Vor zehn Jahren kündigte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder die Agenda 2010 an. Es folgte der bis heute größte Angriff auf den Sozialstaat nach dem Krieg
Die Ankündigung der Agenda 2010 vor zehn Jahren löste in der Arbeiterbewegung Debatten und Proteste aus. Zunächst mündeten sie in Demonstrationen, später in die Gründung der WASG und schließlich der LINKEN. Um Schröders Angriff einzuordnen, verfasste Volkhard Mosler damals eine Broschüre. marx21 veröffentlicht hier die ersten beiden Kapital, die zeigen, dass Schröders Projekt der Ausbau der deutschen Stellung in Europa und der Welt war
Der frühere IG Metall-Vorsitzende Klaus Zwickel nannte die Agenda 2010 der rot-grünen Bundesregierung den »schärfsten Angriff auf den Sozialstaat seit dem Krieg«. Die Agenda 2010 unterscheidet sich von früheren Kürzungsprogrammen nicht nur in ihrem Ausmaß, sondern auch in ihrer Qualität. Ihre Zielsetzung ist ein neues Kräfteverhältnis zwischen Kapital (den Interessen der Unternehmer) und Arbeit (den Interessen der abhängig Beschäftigten und Arbeitslosen). Dieses Kräfteverhältnis soll zu Gunsten des Kapitals verschoben werden, um die allgemeine Profitrate zu steigern.
Seine besondere Note erhält dieser Raubzug im Interesse der Reichen und Konzerne dadurch, dass er von einer sozialdemokratisch geführten Regierung durchgeführt wird. Der Angriff wird von der Unternehmerklasse angetrieben, von den Medien und den bürgerlichen Parteien (CDU, CSU und FDP) unterstützt und auf die Ebene der Länder und Gemeinden ausgedehnt. Die Arbeitgeberverbände nutzen ihrerseits die gemeinsame Offensive von Bund und Ländern, um die geltenden sozialen Standards in der privaten Wirtschaft zu zerschlagen. Sie wollen niedrigere Löhne, längere Arbeitszeiten und weniger Mitbestimmungsrechte in den Betrieben und Verwaltungen durchsetzen.
Sie alle sehen in den Maßnahmen der Schröder-Fischer-Regierung nur einen Anfang, einen Türöffner. So meint der frühere SPD-Geschäftsführer und heutige Unternehmensberater Matthias Machnig, die Sozialreformen der Agenda 2010 »bewirken wenig, bereiten aber wirklichen Sozialreformen den Weg«. Die rechtskonservative Tageszeitung »Die Welt« kommentierte, die Schröder-Jahre seien »nur das Vorspiel für einen gesellschaftlichen Rückbau«. Der BDI-Präsident Michael Rogowski wünscht sich gar »ein großes Lagerfeuer, um das Betriebsverfassungsgesetz und die Tarifverträge hineinzuwerfen«.
Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) stellt den von ihm eingeleiteten Generalangriff auf die sozialen Rechte der Lohnabhängigen und Arbeitslosen als Verteidigung des Sozialstaats hin und versucht so, seine Wählerschaft zu beruhigen. In seiner Agenda-2010-Rede am 14. März 2003 hat er versichert, dass es seiner Regierung »nicht darum geht, dem Sozialstaat den Todesstoß zu geben«. Vielmehr gehe es um seinen »Umbau und seine Erneuerung«, um seine Substanz zu erhalten. Mit dem, was Schröder in Orwellscher Verkehrungssprache »Reform« des Sozialstaats nennt, soll – so verspricht er zudem – »Deutschland bis zum Ende des Jahrzehnts bei Wohlstand und Arbeit wieder an die Spitze« gelangen.
Gerhard Schröder und mit ihm die Führung der Sozialdemokratie auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene, haben sich zum Anwalt einer neoliberalen Reaktion auf die Wirtschaftskrise gemacht. Diese Strategie besagt in ihrem Kern, dass es der großen Mehrheit der lohnabhängigen Klassen (Arbeiterklasse und unterer neuer Mittelstand, das sind über 80 Prozent der Bevölkerung), erst einmal wesentlich schlechter gehen muss, damit sich eine kleine Minderheit von Kapitalisten, also diejenigen, deren wesentliches Einkommen nicht auf Erwerbsarbeit, sondern auf Kapitalprofiten basiert, auf ihre Kosten bereichert. Dieser Logik zufolge führen niedrigere Löhne und Sozialausgaben zu höheren Gewinnen, damit zu höheren Investitionen und schließlich zu mehr Arbeit und Wohlstand und Reichtum für alle.
Dieser Traum Gerhard Schröders hat allerdings verschiedene Bruchstellen. Eine höhere Ausbeutungsrate – das heißt die Erhöhung der unbezahlten und vom Kapitalisten einbehaltenen Arbeitsleistung (Mehrwert) im Verhältnis zur bezahlten Leistung (Lohn) – führt nicht automatisch auch zu höheren Profiten, denn die Unternehmer müssen ihre Waren erst einmal am Markt verkaufen, bevor der den Arbeitern abgepresste Mehrwert zu Profit wird. Tatsächlich besteht im Kapitalismus eine beständige Gefahr, dass das Angebot an Waren die Nachfrage überschreitet. Die Gesetzmäßigkeiten dieses Ungleichgewichts hat Karl Marx vor über 150 Jahren entdeckt und analysiert. Sie haben seitdem nichts von ihrer zerstörerischen Kraft eingebüßt.
Die Sozialdemokratie demontiert den Sozialstaat
Die eigentliche Tragik dieses Angriffs besteht jedoch nicht einmal in seinem Ausmaß, sondern darin, dass er von einer sozialdemokratischen Bundesregierung verantwortet wird. Nie zuvor hat es ein sozialdemokratischer Reichs- oder Bundeskanzler gewagt, den Sozialstaat und die sozialen Rechte der abhängig Beschäftigten so zu demontieren. Und nie zuvor haben die Taten einer sozialdemokratischen Regierung den Worten ihres Wahlprogramms so offen und grundsätzlich widersprochen wie unter Kanzler Schröder: »Wir bekennen uns zur besonderen Verantwortung gegenüber den Schwächeren in unserer Gesellschaft.« So lesen wir es jedenfalls im Wahlprogramm der SPD aus dem Jahr 2002. Oder: »Flexibilität darf nicht zulasten sozialer Sicherheit gehen«. Oder: »Die Ungleichheit in der Verteilung der Einkommen und Lebenschancen bleibt nach wie vor eine große Herausforderung.« Kein SPD-Bundestagsabgeordneter würde sich im Frühjahr 2004 noch trauen, solche Sätze in den Fluren von Arbeitsämtern oder Sozialrathäusern laut vorzutragen, weil solche Sätze inzwischen nach Hohn und Spott klingen.
