. Bildung sollte die Menschen in die Lage versetzen, mit den Bedingungen und Folgen der Industriegesellschaft fertig zu werden, sich von all dem zu emanzipieren, was sie zu bloßen Werkzeugen in der Hand von Gebietern machte, die sie um des täglichen Brotes willen in Abhängigkeit zu halten vermochten. Bildung sollte dem Menschen das Rüstzeug vermitteln, dessen er bedurfte, um die Welt zu verändern. Dies war der Zweck der Arbeiterbildungsvereine, die vor den Parteien und Gewerkschaften existierten.«
Einen solchen Bildungsbegriff sollten wir uns als LINKE zu eigen machen. Er macht aber nur Sinn, wenn man glaubt, dass Beschäftigte mehr sein können als Inputfaktoren und dass wir die ganze Gesellschaft und damit auch das Bildungssystem in diesem Sinne verändern können.
Zur Person:
Nicole Gohlke ist hochschulpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag.
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