In Ägypten tobt ein Machtkampf zwischen weltlichen und islamistischen Kräften. So stellen es zumindest die hiesigen Medien dar. Doch eigentlich ist es ein Konflikt zwischen arm und reich. Dabei spielt die wiederbelebte Gewerkschaftsbewegung eine Schlüsselrolle, beschreibt Mona Dohle
»Islamisten gewinnen die Wahlen«, lauteten die Schlagzeilen nach der ägyptischen Präsidentschaftswahl im vergangenen Sommer. Zugleich erklärten die westlichen Medien die Revolution für beendet. Tatsächlich gewann Mohammed Mursi, der Kandidat der Muslimbruderschaft, 51,7 Prozent der Stimmen.
Doch ist es irreführend, nur das Wahlergebnis zu betrachten. Der Kampf für soziale Gerechtigkeit manifestiert sich viel mehr in der Arbeiterbewegung, die seit dem Sturz des Diktators Mubarak enorme Fortschritte gemacht hat.
Streiks gegen Mubarak
Streiks haben seit Dezember 2006 eine Schlüsselrolle im Kampf gegen Mubarak gespielt – und das obgleich die Arbeiterbewegung von der staatlichen Gewerkschaft ETUF dominiert wurde, die Streikbewegungen zu lähmen versuchte. In der Revolution selbst haben Ausstände der Suezkanalarbeiter, der Textilarbeiterinnen und der Busfahrer zum Wendepunkt beigetragen. Als sich schließlich im Februar 2011 die Massenproteste mit den Streiks verbanden, wurde Mubarak in die Knie gezwungen.
Ermutigt von diesen Erfolgen gründete sich im Herbst 2011 die Ägyptische Föderation unabhängiger Gewerkschaften (EFITU), die im Oktober 2012 bereits 2,5 Millionen Mitglieder hatte. Die dort zusammengeschlossenen Gewerkschaften bildeten das Rückgrat der Streiks des vergangenen Jahres. Allein im August und September fanden 1500 Ausstände statt. Hier ging es sowohl um Lohnforderungen als auch um die Entfernung der Kräfte des alten Regimes aus den Betriebsleitungen. Die Bewegung ist sehr dynamisch, aber oft auch sehr fragmentiert: Streiks laufen scheinbar neben politischen Konflikten, ohne sich mit ihnen zu verbinden.
Doch die Kämpfe für ökonomische wie für politische Forderungen sind Teil desselben Prozesses. Mehr als 80 Prozent aller Ägypter sehen laut einer Umfrage des Pew-Forschungszentrums die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage als dringendste Aufgabe an. »Aysh, hurriyah adala igtama’eya« (»Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit«) war ein zentraler Slogan der Revolution.
Hoffnung der Massen
Auch wenn die Organisation der Muslimbrüder am Anfang nicht Teil der Revolution war und erst später auf den fahrenden Zug aufsprang, konzentrierte sich die Hoffnung der Massen auf sie. Es war der Linken nicht möglich, innerhalb der wenigen Wahlkampfmonate eine Bewegung aufzubauen, die mit der in Jahrzehnten entwickelten Struktur der Muslimbruderschaft konkurrieren konnte.
In einer politischen und wirtschaftlichen Krisenlage entschieden sich die Ägypter für die größte und bekannteste Oppositionskraft. Die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit, der politische Arm der Muslimbruderschaft, und ihre Bündnispartner in der Demokratischen Allianz erhielten bei der Parlamentswahl im Januar 2012 zusammen fast fünfzig Prozent der Stimmen.
