Der Konflikt zwischen »Separatisten« und der nationalistischen Übergangsregierung in der Ukraine hat sich in den letzten Wochen dramatisch zugespitzt. marx21 dokumentiert eine Erklärung der ukrainischen Gruppe »Linken Opposition« über das Massaker in Odessa, die Gefahr eines Bürgerkrieges und die Rolle der Arbeiterbewegung
Das Massaker in Odessa am 2. Mai kann mit nichts gerechtfertigt werden (Hier ein Bericht der tageschau vom 2. Mai). Das sozialistische Bündnis Linke Opposition ist überzeugt davon: »Egal, wer die auf beiden Seiten Getöteten waren, die gegen sie verübte Gewalt ging weit über eine ‚Selbstverteidigung‘ hinaus. Es ist notwendig, eine unabhängige Untersuchung dieser Ereignisse einzuleiten und die Provokateure und Mörder, die vermutlich auf beiden Seiten der Konfrontation zu finden sind, namentlich zu entlarven.«
Im Moment können wir die Verantwortlichen für diese Morde, ihre Organisationen oder Gruppen noch nicht benennen: Wir können jedoch jetzt schon die politischen Folgen des Massakers von Odessa erkennen und müssen feststellen, dass auch linke Organisationen Verantwortung dafür tragen. Ohne Zweifel war dieser Gewaltausbruch an erster Stelle das Werk ultranationalistischer und chauvinistischer Gruppen, die bewusst Leute umgebracht haben, um sodann das vergossene Blut zu instrumentalisieren und eine üble nationalistische Hysterie zu entfesseln. Auf diese Weise wollen sie nach ihrer Denkart »die Nation aufrütteln« gegen »ihre Feinde«. Nur so werden sie die von ihnen erträumte Nazidiktatur errichten können: durch Blutvergießen und Einschüchterung. Die Russen in der Ukraine sollen in jedem Ukrainer einen mordenden Anhänger des Ultranationalisten Bandera sehen und die Ukrainer in jedem Russen einen potenziellen »Agenten des russischen Militärgeheimdienstes«. Leider sind wir inzwischen einem solchen Szenario sehr nahegerückt.
Dabei befanden sich in Odessa am 2. Mai auf beiden Seiten der Barrikaden Leute, auch Aktivisten linker Organisationen, die noch vor einem Jahr gemeinsam an Protesten gegen Angriffe auf das Recht auf friedliche Versammlung und gegen die Einführung des uns versklavenden neuen Arbeitsgesetzbuchs teilnahmen. Aktivisten der Organisation Borotba (Kampf) stellten sich auf die Seite der von den rechten Chauvinisten angeführten Odessagarde. Auf der anderen Seite nahmen Anarchisten und Antifaschisten an Aktionen teil, die von ihren Gegnern organisiert waren – insbesondere den rechten Fußballultras. Die Fußballultras zeichnen sich vor allem durch ihre Brutalität aus, mit der sie ihre Gegner behandeln.
Die linken Organisationen waren nicht in der Lage, ein eigenes Programm der Arbeiterklasse zu entwickeln. Sie waren auch nicht in der Lage, eine Massenbewegung anzuführen, sie distanzierten sich nicht von der brudermörderischen Gewalt und den nationalistischen Parolen. Diese Linken tappten in die Falle der unkritischen Unterstützung einer relativ großen Bewegung, die inzwischen fast vollständig ihre sozialen und wirtschaftlichen Forderungen gegen ein rein nationalistisches Programm getauscht hat. Jetzt hat die Frage, ob der ukrainische Staat bestehen bleibt oder nicht, mehr Bedeutung für sie gewonnen als die Rechte der ukrainischen Arbeiterinnen und Arbeiter unabhängig von ihrer Nationalität. Statt einer Strategie, wie die kapitalistischen Oligarchen in der Ukraine und in Russland zu stürzen sind, gibt es Diskussionen darüber, ob die Schaffung eines ukrainischen Staats ein »Irrtum« oder ein »historischer Fehler« gewesen sei.
Kein Wunder, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter in den großen Fabriken der Ost- und Mittelukraine nicht an diesen Massenprotesten teilnehmen. Die Teilnahme an Anti-Maidan- und Pro-Maidan-Aktionen ist insgesamt eher gering und überhaupt nicht vergleichbar mit den Hunderttausenden, die im Januar und Februar dieses Jahres in Kiew auf dem Euromaidan zusammenkamen. Bewaffnete Radikale bleiben eine kleine Gruppe von Abenteurern selbst in Slawjansk, wo sie die Macht erobert haben und sich nur durch Einschüchterung der Ortsbevölkerung halten können, die verständlicherweise nicht zum Opfer der »antiterroristischen« Operation der Regierung werden wollen.
Es muss bezweifelt werden, ob eine Mehrheit der Einwohner von Slawjansk die monarchistische Vorstellung der Wiedererrichtung des »einen und unteilbaren« Russlands unterstützen, die offen von dem russischen Offizier Igor Iwanowitsch Strelkow, dem befehlshabenden Kommandeur in der »Volksrepublik Donez«, verkündet wird. Klar ist auch, dass sie kein Bedürfnis verspüren, den »kleinen grünen Männern« von Strelkow oder irgendwelchen anderen Soldaten zu begegnen. Ihnen ist nur zu bewusst, dass mit der Fortsetzung der Antiterroroperation früher oder später in den Wohnvierteln Kämpfe ausbrechen werden und dass sie – die friedlichen Einwohner – die Leidtragenden sein werden.
