Die Novemberrevolution 1918 stürzte nicht nur Kaiser Wilhelm II., sie brachte auch eine massenhafte Streikbewegung mit sich, die im März 1919 Berlin erfasste. Für einen kurzen Moment schien es möglich, die Restauration des Kapitalismus aufzuhalten. Dietmar Lange stellt sein neues Buch »Massenstreik und Schießbefehl« vor, in dem er Bedingungen und Möglichkeiten dieser Streikbewegung sowie die Gründe ihres Scheiterns und dessen Folgen beschreibt
Proletarische Revolutionen in entwickelten kapitalistischen Industriegesellschaften, wie sie noch von Karl Marx erwartet wurden, scheinen heute nicht möglich zu sein. Gerne wird hier die Russische Revolution als historischer Gegenbeweis angeführt. Dabei lässt sich diese jedoch auch als Ausläufer einer ganzen Epoche aufsteigender internationaler Klassenkämpfe einordnen, die mit den Revolutionen im Zuge des Ersten Weltkrieges ihren Höhepunkt erreichte.
Das Elend des Krieges stellte in allen Ländern, die an ihm teilgenommen hatten, die Bedingungen für vielfältige soziale Unruhen, Massenstreiks und Revolutionen her, in denen sich aber auch die Widersprüche und Grenzen der damaligen Arbeiterbewegung zeigten. Ein besonders symptomatisches Beispiel hierfür ist die Revolution von 1918/19 in Deutschland, eines der am stärksten industrialisierten Länder in Europa mit der größten sozialistischen Massenpartei und Gewerkschaftsbewegung.
Arbeiterräte und Massenstreiks
Zumeist wird mit Verweis auf die anfänglich dominante Position der den Krieg unterstützenden Mehrheitssozialdemokratie (MSPD) und die schnelle Niederlage radikalerer Kräfte im »Spartakusaufstand« vom Januar 1919, der Revolution ein sozialrevolutionärer oder gar »sozialistischer« Charakter abgesprochen.
Bisher weniger beachtet blieb jedoch eine breite Streikbewegung im Frühjahr 1919, welche die industriellen Zentren in Deutschland erschütterte. Getragen wurde sie von den im November 1918 entstandenen Arbeiterräten, welche als Organisationsformen proletarischer Selbstermächtigung revitalisiert wurden. Erstmals erhielten dabei Sozialisierungsforderungen einen zentralen Stellenwert in der Bewegung bei gleichzeitiger Betonung ihres Klassencharakters.
Vergesellschaftung der Großindustrie
Die Streikbewegung drückte damit die eigentlich sozialrevolutionäre Komponente der Revolution aus. Von den Kohlerevieren Oberschlesiens und des Ruhrgebiets breitete sie sich bis in die Tagebaugebiete des damaligen Mitteldeutschlands aus und erreichte im März 1919 auch Berlin.
Hier wurde der Generalstreik auf Druck aus den Großbetrieben am 3. März in der Vollversammlung der Berliner Arbeiterräte, auch mit Unterstützung eines großen Teils der MSPD-Delegierten, proklamiert. Die Forderungen waren die gesetzliche Verankerung der Räte in den Betrieben und Gemeinden, die Anerkennung weitreichender Kontrollbefugnisse und die Einleitung der Sozialisierung der Großindustrie.
Freikorps gegen Arbeiterräte
Zusammen mit den Streiks im übrigen Land, vor allem in Mitteldeutschland, wo die in Weimar tagende Nationalversammlung von der Außenwelt abgeschnitten wurde, schien für wenige Tage die Möglichkeit aufzublitzen, die Wiederherstellung des kapitalistischen Staates seit der Novemberrevolution aufzuhalten oder sogar umzukehren. Selbst in bürgerlichen Kreisen und Teilen der MSPD wurde eine Regierungsumbildung und mögliche Zugeständnisse an die Rätebewegung erörtert.
Allerdings setzte die Streikbewegung regional ungleichzeitig ein und wandelte sich durch militärische Interventionen in blutige Auseinandersetzungen zwischen bewaffneten Arbeitern und gegenrevolutionären Freikorps. In Berlin lieferten Ausschreitungen in der Stadtmitte den Anlass für die Verhängung des Belagerungszustandes und eine Besetzung der Stadt durch Freikorpsverbände. Der militärische Einsatz eskalierte hier durch gezielte Provokationen bis hin zu Kämpfen mit der Volksmarinedivision.
Schießbefehl von Noske
Das Blutbad in der Stadt erreichte mit dem »Schießbefehl« Gustav Noskes, der die Hinrichtung von Gefangenen anordnete, seinen traurigen Höhepunkt. Insgesamt starben bis zum 12. März über 1200 Menschen, die Meisten davon bei anschließenden Massenexekutionen und willkürlichen Hinrichtungen.
Das Buch:
Dietmar Lange
Massenstreik und Schießbefehl. Generalstreik und Märzkämpfe in Berlin 1919
Edition Assemblage
Münster 2012
176 Seiten
19,80 Euro
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