Erste Phase der Revolution
In gewisser Hinsicht ähnelt die Regierung der Muslimbruderschaft der Kerenski-Regierung während der Russischen Revolution im Jahr 1917. »Kleinbürgerliche Idealisten, die über die Klassen hinwegblicken, in fertigen Schablonen denken, nicht wissen, was sie wollen, und allen das Allerbeste wünschen, sind in diesem Stadium die einzig denkbaren Führer der Mehrheit.« So beschrieb Leo Trotzki damals die Regierung des Sozialrevolutionärs Alexander Kerenski. Für ihn illustrierte dieser die »nationale Formlosigkeit in der ersten Phase der Revolution.«
Auch Mursi kam an die Macht, weil er in turbulenten Zeiten das Land zu vereinen schien. Sein Wahlsieg wurde in einer Stichwahl zwischen ihm und dem Kandidaten des Obersten Militärrats (SCAF), Ahmed Schafik, entschieden. Nur wenige Wochen nach der Wahl setzte Mursi mit Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi den Kopf des zuvor allmächtigen SCAF ab. Wirtschaftspolitisch hat er aber kaum den Kurs seiner Vorgänger verändert.
Ägyptens Wirtschaft kriselt
Die ägyptische Ökonomie befindet sich in einer kritischen Lage. Seit Januar 2011 ist der Wert des ägyptischen Pfunds stark gesunken, was sich unmittelbar auf die Kaufkraft der Bevölkerung auswirkt. Während die Währungsreserven dahinschmelzen, steigen die Staatsschulden. Auf den globalen Finanzmärkten wird Ägypten als ein riskanter Schuldner gesehen, selbst bei inländischen Banken muss der Staat mehr als 16 Prozent Zinsen bezahlen.
In dieser Krise bietet der Internationale Währungsfonds (IWF) Ägypten an, dem Land mehr als 4,8 Milliarden Dollar zu leihen – bei nur einem Prozent Zinsen. Im Gegenzug erwartet der IWF allerdings drastische wirtschaftliche Reformen, insbesondere Kürzungen der Staatssubventionen, die momentan dreißig Prozent der Haushaltsausgaben ausmachen.
Widersprüchliche Muslimbruderschaft
Mursi nutzte im Wahlkampf seinen Ruf als gläubiger Mann, um Vertrauen bei den Wählern zu gewinnen. Doch die Muslimbruderschaft spielt eine widersprüchliche Rolle. Führende Mitglieder sind Unternehmer, die wie der IWF an Privatisierungsmaßnahmen Interesse haben. Doch der Großteil der Mitglieder der Bruderschaft kommt aus der Arbeiterklasse und hat sich aktiv an der Revolution beteiligt.
Mursi versucht also, zwei unversöhnliche Standpunkte zu vereinen. Vor der Wahl haben führende Muslimbrüder die Konditionen des IWF als »Riba« (Wucher) verurteilt, was nach islamischem Recht illegal ist. Es waren Aussagen wie diese, die den Muslimbrüdern an die Macht verhalfen. Doch nach den Wahlen machte ihr Präsident Mursi eine schnelle Kehrtwende. Plötzlich fanden sich Koranzitate, die bewiesen, dass diese speziellen IWF-Bedingungen kein Wucher seien.
Kräfte des alten Regimes
Die wirtschaftspolitische Fügung unter das Diktat der Gläubiger und Märkte zersetzt das Vertrauen, dass viele der Arbeiterinnen und Arbeiter den Muslimbrüdern entgegengebracht hatten. Gleichzeitig steht Mursi weiterhin unter dem Druck der Kräfte des alten Regimes, die eine Restauration ihrer Macht durch die Kontrolle der Justiz erlangen wollen.
Nur Wochen nach der Wahl ging der Präsident deshalb in die Offensive und eignete sich diktatorische Befugnisse an, die ihm unter anderem die vollständige Kontrolle über die Gesetzgebung verschafften. Auch die neue Verfassung spiegelt in keiner Weise den revolutionären Prozess wider. Das ist jedoch kein Schritt zum Islamismus, sondern der Versuch, die eigene Position an der Spitze des Regierungsapparates zu halten.
Entfremdung von Mursi
Präsident Mursi schwankt ständig zwischen Bewegung und altem Regime, je nachdem, woher der stärkere Druck kommt. Er sucht dabei das Bündnis mit Teilen des Militärs, denen er lukrative Positionen in Unternehmen zuschanzt. Dies verstärkt die Entfremdung von der eigenen Basis.