Die Arbeiter von Slawjansk und Kramatorsk beteiligen sich im Wesentlichen nicht an der Konfrontation, sondern passieren täglich auf dem Weg zu ihrer Arbeit die Checkpoints. Nicht einmal hier wurde die Frage eines Generalstreiks aufgeworfen. Örtliche kriminelle Lumpenbanden und alte Leute, die sich nostalgisch die alte UdSSR zurückwünschen, sind die Hauptunterstützer der »Junta von Slawjansk«.
Gleichzeitig gibt es eine organisierte Massenbewegung der Arbeiter in der Ukraine. Sie zeigte sich in Krywyj Rih: Die Selbstverteidigungsbrigaden der Bergarbeiter verhinderten eine Eskalation der Gewalt in der Stadt, als die »Tituschki« (Schläger, die von Behörden und Unternehmern angeworben wurden), den lokalen Maidan anzugreifen versuchten. Die Arbeiter intervenierten auch in Cherwonohrad, Lwiw-Oblast, in den politischen Prozess und verstaatlichten faktisch das örtliche Kraftwerk, das dem ukrainischen Oligarchen Rinat Achmetow gehört.
Die Arbeiterbewegung hat sich in Krasnodon, Luhansk-Oblast, noch mächtiger gezeigt. Während eines Generalstreiks haben die Bergarbeiter hier die Stadt unter ihre Kontrolle gebracht. Es ist von Bedeutung, dass sie sich nicht mit dem separatistischen Luhansker »Anti-Maidan« verbünden wollten, noch haben sie sich hinter die bürgerlichen oligarchischen Führer der Kiewer Maidan gestellt. Sie hatten den eigenen Maidan, den der Arbeiter, sie waren bewaffnet mit Parolen für soziale Gerechtigkeit und haben im Gegensatz zum Kiewer Maidan ernsthaft die Absicht, diese Parolen zu verwirklichen.
Die Arbeiter fordern nicht nur eine Lohnerhöhung, sondern auch, dass die Beendigung der Leiharbeit. Insofern handelte es sich nicht um einen rein ökonomischen Streik, sondern um eine Bewegung, die die Notwendigkeit der Solidarität zwischen den Arbeitern unterschiedlichster Qualifikation erkannte, eine Bewegung, die stark genug ist, die Verwaltung einer Stadt in die eigene Hand zu nehmen. Das geschah ohne jede Gewalt, ohne Verletzte oder Opfer! Die Stadt wurde eingenommen, ohne dass auch nur ein einziger Schuss fiel und ohne den geringsten Widerstand.
Verständlicherweise ist eine auf nationaler Ebene organisierte Arbeiterbewegung immer noch sehr schwach. Wirklich aktive, klassenbewusste Gewerkschaften konzentrieren sich auf wenige Zentren im Bergbau. Gleichzeitig beweist sich jedoch auch, dass nur bei Eingreifen der Arbeiterklasse in einen Konflikt Blutvergießen und chauvinistische Hysterie vermieden werden kann.
Die Entstehung einer unabhängigen klassenbewussten Arbeiterbewegung und ihr Eintreten in die politische Arena ist jetzt vermutlich die einzige Chance für das Überleben des heutigen ukrainischen Staats und dafür, dass der sich vor unseren Augen entfaltende Bürgerkrieg verhindert wird. Wenn es zu einem Zerfall der Ukraine kommt, werden wir nicht in der Lage sein, den Gewaltausbruch mit massenhaften Opfern zu verhindern. Zudem wird diese Konfrontation von Tag zu Tag mehr einen internationalen und innerethnischen und keinesfalls einen Klassencharakter annehmen.
Als der Krieg in Jugoslawien begann, waren die ultrarechten Kräfte noch schwach und marginalisiert. Sie hatten ebenso wenig Unterstützung in der Gesellschaft wie heute Jarosch vom Rechten Sektor und Tiahnibok von Swoboda, die bisher nur sehr geringe Zustimmung finden. Es dauerte aber kein Jahr, bis die serbischen und kroatischen Nazis die jugoslawische politische Bühne beherrschten und über große Massenorganisationen verfügten.
Wenn es den Bergarbeitern von Luhansk, Donez, Lwiw und Dnipropetrowsk nicht gelingt, diesen Krieg durch gemeinsame Anstrengungen zu verhindern, dann werden wir alle in seinen Fleischwolf geraten. Dann wird auch eine linke Bewegung in der Urkraine auf unabsehbare Zeit zerstört sein, und es ist zweifelhaft, ob sie in Russland überleben wird. Die Arbeiter von Krasnodon und Krywyi Rih benötigen dringend unsere Solidarität und Unterstützung. Der Streik von Krasnodon (Hier ein Bericht im Deutschlandfunkt vom 23.04.2014) ist noch nicht beendet, sondern während der Verhandlungen nur ausgesetzt. Die Bergarbeiter von Krywyj Rih bereiten auch einen Streik vor, falls ihre Forderungen nicht erfüllt werden.
- Keine Unterstützung für Chauvinisten, egal unter welcher Flagge sie auftreten!
- Für eine unabhängige und vereinte Ukraine der Arbeiterinnen und Arbeiter!
- Für eine unabhängige Arbeiter- und soziale Bewegung!
Zum Text: Der Text wurde am 7. Mai 2014 hier veröffentlicht. Übersetzung ins Englische von Marko Bojcun. Übersetzung ins Deutsche von Rosemarie Nünning.
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Foto: Wikimedia
Schlagwörter: Bürgerkrieg, Donetzk, Euromaidan, Jugoslawien, Kiew, Linke Opposition, Maidan, Proteste, Russland, Separatisten, Ukraine, Widerstand