Die Liste der mit der »Agenda 2010« gebrochenen Wahlversprechen der SPD ist bemerkenswert. Im Wahlprogramm heißt es über die gesetzliche Arbeitslosenversicherung: »Wir wollen im Rahmen der Reform der Arbeitslosen- und Sozialhilfe keine Absenkung auf das Sozialhilfeniveau.« Die Agenda 2010 sieht jedoch genau dies vor. Über den Flächentarifvertrag heißt es im SPD-Wahlprogramm noch, er habe »sich bewährt … Notwendige Reformen werden wir auch weiterhin … mit den Sozialpartnern abstimmen«. In seiner Agenda-Rede drohte Schröder dagegen den Gewerkschaften mit einer gesetzlichen Regelung auch gegen ihren Willen. Wenn sie nicht bereit seien, in den Tarifverträgen »Optionen zu schaffen, die den Betriebspartnern Spielräume bieten, wird der Gesetzgeber zu handeln haben«. Ein unverhohlener Versuch der Erpressung gegen die Gewerkschaften, die so vor die Alternative von Selbstmord oder Mord, von »freiwilliger« oder gesetzlich erzwungener Durchlöcherung des Flächentarifvertrags gestellt werden.
Im Wahlprogramm 2002 wird weiterhin gefordert, »dass jeder einen seiner Leistungsfähigkeit entsprechenden Beitrag im Rahmen einer gerechten … Besteuerung des Einkommens aus Arbeit und Vermögen leistet«. Auch diese Sätze klingen zwei Jahre später wie ein schlechter Witz. Entspricht es dem Prinzip einer »leistungsgerechten« Besteuerung, wenn Sozialhilfeempfänger 10 Euro pro Arztbesuch und noch einmal soviel für jedes Rezept bezahlen müssen? Wie »leistungsgerecht« sind das Absenken der Kilometerpauschale und der Arbeitnehmerpauschale für Werbungskosten, die Erhöhung der Tabaksteuer und höhere Steuern für Alleinerziehende, wenn zugleich der Spitzensteuersatz für Reiche und Superreiche von 48,5 auf geplante 42 Prozent im Jahr 2005 gesenkt wird?
Gegenüber früheren konservativen und sozialdemokratischen Angriffen auf den Sozialstaat unterscheiden sich die Maßnahmen der Agenda 2010 in einem entscheidenden Punkt: das bisherige Finanzierungsprinzip der staatlichen Sozialversicherungen beruhte (mit Ausnahme der Unfallversicherung) auf der paritätischen (hälftigen) Belastung von Unternehmern und Lohnabhängigen. Dieses Prinzip wurde schon von der Regierung Kohl ausgehöhlt, z.B. durch die Streichung eines Feiertages bei der Einführung der Pflegeversicherung und durch die stetigen Erhöhungen von Zuzahlungen im Gesundheitswesen durch die Patienten. Schon vor Einführung der neuen Zuzahlungen für Arzneimittel und Arztbesuche ab 2004 hatten die Arbeitnehmer etwa 60 Prozent, die Arbeitgeber nur noch 40 Prozent der Krankheitskosten aufzubringen. Die Teilprivatisierung der Altersvorsorge durch Einführung der Riester-Rente (2001) und die Ausklammerung immer weiterer Leistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung (Brillen, Zahnersatz), sowie drastische Erhöhungen der Zuzahlungen für Medikamente und ärztliche Dienste werden dem bisherigen Prinzip der paritätisch finanzierten Sozialversicherung einen weiteren, schweren Schlag versetzen.
Wie weit sich die SPD bei der Gesundheitsvorsorge von ihrer eigenen Tradition als Reformpartei entfernt hat, lässt sich an ihren früheren Beschlüssen ersehen. 1964 hatte sie auf ihrem Karlsruher Parteitag unmissverständlich beschlossen: »Im Gegensatz zur amtierenden Bundesregierung (CDU/CSU und FDP, V.M.), die ihren Willen darauf konzentrierte, Kostenbeteiligungen einzuführen, den Weg zum Arzt zu erschweren … lehnen die Sozialdemokraten jede Form von Kostenbeteiligung für ärztliche und zahnärztliche Behandlung, Arzneien und Heilmittel sowie Krankenhausbehandlung ab.«
Im Wahlprogramm der SPD 1994 hieß es etwas vorsichtiger: »Es bleibt bei unserer Ablehnung eines weiteren Ausbaus der Selbstbeteiligung der Krankenversicherten.« Und im Wahlprogramm 2002 noch einmal: »Das Prinzip des solidarischen Gesundheitswesens bleibt richtig – die Solidarität zwischen Gesunden und Kranken, ebenso die paritätische Finanzierung der Krankenversicherung«.
Dass schon die Riester-Rente eine neue Qualität des Angriffs auf das bisherige Versicherungssystem war, hat Schröder in seiner Agenda-Rede ausdrücklich hervorgehoben. An die Abgeordneten von CDU/CSU und FDP gewandt, rief er – abweichend vom schriftlichen Redekonzept: »Wir und nicht Sie haben die kapitalgedeckte private Vorsorge, die die zweite Säule der Rentenversicherung darstellt, auf den Weg gebracht. Unter Ihrer Führung ist mit solchen Reformen nicht begonnen worden.«
Dies war eine Botschaft an das Unternehmerlager: nur die Sozialdemokratie konnte es wagen, das bisherige Sozialversicherungssystem grundsätzlich in Frage zu stellen, wie das die Riester-Rente tat.
Und Schröder hat in diesem Punkt Recht: der große Angriff auf den Sozialstaat gelang erst einem sozialdemokratischen Kanzler, während die Regierung Kohl (CDU) damit in ihrer Endphase am wachsenden Widerstand der Arbeiterschaft und ihrer Gewerkschaften scheiterte. Es wäre eine gröbliche Unter- und Fehleinschätzung der Agenda 2010 und des mit ihr eingeschlagenen sozialpolitischen Kurses, darin in erster Linie den Versuch einer »Kostensenkung für den Staat« zu sehen, wie z.B. die »Frankfurter Rundschau« schrieb. Wer Schröders Angriff auf den Sozialstaat in seiner wirtschaftspolitischen Logik verstehen will, darf auch nicht davon ausgehen, es handele sich hier um das Bestreben – wie Gerhard Schröder beschwichtigend beteuert – den Sozialstaat »in seiner Substanz« zu erhalten. Es geht der rot-grünen Bundesregierung vor allem darum, die Nettogewinne der Unternehmer zu steigern.
