Am 24. Mai 2014 wählt Europa. Die extreme Rechte in Europa erhofft sich einen Durchbruch. Doch die Linke kann kontern – wenn sie ihre Haltung zur Europäischen Union klärt, meint Werner Halbauer. Vorabveröffentlichung aus marx21 Nr. 33 (erscheint am 16.12.)
Die Alternative für Deutschland (AfD) hat im September nur knapp den Einzug in den Bundestag verfehlt. Ihr zentrales Wahlkampfthema war die Kritik an der Europäischen Union. Im Mittelpunkt ihrer Kampagne stand die Empörung darüber, dass deutsche Steuergelder für die Staatsschulden der Krisenländer und die Rettung europäischer Banken aufgewendet werden.
Als einzige im Bundestag vertretene Partei hatte DIE LINKE stets der Bankenrettung auf Kosten der Bevölkerung die Zustimmung verweigert. Doch in ihrem Wahlkampf spielte die Kritik an Merkels EU-Politik kaum eine Rolle. Auch deshalb wanderten insgesamt 340.000 Protestwählerinnen und -wähler von der LINKEN zur AfD ab.
Breite Kritik an der EU
Der Erfolg der AfD zeigt: Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung steht der EU und ihren Institutionen misstrauisch gegenüber. Auch Gewerkschaften und soziale Bewegungen kritisieren die Europäische Union. Die Kritik entzündet sich unter anderem an den Deregulierungsmaßnahmen für den europäischen Arbeitsmarkt, die die Beschäftigten und Gewerkschaften im Kampf für soziale Standards schwächen.
Sie richtet sich gegen die Wettbewerbsregeln, die den freien Kapitalverkehr der großen Konzerne begünstigen, national erkämpfte Tarife aushöhlen, Privatisierungen öffentlichen Eigentums befördern und die aggressive Expansionspolitik europäischer Konzerne auf dem Weltmarkt durch EU-Mittel unterstützen. Auf Ablehnung stößt nicht zuletzt der Aufbau gemeinsamer europäischer Einsatzkräfte (Battle Groups), um die Fähigkeit zu militärischer Intervention zu erhöhen.
Grundsätzlicher Konstruktionsfehler
Die Frage ist, ob es sich hier um korrigierbare Fehlentwicklungen oder um einen grundsätzlichen Konstruktionsfehler der Europäischen Union handelt. Von ersteren geht offenbar das Forum Demokratischer Sozialismus, eine Strömung innerhalb der LINKEN, aus, wenn es mit folgenden Worten die Reform der EU fordert: »Wir setzen uns dafür ein, dass unsere neue Linkspartei die europäische Integration und die Erweiterung der Europäischen Union auf gleichberechtigter, solidarischer, ziviler und demokratischer Grundlage befürwortet.«
Doch die EU und ihre Vorläufer wurden keineswegs um der Völkerverständigung willen gegründet. Darüber kann auch die Vergabe des Friedensnobelpreises an die EU für ihren »erfolgreichen Kampf für Frieden und Versöhnung und für Demokratie sowie die Menschenrechte« nicht hinwegtäuschen. Vielmehr stand von Beginn an das wirtschaftliche und geopolitische Interesse des europäischen Kapitals im Zentrum dieses Projekts.
Europäische Ressourcen bündeln
Nach dem Zweiten Weltkrieg war ein bipolares System um die beiden Weltmächte USA und Sowjetunion entstanden, in dem die westeuropäischen Staaten deutlich an internationalem Einfluss verloren hatten. Mitte der 1950er Jahre stammten 75 Prozent der weltweit größten Unternehmen aus den USA. Um mit der Stärke des US-amerikanischen Kapitals mitzuhalten und wieder international konkurrenzfähig werden zu können, musste das europäische Kapital seine Ressourcen bündeln. Die Märkte in den einzelnen Nationalstaaten waren zu klein. Ein gemeinsamer europäischer Markt war nötig, damit Unternehmen so weit wachsen konnten, um mit denen der USA konkurrieren zu können.
