Die Besetzung des Tahrir-Platzes endet vielleicht, aber jetzt müssen die Ägypter den Tahrir in die Fabriken bringen, meint der ägyptische Sozialist und Blogger Hossam el-Hamalawy
Seit Freitag, und eigentlich schon früher, haben die Aktivisten der Mittelschicht die Ägypter gedrängt, ihre Proteste auszusetzen und im Namen des Patriotismus an die Arbeit zurückzugehen, wobei sie einige ihrer besonders lächerlichen Schlaflieder angestimmt haben wie: „Lasst uns ein neues Ägypten aufbauen«, „Lasst uns härter als früher arbeiten« und so weiter. Falls ihr es nicht wissen solltet: Die Ägypter gehören bereits zu den am härtesten arbeitenden Menschen der Welt.
Diese Aktivisten wollen, dass wir beim Übergang zur Demokratie den Generälen Mubaraks vertrauen – derselben Junta, die in den vergangenen 30 Jahren das Rückgrat der Diktatur war. Und während ich zwar glaube, dass der Oberste Rat der Streitkräfte, der 1,3 Milliarden Dollar jährlich von den USA erhält, den Übergang zu einer zivilen Regierung in die Wege leiten wird, habe ich gleichzeitig keinen Zweifel, dass es eine Regierung sein wird, die die Fortsetzung eines Systems garantiert, das niemals die Privilegien der Armee antasten wird; die die Streitkräfte als eine Einrichtung erhalten wird, die in unserer Politik das letzte Wort angibt (wie in der Türkei).
Belagerung Gazas
Es wird eine Regierung sein, die dafür sorgt, dass Ägypten weiterhin der Außenpolitik der USA folgt, sei es der von uns nicht gewünschte Frieden mit dem Apartheidstaat Israel, seien es Durchfahrtsrechte der US-Marine im Suezkanal, die Fortsetzung der Belagerung Gazas oder finanziell subventionierte Gasexporte nach Israel.
Bei einer zivilen Regierung geht es nicht um Minister, die keine Armeeuniform tragen. Eine zivile Regierung heißt eine Regierung, die die Forderungen der ägyptischen Bevölkerung umfassend vertritt und anstrebt ohne Einmischung der Militärs. Und es fällt mir schwer zu glauben, dass das von der Junta umgesetzt und erlaubt wird.
Verstrickung in den Unternehmenssektor
Die Armee war die herrschende Institution in diesem Land seit 1942. Ihre Führung ist Teil des Establishments. Und während die jungen Offiziere und Soldaten unsere Verbündeten sind, sollten wir nicht eine Sekunde lang auf die Generäle vertrauen. Vielmehr sollten diese Heeresführer näher unter die Lupe genommen werden. Ich möchte mehr über ihre Verstrickung in den Unternehmenssektor wissen.
Alle Klassen und Schichten Ägyptens haben an dem Aufstand teilgenommen. Auf dem Tahrir-Platz konnte man die Söhne und Töchter der ägyptischen Elite neben Arbeiterinnen und Arbeitern, Mittelschichtlern und städtischen Armen sehen. Mubarak hat es geschafft, alle gesellschaftlichen Klassen der Gesellschaft einschließlich weiter Teile der Bourgeoisie zu entfremden. Aber denkt daran, dass erst in dem Moment, da die Streiks einsetzten, am Mittwoch letzter Woche, das Regime zusammenzubrechen begann und die Armee Mubarak zum Rücktritt zwingen musste, weil das System vor dem völligen Zusammenbruch stand.
Jeden Tag einen Streik
Einige waren überrascht, dass die Arbeiter zu streiken begannen. Ich weiß nicht so recht, was ich dazu sagen soll. Der Streik in den Textilfabriken von Mahalla im Dezember 2006 löste die längste Streikbewegung der ägyptischen Geschichte seit 1946 aus. Es ist nicht die Schuld der Arbeiterinnen und Arbeiter, wenn ihnen in den Nachrichten keine Beachtung geschenkt wird. An jedem einzelnen Tag in den vergangenen drei Jahren gab es einen Streik in irgendeiner Fabrik, sei es in Kairo oder in den Provinzen. Bei diesen Streiks ging es nicht nur um wirtschaftliche Forderungen, es ging auch um politische Fragen.