Die Macht des Kapitals soll gestärkt werden
Das Hauptziel der Agenda, die Stärkung der Kapitalseite gegen die Arbeiterschaft zur Erhöhung der allgemeinen Ausbeutungsrate, ergibt sich erst aus der Kombination des gesamten Maßnahmepakets der Agenda 2010. Dazu gehören Verschlechterungen des Kündigungsschutzes (Abschaffung des Kündigungsschutzes für Kleinbetriebe, weitgehende Abschaffung der Sozialauswahl bei Massenentlassungen), die Förderung eines Niedriglohnsektors (Ausweitung der Minijob-Regelung, Einführung des sogenannten Kombi-Lohns), die Verschlechterung der rechtlichen Chancen für eine arbeitsgerichtlich durchgesetzte Abfindung und eine nochmalige Verschärfung der Zumutbarkeitsbedingungen bei der Arbeitssuche (Arbeitslose müssen auch bereit sein, zu schlechteren als tariflichen oder ortsüblichen Bedingungen Arbeit aufzunehmen).
Alle diese Maßnahmen bringen dem Staat keinerlei Ersparnis, verschlechtern aber die rechtliche Lage der Arbeitnehmer im Kündigungsfall beträchtlich und vergrößern so die Ängste der Beschäftigten vor Arbeitslosigkeit. Zugleich unterstützt die Schröder-Regierung die Unternehmerkampagne gegen den Flächentarifvertrag durch die Drohung mit einer »gesetzlichen Regelung«, d.h. eines staatlichen Zwangseingriffs in die Tarifautonomie. Sie will so die Gewerkschaften zu einer »freiwilligen« Aufweichung und Aufgabe der Flächentarifverträge zwingen, die heute immerhin noch für 70 Prozent aller Arbeitsverhältnisse in Westdeutschland und 55 Prozent in Ostdeutschland Mindestlöhne und Maximalarbeitszeiten festschreiben.
Verschärfung der Konkurrenz
Diese Maßnahmen zielen auf die Verschärfung der Konkurrenz zwischen Arbeitslosen und Beschäftigten. Diese Konkurrenz ist umso schärfer, je geringer die sozialen Rechte der Arbeitslosen und je größer die Angst der Beschäftigten vor einem Absturz in die Arbeitslosigkeit. Karl Marx hat den Zusammenhang von beiden Teilen der Arbeiterklasse, ihrer »Reserve« (Arbeitslose) und ihres aktiven Teils (Beschäftigte), so beschrieben:
»Die Überarbeitung des beschäftigten Teils der Arbeiterklasse schwellt die Reihen ihrer Reserve, während umgekehrt der vermehrte Druck, den die letztere durch ihre Konkurrenz auf die erstere ausübt, diese zur Überarbeit und Unterwerfung unter die Diktate des Kapitals zwingt. Die Verdammung eines Teils der Arbeiterklasse zu erzwungenem Müßiggang (!) durch Überarbeit des anderen Teils, und umgekehrt, wird Bereicherungsmittel des einzelnen Kapitalisten.«
Ganz in diesem Sinn zielt das Maßnahmenpaket der Agenda 2010 auf die Bereicherung nicht nur des einzelnen Kapitalisten, sondern ihrer gesamten Klasse. Die Arbeiter versuchen, mit ihren Gewerkschaften Schutzdämme gegen die Konkurrenz untereinander zu errichten, die Schröder-Regierung gewährt den Arbeitgeberverbänden Schützenhilfe dabei, diese Dämme einzureißen.
Zu Recht werfen Gewerkschafter Schröder vor, er betreibe eine »Umverteilung von unten nach oben«. Dabei schlägt er zwei Wege ein, die zum gleichen Ziel führen: zur Erhöhung der Nettoprofitrate der Kapitalbesitzer, d.h. jenes Profits, der ihnen nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben verbleibt Die erste Gruppe von Maßnahmen der Agenda 2010 beeinflussen das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit zugunsten der Kapitalseite »beim Backen des Kuchens«, d.h. in der Produktion. Zu dieser Gruppe gehören die Aushöhlung bzw. Abschaffung von Schutzrechten der Arbeitslosen und Beschäftigten – mit dem Ziel der Erhöhung der Konkurrenz untereinander. Das Verhältnis des Lohns zu den von den Arbeitern geschaffenen Werten wird damit beeinflusst: der Anteil der unbezahlten Arbeitsleistung, oder wie Marx sagt, die Ausbeutungsrate, wird dadurch erhöht. Das Absinken des Krankenstandes im Jahr 2003 auf seinen niedrigsten Stand (3,3 % März 2004) seit Einführung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auch für Arbeiter im Jahr 1970 ist ein verlässlicher Indikator dafür, dass die Angst vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg stark zugenommen hat.
Die zweite Gruppe von Maßnahmen betrifft den »Soziallohn« der Arbeiter. Denn die Renten, das Pflegegeld, Lohnersatzleistungen, Sozialhilfe und alle anderen Leistungen des Wohlfahrtsstaates gehören ebenso zum effektiven Einkommen der Arbeiterfamilien wie der ausbezahlte Lohn. Weil Rentner, Kinder, Sozialhilfeempfänger, Behinderte, Arbeitslose und andere Empfängergruppen keine schlagkräftigen Organisationen haben, ist der Soziallohnanteil der arbeitenden Klassen noch leichter angreifbar als der ausbezahlte Lohn.
Zwar wurde auch bisher schon der größte Anteil des Wohlfahrtsstaates von den Lohnabhängigen selbst über Abgaben und Steuern bezahlt. Aber die bisherige Regelung, nach der die Unternehmer für 50 Prozent der Lohnnebenkosten aufkommen mussten, war eine effektive Einkommenserhöhung für die Arbeiterklasse.
Schröder wollte davon ablenken, als er in seiner Agenda-Rede scheinbar bekümmert beklagte, die »Lohnnebenkosten haben eine Höhe erreicht, die für die Arbeitnehmer zu einer kaum mehr tragbaren Belastung geworden ist.« In Wahrheit müssen die Arbeitnehmer durch immer höhere Zuzahlungen und Eigenbeteiligungen einen immer größeren Anteil der sozialen Leistungen alleine bezahlen.
Die Kampagne gegen zu hohe Lohnnebenkosten in Deutschland läuft daher auf eine »staatlich verordnete Lohnsenkung« hinaus, wie der frühere IG-Metall-Vorsitzende Klaus Zwickel richtig kritisiert hat. Und alle Pläne auf Einführung einer Bürgerversicherung an Stelle der bisherigen Krankenversicherung müssen daraufhin kritisch überprüft werden, wie sie sich auf die Belastung der gesellschaftlichen Klassen auswirken. Eine rein steuerfinanzierte Krankenversicherung würde nur keine Verschlechterung der sozialen Lage der Arbeiterschaft mit sich bringen, wenn die dafür nötigen Steuern zumindest zur Hälfte von den Reichen und Kapitalbesitzern aufgebracht werden müsste. Die bisherigen Pläne einer Bürgerversicherung von SPD und Grünen sehen dies jedoch nicht vor und sind deshalb abzulehnen.