Im Jahr 1951 wurde mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion) die erste überstaatliche Organisation auf europäischer Ebene geschaffen. Sie ermöglichte den Mitgliedsstaaten Deutschland, Frankreich, Italien und Benelux zollfreien Zugang zu Kohle und Stahl. Frankreich ging es zunächst vor allem darum, Einfluss auf die deutschen Kohlegebiete und die Schwerindustrie zu erlangen. Die Bundesrepublik wiederum strebte nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg und der deutschen Teilung eine Eingliederung in das westliche Staatenbündnis an.
Gemeinsamer Markt Europa
Aus der Montanunion ging im Jahr 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) hervor. Deren Gründung war der nächste Integrationsschritt. Es ging um den Aufbau eines gemeinsamen Marktes, in dem sich Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräfte frei bewegen konnten. Bereits 1968 wurden die letzten Binnenzölle aufgehoben, jedoch geriet der Prozess auch immer wieder ins Stocken. Erst mit dem Vertrag von Maastricht von 1993 und der damit einhergehenden Gründung der EU wurde der gemeinsame Binnenmarkt vollendet.
Die Aufhebung der Handelsschranken beschleunigte den Integrationsprozess und hatte zum Ziel, die Konsolidierung des Kapitals weiter zu stärken. Die Zahl der Unternehmensfusionen in Europa wuchs rasant. Durch den Zusammenschluss der nationalen Märkte zu einem großen Binnenmarkt wurde ein europäischer Wirtschaftsblock in Konkurrenz zu den USA geschaffen. Je stärker die gegenseitige Kapitaldurchdringung in Europa voranschritt, umso stärker wurden die überstaatlichen Institutionen und umso tiefer ging die Integration.
Gezielter Standortwettbewerb
Mit der Gründung der Währungsunion erfolgte im Jahr 1990 ein weiterer entscheidender Schritt. Ziel war es, die den Freihandel störenden Schwankungen der Wechselkurse zu beseitigen und eine starke Gemeinschaftswährung in Konkurrenz zum US-Dollar zu etablieren. Die spätere Einführung des Euro war ein Mittel, um die Einigung Europas unter dem Diktat der wirtschaftlich stärksten Länder – insbesondere Deutschlands – weiter voranzutreiben.
Die Tatsache, dass der Währungsunion keine Wirtschafts- und Finanzunion folgte, wird häufig als Konstruktionsfehler der Gemeinschaftswährung bezeichnet. Tatsächlich war es aber von Anfang an beabsichtigt, die Nationalstaaten untereinander in Konkurrenz bezüglich ihrer Steuer-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zu setzen. Durch den gemeinsamen Binnenmarkt und Währungsraum können Unternehmen innerhalb der Eurozone ohne Einschränkungen operieren.
Die einzelnen Staaten stehen in einem scharfen Standortwettbewerb miteinander und sind gezwungen, die Unternehmenssteuern und Lohnkosten zu senken, den Arbeitsmarkt zu deregulieren und den Sozialstaat abzubauen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Unter diesem Druck konnten die Angriffe auf die Bevölkerung wesentlich leichter durchgesetzt werden.
EU nicht zu reformieren
Der letzte Schritt der Integration erfolgte mit dem Versuch der Verabschiedung eines EU-Verfassungsvertrags. Dieser wurde zwar 2005 in Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden abgelehnt. Jedoch übernahm der Vertrag von Lissabon, der im Jahr 2009 in Kraft trat, seine wesentlichen Elemente. Im Kern ging es darum, unter dem Deckmantel der Demokratisierung den Einfluss der großen Mitgliedsstaaten auszubauen und die Mehrheitsbeschaffung zu erleichtern.