Von Tag eins unseres Aufstands an hat sich die Arbeiterklasse an den Protesten beteiligt. Was glaubt ihr, wer die Protestierenden in Mahalla, Suez und Kafr al-Dauwar zum Beispiel waren? Allerdings nahmen die Arbeiter als Demonstranten teil und nicht unbedingt als Arbeiter, was heißt, dass sie nicht unabhängig agierten. Es war die Regierung, die die Wirtschaft durch Ausgangssperre, Banken- und Unternehmensschließungen zum Erliegen brachte, es waren nicht die Protestierenden. Es war ein kapitalistischer Streik zur Terrorisierung der ägyptischen Bevölkerung. Erst als die Regierung am Sonntag versuchte, das Land wieder zur „Normalität« zurückzuführen, kehrten die Arbeiter in ihre Fabriken zurück, diskutierten die Lage und begannen sich in Massen zu organisieren, als Block zu handeln.
Solidarität mit der Revolution
In den Streiks der Arbeiterinnen und Arbeiter diese Woche waren Wirtschaftliches und Politisches eng miteinander verschränkt. In einigen Orten stand auf der Forderungsliste der Arbeiter zwar nicht der Sturz de Regimes, aber sie benutzten dieselben Parolen wie diejenigen, die auf dem Tahrir-Platz protestierten, und in vielen Fällen, zumindest soweit ich es von einigen Betrieben erfahren habe, – und ich bin mir sicher, es gab noch mehr – legten die Arbeiter eine Liste von politischen Forderungen in Solidarität mit der Revolution vor.
Diese Arbeiter werden nicht so schnell wieder nach Hause gehen. Sie haben zu streiken begonnen, weil sie ihre Familien nicht mehr ernähren können. Sie fühlen sich bestärkt durch Mubaraks Sturz und können nicht zu ihren Kindern zurückgehen und ihnen sagen, die Armee hat versprochen, ihnen Essen und ihre Rechte in wer weiß wie vielen Monaten zu bringen. Viele Streikende haben bereits weitergehende Forderungen nach freien Gewerkschaften außerhalb des korrupten, staatlichen Gewerkschaftsdachverbands aufgestellt.
Nicht stehen bleiben
Mich haben bereits Nachrichten erreicht, dass tausende Beschäftigte des öffentlichen Verkehrs einen Protest in al-Gabal al-Ahmar abhalten wollen. Die Zeitarbeiter der Stahlwerke von Helwan protestieren ebenfalls. Die Techniker der Eisenbahnen sorgen weiterhin für Fahrtunterbrechungen. Tausende Arbeiter der Zuckerfabrik von al-Hawamdia protestieren, und Ölarbeiter wollen in den Streik treten für ökonomische Forderungen, sie wollen, dass der Ölminister Sameh Fahmi wegen Amtsvergehens angeklagt wird und die Gasexporte nach Israel eingestellt werden. Weitere Berichte gibt es von anderen Industriezentren.
Die Besetzung des Tahrir-Platzes endet nun vielleicht, aber jetzt müssen wir den Tahrir in die Fabriken bringen. Im weiteren Verlauf der Revolution wird es zu einer unvermeidlichen Klassenpolarisierung kommen. Wir müssen wachsam sein. Wir dürfen hier nicht stehen bleiben. Wir halten den Schlüssel zur Befreiung der ganzen Region in der Hand, nicht nur Ägyptens. Vorwärts mit der permanenten Revolution, die die Menschen in diesem Land mit einer direkten Demokratie von unten ermächtigen wird.
(Übersetzung: Rosemarie Nünning)
Mehr auf marx21.de:
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- Schwerpunkt – Revolte in Nordafrika
Mehr im Internet:
- 3arabawy: Hossam el-Hamalawy bloggt aus Kairo (arabisch/englisch)