USA: Vorbild und Konkurrent
Überschrieben hatte Schröder seine Agenda-Rede kurz vor Ausbruch des zweiten Irakkrieges der USA mit dem Motto. »Mut zum Frieden – Mut zur Veränderung«. Darin zieht Schröder eine direkte Verbindung zwischen »Friedenserhaltung« und Sozialabbau. Wer auch weiterhin wolle, dass Deutschland und die EU ein Block des Friedens sei, der müsse für ein wirtschaftlich starkes Deutschland eintreten. Die Agenda 2010 sei wichtig, damit ein wirtschaftlich wieder stärkeres Deutschland in einem starken Europa auch in Zukunft die »Unabhängigkeit unserer Entscheidungen … in einer multipolaren Welt des Friedens und des Rechts« wahren könne.
Einen Monat zuvor waren Millionen weltweit und in Deutschland gegen den Krieg auf die Straßen gegangen. Im September 2002 hatten Millionen Rot-Grün ihre Stimme gegeben, weil sie gegen eine deutsche Kriegsbeteiligung im Irak eingetreten sind. Schröder nutzte seine Autorität als Gegner eines neuen Irakkrieges der USA für den Klassenkrieg nach innen. Die Argumente Schröders ähneln allerdings jenen des Fuchses, der die zu hoch hängenden Trauben als »zu sauer« verachtet: die »pazifistische« Ablehnung des Irakkrieges durch das »Alte Europa« ist Ausdruck seiner militärisch-politischen Schwäche und der Tatsache, dass die USA (zusammen mit Großbritannien) im Alleingang Öl, Reichtum und Märkte im Nahen Osten unter ihre Kontrolle bringen wollen. Sie sind nicht gewillt, die Beute mit ihren europäischen Verbündeten zu teilen, wie dies vielleicht noch in der Zeit des Kalten Krieges vor 1989 der Fall war. Solange das wirtschaftliche Wachstum in Deutschland und Frankreich niedriger ist als das der USA, werden die Eliten des »Alten Europas« keine Chance sehen, über eine auch nur annähernd gleiche militärische Feuerkraft zu verfügen wie die USA. Die Militärausgaben der USA von 396 Milliarden Dollar im Jahr 2003 waren mehr als diejenigen Europas, Japans und Russlands zusammen. (Die Kosten des Irakkrieges von 103 Milliarde Dollar nicht eingerechnet!) Die waffentechnische Überlegenheit sitzt bei wirtschaftlichen Verhandlungen in der Welthandelsorganisation, im Internationalen Währungsfonds oder bei den G 8-Treffen der größten Industriestaaten der Welt stets mit am Verhandlungstisch.
Für den deutschen oder französischen Kapitalismus wären eine Verdoppelung oder Verdreifachung ihrer Rüstungsausgaben nur dann akzeptabel, wenn sie allein von den abhängig Beschäftigten bezahlt würde. Das ist aber bei den heutigen politischen Regimes des alten Europa politisch nicht durchsetzbar – erforderte es doch eine wesentlich höhere Besteuerung der Arbeiterklassen oder eine riesige zusätzliche Neuverschuldung der Staaten, die das ohnehin wacklige Gefüge der Euro-Zone (»Stabilitäts- und Wachstumspakt«) zum Einsturz brächte. Die Rückgewinnung einer wirtschaftlichen Führungsrolle durch höhere Wachstumsraten ist daher aus der europäischen und deutschen Sicht der Schlüssel für ein stärkeres weltweites militärisches Gewicht und Engagement. Und so müssen wir Schröders Argument von der »starken« Friedensmacht Europa auch deuten: eine höhere allgemeine Ausbeutungsrate ist die unverzichtbare Voraussetzung für ein wirtschaftliches und damit politisch-militärisch starkes und geeintes Europa. Die Welt würde so jedoch nicht friedlicher: die politischen Spannungen zwischen Europa und den USA schärfer, die Welt hätte, wie in der Zeit des Kalten Krieges, nicht nur einen, sondern zwei oder mehr Weltpolizisten.
Der Zeitpunkt der Agenda-Rede, ihre zentrale Aussage (»Deutschland muss bis 2010 wieder Spitze werden«) ist durch die Umstände diktiert und signalisiert die Panikstimmung, in der sich die Regierung Schröder und das gesamte deutsche Establishment befanden. Der Winter 2002 war aus ihrer Sicht in jeder Hinsicht ein Krisenwinter. Die Welt hatte sich von einer Wirtschaftskrise, die im Jahr 2000 die USA, Europa und schließlich fast alle Industriestaaten erfasste, noch nicht erholt. Die deutsche Wirtschaft war in Stagnation verfallen, ohne große Aussicht aus dieser heraus zu kommen. Der Irakkrieg der USA schien unausweichlich und wurde als Symbol einer neuen, einseitigen Machtpolitik der USA (»Unilateralismus«) für wirtschaftliche Zwecke gesehen. Die Epoche einer gemeinsamen und geteilten »westlichen« Interessenspolitik schien damit vorerst beendet. Die wirtschaftliche Schwäche Deutschlands wog nun umso schwerer, da die USA ihre militärische Übermacht viel skrupelloser an den Verhandlungstischen der Nato, der WTO, des IWF und der G 8-Treffen zur Geltung bringen könnte. Die Radikalität des Unilateralismus der Bush-Regierung in den Monaten der Kriegsvorbereitung warf auf die Stagnationskrise der deutschen Wirtschaft ein neues, grelles Licht: wirtschaftliche Schwäche bedeutet politische Schwäche und umgekehrt. Für das deutsche Establishment schien eine Spirale in den Abstieg aus dem Kreis der weltweit führenden Mächte nicht mehr unvorstellbar.
Langfristige Krisentendenz
Diese Krisenstimmung unterscheidet sich deutlich von der Zeit des langen Nachkriegsaufschwungs. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die USA durch permanent hohe Rüstungsausgaben ihre Wirtschaft »boomen« lassen und stellten so die Exportmärkte für Japan und Deutschland sicher. Bis Mitte der siebziger Jahre funktionierte das arbeitsteilige System. Der westdeutsche Kapitalismus konnte seine Konjunktureinbrüche von 1949, 1954, 1958, 1963, 1967 und mit Einschränkung 1975 durch Exportoffensiven erfolgreich überwinden. Bis Mitte der 80er Jahre gerieten die Länder mit hohen Rüstungsausgaben (USA, aber auch die UdSSR) gegenüber ihren schärfsten Wirtschaftskonkurrenten Japan und Deutschland in Rückstand, ihre alte Überlegenheit der Nachkriegszeit schien wirtschaftlich und politisch gebrochen.