Diese Grundausrichtung der Europäischen Union lässt sich nicht reformieren. »Die EU ist alles andere als ein beliebig neu beschreibbares leeres Blatt«, gibt auch der linke Euro-Kritiker Andreas Wehr zu bedenken. »Die wirtschaftsliberale Ordnung der EU ist vertraglich fest eingeschrieben, und das seit ihrer Gründung 1957. Die bestimmende Grundlage ist der Binnenmarkt, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital garantiert wird.« Das sei »die eigentliche Verfassung der Union«, so Wehr weiter. »Darauf aufbauend hat sich über die Jahrzehnte eine aus Tausenden von Richtlinien und Verordnungen bestehende Ordnung entwickelt, die, abgesichert durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, von der Europäischen Kommission beständig weiter entwickelt wird.«
Ohne demokratische Mitbestimmung
Nicht nur auf politischer Ebene ist eine Reform der EU nicht denkbar – auch die Strukturen stehen ihr entgegen: Die nicht gewählte EU-Kommission verfügt über das alleinige Recht, Gesetze zu initiieren. Daneben gibt es eine Reihe weiterer Institutionen, die weitgehend gegen demokratische Mitbestimmung abgeschirmt sind: der EZB-Rat, die Verteidigungsagentur, der Ratspräsident, der Hohe Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik.
Genau deswegen, weil die EU-Institutionen dem Druck von unten noch weiter entrückt sind als die nationalen Regierungen, werden immer mehr gesetzgeberische Kompetenzen dorthin verlagert. Heute kommen siebzig bis achtzig Prozent der Gesetze aus Brüssel. Den Gesetzgebungsprozess umschrieb einst Jean-Claude Juncker, ehemals Vorsitzender der Euro-Gruppe, folgendermaßen: »Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.«
Euro nützt Konzernen
Auch die Währungsunion dient nicht den Menschen in Europa, sondern ist auf die Interessen der europäischen Konzerne zugeschnitten. Indem sie Wechselkursschwankungen beseitigt, nutzt sie allen europäischen Konzernen, insbesondere aber der deutschen Exportindustrie. Als Deutschland noch eine nationale Währung hatte, wurde jede Steigerung der Exporte und Handelsbilanzüberschüsse deutscher Konzerne durch die Aufwertung der D-Mark an den Finanzmärkten konterkariert und dadurch die Exporte erschwert. Der Zusammenschluss in einem gemeinsamen Währungsraum mit schwächeren Nationen führt nach außen zu einer Art Durchschnittswährung. Die dämpft den Aufwertungsmechanismus für die stärkeren Nationen und verhindert gleichzeitig, dass die Konkurrenten im Währungsraum sich mit Abwertung wehren können, um ihre Exporte zu retten. Trotz dieser Nachteile wollten und wollen auch schwächere Ökonomien in die Währungsunion. Zu groß ist die Angst, ansonsten von Kapitalströmen und Marktzugängen abgeschnitten zu sein. Dazu bringt ein EU-Eintritt für die jeweiligen herrschenden Klassen auch gewisse Vorteile: Sie können ihre Pläne von Sozialstaatsabbau und Lohnsenkung mit dem Verweis auf EU-Richtlinien vorantreiben.
Die europäischen Großkonzerne und Banken werden alles daran setzen, dass die für sie vorteilhafte EU ebenso erhalten bleibt wie der Euro, solange nicht sie für die Krisenbewältigung und Bankenrettung zahlen müssen, sondern die Mehrheit der europäischen Bevölkerung und besonders die Bevölkerung in den Krisenländern.
Solidarität mit den Menschen in den Krisenländern
Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus dieser Analyse für linke Politik, gerade im Vorfeld der Europawahl am 24. Mai 2014?