Für viele gläubige Muslime wird nun deutlich, dass eine islamische Regierung nicht automatisch soziale Gerechtigkeit garantiert. Hier öffnet sich ein Raum für eine neue Linke. So gab es bei der Präsidentschaftswahl im Frühsommer 2012 zunächst eine Überraschung: Mursi ging zwar als stärkster Kandidat aus der ersten Runde hervor, konnte aber lediglich 24,7 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Der gemäßigt linke Kandidat Hamdin Sabahi kam auf überraschende 20,7 Prozent.
Ägyptens Linke wächst
Sabahis Wahlergebnis ist einmalig in Ägypten. In der Vergangenheit hatte die Linke durch Allianzen mit dem Regime von Nasser und ihren notorischen Antiislamismus viel Vertrauen bei den Arbeiterinnen und Arbeitern verloren. Seit der Revolution bieten sich neue Möglichkeiten für die Linke. Davon zeugt die Popularität von Sabahi, aber auch der Erfolg radikalerer linker Gruppe wie der »Revolutionären Sozialisten« (RS). Statt den Schwerpunkt auf Wahlkämpfe zu legen, intervenieren sie vor allem im Aufbau der verschiedenen sozialen Kämpfe, die plötzlich überall aufflammen.
Die RS gewannen innerhalb kürzester Zeit hunderte neue Mitglieder, die Nachfrage nach der Zeitung »el Ishtraki« (»Der Sozialist«) nahm so vehement zu, dass man mit der Produktion kaum nachkam. Mittlerweile hat sich die Auflage verdoppelt. Inzwischen sind die roten Flaggen der verschiedenen sozialistischen Organisationen ein fester Bestandteil fast jeder großen Demonstration. Die RS spielen eine Schlüsselrolle in der Vernetzung der verschieden Kämpfe, von Studenten und Fußballfans bis zu gläubigen Hausfrauen, Busfahrern und Textilarbeiterinnen.
Beten und streiken
Das Wachstumspotenzial für die revolutionäre Linke illustriert der Fall von Tarek el-Beheiry, einem führenden Gewerkschafter der Transportarbeiter. Als Salafist betete er vor der Wahl zusammen mit Spitzenvertretern der Muslimbruderschaft und half ihnen, Stimmen in der Transportgewerkschaft zu gewinnen.
Als er nach der Wahl wieder einen Streik mitorganisierte, wurde er verhaftet. Obwohl er noch immer ein gläubiger Muslim ist, hat Tarek mittlerweile sein Vertrauen in die Muslimbruderschaft verloren, auf politischer Ebene arbeitet er nun mit den Sozialisten zusammen.
Arbeiterklasse auf der Suche
Derzeit befindet sich Ägypten in einem politischen Vakuum, in dem Arbeiter wie Tarek el-Beheriy sich zunehmend offen gegenüber sozialistischen Ideen zeigen. Doch die Linke steht vor enormen Herausforderungen. Zwar zeigt Mursi momentan alle Schwächen, für die in der Russischen Revolution Kerenski als Mann der Mitte stand.
Aber im Gegensatz zur damaligen Situation in Russland verfügt die revolutionäre Linke in Ägypten heute noch über zu wenig organisatorisches Gewicht, um den Machtapparat zu stürzen und die Kontrolle über den Staat übernehmen zu können. Genau das wäre jedoch notwendig, um sich vom Kapitalismus zu befreien und die Revolution zum Sieg zu führen.
Trotzki beschrieb die Russische Revolution als einen »Prozess der sukzessiven Annäherungen«. Schritt für Schritt bewegte sich auch die ägyptische Arbeiterklasse auf die Muslimbrüder zu. Nun ist sie auf der Suche nach einer neuen Organisationsform, die die Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit erfüllen kann. In Anbetracht dieser Herausforderungen ist der Aufbau einer politischen Alternative für die ägyptische Arbeiterklasse wichtiger denn je.
Zur Person:
Mona Dohle hat in den Niederlanden und Palästina studiert und in Ägypten als Journalistin gearbeitet. Gegenwärtig lebt sie in London.
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