Während die UdSSR und der gesamte Ostblock unter diesem Widerspruch zusammenbrach, gelang es den USA jedoch mit Hilfe einer Restrukturierung ihrer Wirtschaft, nicht zuletzt durch eine beträchtliche Schwächung der Gewerkschaften und den damit ermöglichten längeren Arbeitszeiten bei stagnierenden Löhnen, ihre Profitraten zu erhöhen (die Jahresarbeitszeit eines US-Arbeiters liegt um 25 Prozent höher als die eines deutschen oder französischen Arbeiters) und in den 90er Jahren wirtschaftlich wesentlich rascher zu wachsen als Japan und Deutschland. Das BIP (Bruttoinlandsprodukt) der USA wuchs von 1990 bis 2000 um jährlich 3,2 %, das Japans um 1,3 % und das Deutschlands um 1,9 %, wobei der Abstand zwischen Deutschland und den USA gegen Ende der 90er Jahre zunehmend größer wurde. Auch nach der Jahrtausendwende hat sich die Wachstumskluft weiter vergrößert. Von 2001 bis 2002 wuchs die amerikanische Wirtschaft um 5,9 %, die Deutschlands nur um 0,9 %.
Schon seit Beginn der 90er Jahre unterscheiden Wirtschaftswissenschaftler und Politiker zwischen einer weltweiten Wachstumsschwäche einerseits und einer besonderen deutschen bzw. kontinentaleuropäischen Schwäche andererseits. Neben der internationalen Konjunkturkrise gebe es eine deutsche bzw. europäische Strukturkrise. Und Schröder hat in seiner Agenda-Rede den Eindruck zu erwecken versucht, als könne Deutschland durch Überwindung seiner strukturellen Krise auch den Weg zu allgemeinem Wohlstand zurückfinden und die Massenarbeitslosigkeit überwinden.
Tatsache ist jedoch, dass die gesamte Weltwirtschaft seit den 70er Jahren in eine allgemeine Stagnation verfallen ist. Betrug das wirtschaftliche Wachstum der OECD-Staaten zwischen 1960 und 1973 jährlich 4,9 %, so fiel es in den darauffolgenden Perioden auf 2,8 % (1973-79), 2,6 % (1979-90) und 2,4 % (1990-97). Diese Stagnationskrise der Weltwirtschaft umfasst mehr oder weniger alle großen Industriestaaten.
Sinkende Profitrate
Dem Niedergang liegt ein ebenso allgemeiner Rückgang der Profitraten zugrunde, deren Ursache bereits von Karl Marx in seinem »Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate« entdeckt worden war. Marx zu Folge führen Investitionen, die von den einzelnen Unternehmen getätigt werden, um konkurrenzfähig zu bleiben, zwar zu einem Anstieg der Arbeitsproduktivität, die Arbeiter produzieren also je geleisteter Arbeitsstunde mehr. Dieser Anstieg ist jedoch geringer als die ebenfalls steigenden Investitionskosten für immer teurere Maschinen und Anlagen (fixe Kosten oder konstantes Kapital). Deshalb steigt das Verhältnis des eingesetzten Kapitals zum Produktionsergebnis. Dies führt – bei gleichbleibender Ausbeutungsrate, d.h. bei gleichbleibendem Verhältnis von bezahlter und unbezahlter Arbeitsleistung – zu einem Verfall der Profitrate.
Die Folge ist eine Zunahme der Zahl und des Ausmaßes von Investitionskrisen. Diese treten ein, wenn die voraussichtlichen Renditen neuer Investitionen nicht mehr den Erwartungen der Kapitalbesitzer entsprechen. Dann werden geplante Investitionen verschoben oder ganz gestrichen, und der Mangel an Investitionsnachfrage zieht eine sich ausweitende Absatzkrise der Wirtschaft und einen weiteren Rückgang der Investitionen nach sich. Überproduktion und Überkapazitäten sind die Folge. Die Krise im US-amerikanischen Technologiesektor und im europäischen Telekommunikationsbereich im Jahr 2000 sind typische Beispiele für solche Krisen , die im Investitionssektor entstehen. Nur eine scharfe Zinssenkung der US-Zentralbank, die die Konsumnachfrage förderte und die Bedingungen für die Finanzierung von Investitionen verbesserte, konnte die Ausweitung der Krise auf die gesamte US-Wirtschaft abfedern und eine scharfe weltweite Rezession verhindern. Angesichts historisch niedriger Zinsen sind die Möglichkeiten der US-Zentralbank jedoch damit weitgehend ausgeschöpft.
Der Niedergang der Profitraten hat seine Ursachen keineswegs in »zu hohen Lohnkosten« oder zu kurzen Arbeitszeiten, wie dies bürgerliche Ökonomen behaupten. Die realen Lohnerhöhungen waren in den Jahren der Stagnation wesentlich niedriger als in denen hoher Wachstumsraten in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. In Deutschland stiegen die realen Stundenlöhne beispielsweise in den 60er Jahren um 5,4 % jährlich, gegenüber 1 % in den 80er Jahren und 0,95 % in den 90er Jahren. Die Löhne haben die Krise also nicht ausgelöst. Sie waren und sind vielmehr ihrerseits eine vom wirtschaftlichen Wachstum abhängige Größe, die in keinerlei ursächlichen Zusammenhang mit den Krisen des Kapitalismus steht.
Schröders Wunschtraum
Schröder hat in seiner Agenda-Rede den Eindruck zu vermitteln versucht, als könne eine Senkung der Lohnkosten (er sprach mit Rücksicht auf seine Wählerschaft nur von den Lohnnebenkosten) die »Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und für mehr Beschäftigung« schaffen. Er versprach, dass er Deutschland mit den Mitteln seiner Agenda 2010 »bis zum Ende des Jahrzehnts … wieder an die Spitze bringen« werde. Schröder meint hiermit die Überwindung des Rückstands Deutschlands im Vergleich zu anderen Ländern, nicht der Wachstums- und Beschäftigungskrise an sich. Deutschland wäre dann »Spitze« wie der Einäugige unter den Blinden.
»Spitze« ist heute die US-Wirtschaft mit 4 % Wachstum im Jahr 2003. Selbst dieses vergleichsweise hohe Wachstum war nicht mit einer Verringerung der Arbeitslosigkeit, sondern sogar mit einer leichten Erhöhung um 0,3 % auf 6 % verbunden. Ursache für dieses »jobless growth«, Wachstum ohne Jobs, war im wesentlichen die unbezahlte Verlängerung der Arbeitszeit der Beschäftigten im Industrie- und Dienstleistungssektor. Die Schröder-Regierung und die deutschen Unternehmerverbände wollen nun nach amerikanischem Vorbild die Strukturkrise Deutschlands überwinden (längere Arbeitszeiten bei konstanten oder niedrigeren Löhnen). Angesichts der allgemeinen Nachfrageschwäche in Europa würde eine solche Mehrarbeit-Strategie jedoch nicht nur einen möglichen Abbau der Arbeitslosigkeit bei höherem Wachstum verhindern, sondern die Arbeitslosigkeit noch deutlich erhöhen.