Zunächst einmal: Je größer der Widerstand der Bevölkerung gegen die EU wird und je tiefer die Widersprüche werden, desto schwieriger wird es für die Herrschenden, das Kartell mit EU-Verträgen und einzelnen Hilfsmaßnahmen aufrechtzuerhalten. Deshalb sollte DIE LINKE jegliche Widerstandsbewegung in den Krisenländern solidarisch unterstützen. Zudem sollte sie für einen radikalen Schuldenschnitt zu Lasten der Banken und für das Recht der Krisenländer eintreten, der EU ohne Sanktionen den Rücken zu kehren.
Von der Kapitalkonzentration und der Krisenbewältigungspolitik ist neben der Arbeiterklasse auch der Mittelstand besonders betroffen. Rechtspopulistische Parteien wie die AfD greifen mit Parolen wie »Die Griechen leiden, die Deutschen zahlen, die Banken kassieren« diese Entwicklung auf und öffnen die Tür für nationalistische und rassistische Propaganda. Sie fordern Deutschlands Austritt aus dem Euro. Schlösse DIE LINKE sich dieser Forderung an, würde sie ebenfalls als nationalistische Partei wahrgenommen, zumal noch immer viele die Europäische Union als Instrument der Völkerverständigung und Befriedung in Europa missverstehen, auch wenn sie die derzeitige EU kritisch sehen.
Zugleich sollte DIE LINKE aber auch nicht auf eine vollkommen realitätsferne Perspektive hoffen, nämlich eine grundlegende soziale und demokratische Reform der EU. Stattdessen muss sie klar sagen: Dieses Projekt ist nicht zu retten. Zugleich sollte sie sich bei der bevorstehenden Europa- und bei anderen Wahlen dezidiert als Protestpartei gegen die bestehende Politik der EU positionieren.
Denn es gibt gegenwärtig keine durchsetzungsfähige Reformbewegung für eine andere EU. Was aber existiert, sind Massenproteste und Widerstand gegen die Versuche der europäischen Herrschenden, die Krise auf die Bevölkerung abzuwälzen. Aus solchem gemeinsamen Widerstand kann vielleicht irgendwann ein solidarisches Europa von unten wachsen.
Gemeinsam kämpfen in Europa
Die Forderung nach einem Austritt aus der EU oder dem Euro ist zwar unter dem Gesichtspunkt der Schwächung der deutschen Großmachtinteressen abstrakt richtig, würde aber hier den Widerstand gegen den Klassenkampf von oben in Europa eher schwächen.
DIE LINKE muss aber deutlich machen, dass sie nicht bereit ist, die EU oder den Euro auf Kosten der Bevölkerung zu retten. Sie muss nicht nur im Wahlkampf ihre Solidarität mit den Kämpfen in den Krisenländern sichtbar machen, zum Beispiel indem sie Redner aus anderen Ländern zu ihren Wahlkampfveranstaltungen einlädt.
Dafür sind Slogans geeignet wie »Kein Sozialabbau für den Euro«, »Wir zahlen nicht für ihre Krise«, »Sozialstaat retten, nicht die Banken«, die auf den Klassenkonflikt zuspitzen und propagandistisch an den Frontlinien der bestehenden Auseinandersetzungen ansetzen ‒ und nicht an technischen Diskussionen über Währungsräume.
Wir sollten nicht die EU und den Euro verteidigen, sondern die erkämpften Sozialstandards und demokratischen Rechte. Die Idee eines solidarischen Europas ohne Grenzen wird nicht über das Projekt EU und ihre gemeinsame Währung erreicht, sondern durch die gemeinsamen Kämpfe der Lohnabhängigen für ihre Interessen.
Damit uns im Wahlkampf zugehört wird, müssen wir vor allem diejenigen sein, die laut und deutlich den berechtigten Unmut der Bevölkerung über die EU äußern. Eine Diskussion über imaginierte Reformen der EU im Interesse der Bevölkerung in den Mittelpunkt zu stellen, würde nur unsere Glaubwürdigkeit schwächen und die Kritik relativieren.
Zur Person:
Werner Halbauer ist Mitglied im Sprecherkreis der Sozialistischen Linken Berlin.
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