Der Wunschtraum Schröders ist folgender: niedrigere Lohnkosten führen zur Verbesserung der Wettbewerbsposition der deutschen Exportindustrie. Dies würde bei sinkenden Produktionskosten zu mehr Exporten ins Ausland und damit zu höheren Gewinnen führen. Steigende Profite in wichtigen Industriezweigen, vor allem im Exportsektor, würden zu einem Nachfrageschub für einen sich in die Gesamtwirtschaft ausbreitenden und sich selbst tragenden Aufschwung führen. Mehr Arbeitsplätze und schließlich steigende Konsumentennachfrage wären die Folge. Aber diese Abfolge hat spätestens seit Beginn der achtziger Jahre nicht mehr funktioniert und wird heute bei stagnierender Weltkonjunktur, einer aggressiven exportorientierten Politik der USA als wichtigstem Abnehmerland des EU-Handelsblocks und eines fallenden Dollarkurses erst recht nicht mehr funktionieren.
Ausfall der USA als weltweiter Konjunkturmotor
Woher soll nun aber die Nachfrage nach deutschen Autos und Maschinen kommen, wenn die anderen europäischen Länder ebenfalls Arbeitskosten senken, staatliche Sozialleistungen kürzen und Arbeitszeiten unbezahlt verlängern? Die Hauptquelle zusätzlicher Nachfrage aus dem Ausland war in der Vergangenheit die Regierung der USA mit ihren riesigen Haushaltsdefiziten, mit denen sie Rüstungsaufträge und Kriege finanzierte. Solange die internationalen Wechselkurse stabil und der Dollarkurs gegenüber der Deutschen Mark überbewertet waren, also bis zu Beginn der 70er Jahre, konnte dieses System funktionieren Aber die Exporterfolge Deutschlands und Japans bedeuteten höhere Importe der USA und damit steigende US-Außenhandelsdefizite. Niedrige deutsche Importe und steigende deutsche Exporte ließen den Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands steigen und bewirkten eine starke Aufwertung der DM, die zur Verteuerung deutscher Produkte auf wichtigen Weltmärkten führte. Gerade die Exporterfolge unterhöhlten so ihre eigenen Voraussetzungen.
Der Ökonom und Historiker Robert Brenner fasst in einer ausführlichen Untersuchung über die USA und die Weltwirtschaft die Auswirkungen der langjährigen Exporterfolge Japans und Deutschlands zusammen. Sie liest sich wie eine vernichtende Kritik von Schröders Wachstumsträumen: »Die deutschen Hersteller mussten praktisch die gesamte aufwertungsbedingte Kostensteigerung auffangen, die sich in dem gleichen Zeitraum auf den internationalen Märkten auf durchschnittlich 4,2 % jährlich beliefen. Die deutschen Exporteure taten alles, um ihre Exportpreise niedrig zu halten um so ihr Exportwachstum und ihre Marktanteile zu erhalten … . In dem sie dies taten, opferten sie unweigerlich ihre Profite. Und gegen Ende des Jahrzehnts waren die Profitrate der Industrie nicht höher als Ende der 70er Jahre, als sie schon 10 Prozent niedriger als 1973 gewesen war, 36 Prozent niedriger als 1969 und 65 Prozent niedriger als 1955.«
Die Senkung der Lohnkosten aus der ersten Hälfte der achtziger Jahre unter Kanzler Helmut Kohl (CDU) wurde durch die DM-Aufwertung in der zweiten Hälfte wieder zunichte gemacht. Seitdem wiederholt sich dieses Schauspiel mit schöner Regelmäßigkeit nach jeder Rezession: anfängliche Exporterfolge führen zur Aufwertung der DM bzw. des Euros, die Exporterlöse sinken und mit ihr die Profitraten. Anstelle eines selbsttragenden Binnenaufschwungs droht schon die nächste Rezession. Die Kombination hoher Haushaltsdefizite, vor allem für Rüstung und Krieg, mit einem niedrigen Dollarkurz haben dazu geführt, dass die USA zwar immer noch die Konjunkturlokomotive der Weltwirtschaft ist, zugleich aber die Hauptkonkurrenz von Japan und Deutschland »abgehängt« wurde. Dies ist auch das grundlegende Dilemma der Schröder-Regierung: was sie heute an Lohnkosten und Sozialbeiträgen spart, um Deutsche Unternehmer im internationlen Konkurrenzkampf »Spitze« zu machen, wird morgen durch einen fallenden Dollarkurs wieder zunichte gemacht. Die allgemeine Stagnationstendenz der Weltwirtschaft führt zu einer ungeheuren Verschärfung der Konkurrenz, die auch den Kampf von Nationalstaaten und Handelsblöcken um Wechselkurse beinhaltet. Gemeinschaftliche Beschlüsse der großen Industriestaaten zur Lösung von internationalen Währungskrisen werden dadurch immer unwahrscheinlicher.
Die Agenda 2010 wird in dieser Situation zum deutschen Beitrag eines europäischen und weltweiten Wettlaufs um niedrigere Löhne, längere Arbeitszeiten und Kürzung von Sozialleistungen. Schröder will Deutschland an die »Spitze« einer stagnierenden Weltwirtschaft bringen und trägt so zur Verschärfung der Krisentendenzen und der weltweiten Konkurrenz bei. Der Kampf Japans und der EU gegen eine weitere Aufwertung ihrer Währungen (Yen und Euro) gegenüber dem Dollar ist Ausdruck und zugleich Bestandteil der Krise und der globalen Konkurrenz. älfte wieder zunichte gemacht. Seitdem wiederholt sich dieses Schauspiel mit schöner Regelmäßigkeit nach jeder Rezession: anfängliche Exporterfolge führen zur Aufwertung der DM bzw. des Euros, die Exporterlöse sinken und mit ihr die Profitraten. Anstelle eines selbsttragenden Binnenaufschwungs droht schon die nächste Rezession. Die Kombination hoher Haushaltsdefizite, vor allem für Rüstung und Krieg, mit einem niedrigen Dollarkurz haben dazu geführt, dass die USA zwar immer noch die Konjunkturlokomotive der Weltwirtschaft ist, zugleich aber die Hauptkonkurrenz von Japan und Deutschland »abgehängt« wurde.
Dies ist auch das grundlegende Dilemma der Schröder-Regierung: was sie heute an Lohnkosten und Sozialbeiträgen spart, um Deutsche Unternehmer im internationlen Konkurrenzkampf »Spitze« zu machen, wird morgen durch einen fallenden Dollarkurs wieder zunichte gemacht. Die allgemeine Stagnationstendenz der Weltwirtschaft führt zu einer ungeheuren Verschärfung der Konkurrenz, die auch den Kampf von Nationalstaaten und Handelsblöcken um Wechselkurse beinhaltet. Gemeinschaftliche Beschlüsse der großen Industriestaaten zur Lösung von internationalen Währungskrisen werden dadurch immer unwahrscheinlicher. Die Agenda 2010 wird in dieser Situation zum deutschen Beitrag eines europäischen und weltweiten Wettlaufs um niedrigere Löhne, längere Arbeitszeiten und Kürzung von Sozialleistungen. Schröder will Deutschland an die »Spitze« einer stagnierenden Weltwirtschaft bringen und trägt so zur Verschärfung der Krisentendenzen und der weltweiten Konkurrenz bei.
Der Kampf Japans und der EU gegen eine weitere Aufwertung ihrer Währungen (Yen und Euro) gegenüber dem Dollar ist Ausdruck und zugleich Bestandteil der Krise und der globalen Konkurrenz.
Zurück zur Wirtschaftsdepression der 30er Jahre?
In Schröders Streben nach »Spitze« drückt sich eine neue Qualität der Konkurrenz im globalisierten Kapitalismus aus. Wachstum, so scheint es, ist nur noch als Verdrängungswettbewerb möglich, wenn die eigene Nationalwirtschaft erfolgreicher ist als andere. Darauf hat Robert Brenner in der erwähnten Untersuchung ebenfalls hingewiesen. Der Aufschwung der USA in den 1990er Jahren war, so weist Brenner nach, zugleich ein erfolgreicher Verdrängungswettbewerb der US-Ökonomie gegen die Hauptkonkurrenten der Europäischen Union und Japan. Wo vor 20 Jahren zumindest noch punktuelle Absprachen und Vereinbarungen zwischen den großen Industrienationen zustande kamen, ist eine gefährliche national- bzw. blockspezifische »Betriebsblindheit« getreten.
Der gegenwärtig zu beobachtende Kampf um die Währungskurse und weltweite Absatzmärkte erinnert an den Anfang der 1930er Jahre, als Regierungen versuchten, durch Abwertung der nationalen Währung Exporte zu steigern und so Wachstum auf Kosten der anderen Volkswirtschaften zu erzielen. Im Ergebnis aber führte dies zu einem allgemeinen Abwertungswettlauf aller großen Industrienationen, der Deflation und Krise nur beschleunigte. Statt zur Überwindung der Krise beizutragen, könnte auch heute die in allen großen EU-Staaten stattfindende Welle des Abbaus von Renten- und Sozialsystemen die Krise dramatisch verschärfen.
Eine solche betriebswirtschaftliche und »betriebsegoistische« Sicht beherrscht auch das wirtschaftliche Denken und Handeln von Rot-Grün in Deutschland. Was ist unter einer betriebswirtschaftlichen Sichtweise zu verstehen?
Die Senkung der Lohnkosten und die Erhöhung der Ausbeutungsrate in einem einzelnen Unternehmen kann dazu führen, dass dieses einzelne Unternehmen höhere Gewinne macht als konkurrierende Firmen. Zugleich hofft der Eigentümer dieses Unternehmens darauf, dass die Arbeiter der konkurrierenden Firmen möglichst viele Waren kaufen, um seinen Umsatz zu erhöhen. Gerhard Schröder hat in seiner Neujahrsrede zum Jahreswechsel von 2003 auf 2004 diesen Widerspruch unfreiwillig ausgedrückt, als er die Bevölkerung dazu aufrief, mehr zu konsumieren und zugleich durch umfassende Kürzungen konsumfördernder Staatsausgaben den Menschen die Mittel zum Konsum einschränkte.
Karl Marx hat diesen Widerspruch zwischen Einzelkapitalist und Gesamtsystem so formuliert: »Mit Ausnahme seiner eigenen Arbeiter, erscheint jedem Kapitalisten gegenüber die Gesamtmasse aller andren Arbeiter nicht als Arbeiter, sondern als Konsumenten seiner Ware. … Er wünscht sich natürlich die Arbeiter der andren Kapitalisten als möglichst große Konsumenten seiner Ware. Aber das Verhältnis jedes Kapitalisten zu seinen Arbeitern ist das Verhältnis überhaupt von Kapital und Arbeit, das wesentliche Verhältnis.«
Dieses widersprüchliche Interesse jedes Einzelkapitalisten an größter Konsumtionskraft aller Arbeiter mit Ausnahme der von ihm (mit möglichst niedrigem Lohn) beschäftigten Arbeiter kann auch die Regierung Schröder nicht außer Kraft setzen. Die Schröder-Regierung ist in diesem realen Widerspruch des Kapitalismus gefangen, wenn sie auf immer höhere Exporte bei gleichzeitiger Beschränkung der Binnennachfrage durch Lohn- und Sozialabbau, aber auch durch eine sparsame, die Staatsverschuldung beschränkende Haushaltspolitikbaut. Wenn die Bundesregierung anstrebt, dass alle anderen Staaten mehr importieren, damit Deutschland exportieren kann, läuft dies auf den vergeblichen Versuch hinaus, die wirtschaftliche Krise und die Arbeitslosigkeit zu »exportieren«. Vergeblich muss dieser Versuch bleiben, weil andere Kapitalisten und kapitalistische Staaten das Gleiche zur gleichen Zeit versuchen.
Der Betriebsegoismus sieht aus der Sicht des einzelnen Betriebes rational aus. Aber diese Rationalität gleicht der eines Kinobesuchers, der bei dem Ausbruch eines Feuers versucht, als erster den Saal zu verlassen. Wenn er der Einzige wäre, könnte er mit diese Verhalten Erfolg haben. Weil aber alle anderen zugleich auf die Ausgangstür stürmen, kommt es zur Blockade und zur Katastrophe. Schröders Hoffnung, mit der Agenda 2010 auf einen nachhaltigen Wirtschaftsboom und eine Verringerung der Arbeitslosigkeit zu erreichen, ist auf Treibsand gebaut. Letztlich ist es die Furcht vor immer stärkerer wirtschaftlicher und politischer Abhängigkeit von den USA, die Schröder zu dem für die SPD selbstmörderischen Angriff auf den Sozialstaat antreibt.
Globalisierung und Agenda 2010
Die Historikerin Gabriele Metzler hat in ihrem Buch »Der deutsche Sozialstaat – vom Bismarckschen Erfolgsmodell zum modernen Pflegefall« die These aufgestellt, dass der Sozialstaat heute im Zeichen der Globalisierung der Wirtschaft »dem Druck der Globalisierung« nicht standhalten könne. Die Globalisierung verringere den Handlungsspielraum des Nationalstaates und gefährde deshalb auch den Sozialstaat, »der als ein nationalstaatliches Projekt entstanden« sei. 3 Ähnlich argumentiert Außenminister Joseph Fischer (Die Grünen), wenn er auf linke Kritiker einer »rot-grünen Absenkung der Sozialstandards auf allen Ebenen« antwortet: »Wir können auf Grund der nicht mehr vorhandenen Wirtschaftsgrenzen nicht weiter in nationalen Lösungen denken. Wir müssen Gerechtigkeit unter diesen neuen Rahmenbedingungen schaffen, die wir nur begrenzt bis gar nicht beeinflussen können.«
Gabriele Metzler widerlegt sich allerdings selbst. Denn sie zeigt, dass dieses Argument der internationalen Wirtschaftszwänge so alt ist wie die staatliche Sozialreform im Kapitalismus. Sie schreibt: »Unüberhörbar schwangen die Untertöne einer »Standort Deutschland«-Debatte bereits in den Auseinandersetzungen um die ersten Sozialgesetze mit.« Der damalige politische Führer der deutschen Sozialdemokratie, August Bebel, beschreibt in seinen »Erinnerungen« den Aufschrei der Empörung, der durch das bürgerliche politische Lager ging, als der damalige konservative Reichskanzler Bismarck 1881 im Reichstag einen Gesetzesentwurf zur Unfallversicherung einbrachte. Ihr Standardargument war damals schon das gleiche wie heute. »Die Lasten, die die Ausführung des Gesetzentwurfes den Unternehmern auferlege, machte sie dem Ausland gegenüber konkurrenzunfähig.«
Freilich stellen die Gegner der Sozialreform damals wie heute die Dinge auf den Kopf, wenn sie äußere Zwänge verantwortlich machen. Die Verstärkung der internationalen Verflechtung der Wirtschaft auf der Basis ungesteuerter wirtschaftlicher Konkurrenz (»Globalisierung«) ist nicht die Ursache, sondern eine Folge des Wiederauftretens der Krisentendenz des Kapitalismus seit Mitte der 70er Jahre. Die Krise verschärft die Konkurrenz, nicht umgekehrt. Die Kapitalisten und ihre Staaten bekämpfen sich gegenseitig und versuchen, die Kosten dieses Kampfes auf die einfache Bevölkerung abzuwälzen.
Die Arbeiter ihrerseits reagieren darauf, indem sie sich teilweise wehren. Sie sind nicht nur die Opfer der Geschichte, sie sind zugleich Handelnde, Subjekte der Geschichte. Die Theorie der Globalisierung treibt die Idee von der Allmacht der Bewegungsgesetze der kapitalistischen Wirtschaftsform und der Ohnmacht der Gesellschaft ins Extrem. Sie soll die Arbeiter glauben machen, dass Lohn- und Sozialraub »alternativlos« seien.
Kampf um den Sozialstaat in Krisenzeiten
Die Geschichte der Entstehung des Sozialstaats ist auch unter diesem Blick der angeblichen Alternativlosigkeit in Krisenzeiten des Kapitalismus interessant. Denn der Sozialstaat entstand nicht in einer Aufschwungphase, sondern in einer Phase der wirtschaftlichen Depression, einer langanhaltenden Stagnation der Wirtschaft. Diese Stagnationsphase hatte 1873 eingesetzt und dauerte über zwanzig Jahre. Bebel beschreibt das »Rezept« des damaligen Finanzministers von Camphausen (von 1875), das die Unternehmer »rücksichtslos anwandten«. Er behauptete, dass »die Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse nur dadurch möglich sei, dass man sparsamer wirtschafte, an die Leistungsfähigkeit der Arbeiter höhere Anforderungen stelle und die Löhne reduziere.« Obwohl die wirtschaftliche Lage Anfang der 1880er Jahre sich nur wenig gebessert hatte, kam es zu Reformen.
Der Grund war kein wirtschaftlicher, sondern ein politischer: es hatte sich in der zweiten Hälfte der 70er Jahre eine sozialistische Arbeiterbewegung um eine revolutionäre sozialistische Partei (SAPD) herausgebildet, die von den Ideen Karl Marx‘ beeinflusst war und deren gesellschaftliche Bedeutung rasch zunahm. Dieser Vorläufer der späteren SPD zeigte sich von den Standortargumenten Camphausens völlig unbeeindruckt. Nicht die Reform des Kapitalismus, sondern seine Abschaffung war ihr Ziel. In einer Rede vor dem Reichstag anlässlich der Debatte über das Unfallgesetz 1881 nahm August Bebel zu dem Argument der bürgerlichen Parteien Stellung, die Sozialreform unterhöhle die Konkurrenzfähigkeit im Ausland: »Ich empfahl dem Reichskanzler [Bismarck] … eine internationale Konferenz der in Betracht kommenden Staaten zu veranlassen und diese zu einer gleichen Gesetzgebung zu bewegen. Er könne versichert sein, daß, falls die Regierungen der betreffenden Staaten sich weigerten, seinem Vorschlag zu folgen, die Arbeiter der betreffenden Länder ihn, den Reichskanzler, unterstützten und ihre Regierungen zu gleichem Vorgehen zwingen würden.«
Auf heute übertragen wäre das etwa so, als würde der DGB-Vorsitzende Sommer Bundeskanzler Schröder auffordern, einen Vorschlag an die EU-Kommission oder das G 8-Treffen über die Einführung sozialer Standards in ganz Europa zu richten und zur »Unterstützung« Schröder anböte, einen europäischen Generalstreik zu deren Einführung zu organisieren. Bebels Vorschlag war kein Appell an die »Vernunft« und bessere Einsicht der Herrschenden, er war ein Appell an die Arbeiter aller damaligen Industrieländer zur internationalen Solidarität gegen die zerstörerische Konkurrenz verschiedener nationaler Standorte und nationaler herrschender Klassen.
Bundeskanzler Schröder und die rot-grüne Regierung haben das genaue Gegenteil gemacht. Sie haben in Lissabon im Jahr 2000 einen europäischen »Beschäftigungspakt« geschlossen, der u. a. die Heraufsetzung des Rentenalters und die Herabsetzung von Sozialstandards durch die verschiedenen Nationalregierungen der EU vorsieht! Eine Rückkehr zu der Idee der internationalen Solidarität, wie sie August Bebel 1881 vor dem Reichstag propagierte, ist die Alternative zur angeblichen »Alternativlosigkeit« des Sozialabbaus in ganz Europa und weltweit.
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