Der 19. Juni, »Juneteenth« genannt, ist ein populärer Feiertag in den USA. Er erinnert an die Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1865. Wir haben drei Aktivisten gefragt: Wie frei sind Schwarze heute?
Brian Jones: Um die Frage »Wie frei sind Schwarze heute?« beantworten zu können, müssen wir zunächst klären, welche Schwarzen wir eigentlich meinen. Wer nur die schwarze Elite betrachtet, bekommt den Eindruck, dass sich alles geändert hätte. Wer es allerdings besser weiß, würde eher das Gegenteil behaupten wollen – nämlich, dass sich nichts oder nur sehr wenig geändert hat.
Beinahe die Hälfte der 2,3 Millionen Insassen amerikanischer Gefängnisse sind Schwarze. Es befinden sich heute sogar mehr schwarze Männer unter strafrechtlicher Überwachung als im Jahr 1850 versklavt waren. Der Lynchmob von heute trägt Uniform und Dienstmarke und ist nicht weniger tödlich. Der Kampf der Schwarzen ist nicht eine glatte Aufwärtskurve in Richtung Fortschritt, sondern vielmehr ein Tauziehen, bei dem Sieg und Niederlage nahe beieinander liegen. Etwas anderes ist in einer Gesellschaft, die auf Ausbeutung basiert, auch nicht möglich.
Trotzdem dürfen wir nicht missverstehen was auf dem Spiel steht, indem wir annehmen, dass die schwarze Bevölkerung niemals gewinnen könne. Aus der Sicht der Elite ist ein Aufstand der Schwarzen eine reale Gefahr. Nicht weil 13 Prozent der Bevölkerung außer Kontrolle geraten könnten, sondern weil ihr Kampf droht, andere Kämpfe anzustoßen.
Das wäre nicht das erste Mal in der Geschichte der USA: Die Sklaven verwandelten den Sezessionskrieg in einen revolutionären Befreiungskrieg und ermöglichten die Anfänge einer Arbeiterbewegung in den USA. Sie waren es auch, die als Befreite den Süden radikal demokratisierten. Später, in den 1960er- und 1970er-Jahren waren die Bürgerrechtsbewegung und die Black Power-Bewegung Inspiration für die Selbstorganisation von Studierenden, Soldaten, Arbeitern und anderen Unterdrückten.
Rückblickend wissen wir, dass sich in beiden Fällen eine Niederlage abzeichnete. Die »Reconstruction«, die gesellschaftliche Neuordnung nach dem Bürgerkrieg, scheiterte und Jim Crow (Symbolfigur für den Rassismus in den USA, Anm. d. Red.) setzte sich durch. Der »War on Poverty« wurde abgelöst durch den »War on Drugs«. Immer wieder wurden schwarze Kämpfe vereitelt und ihre Allianzen zerschlagen.
Das Entscheidende ist jedoch, dass sie vereitelt werden mussten. Wo auch immer sich die schwarze Bevölkerung erhob, waren Hysterie- und Gewaltkampagnen erforderlich, um ihre Aufstände zu unterdrücken, sie von ihren Verbündeten abzusondern und tiefer greifenden sozialen Wandel zu verhindern.
Heutzutage dienen Masseninhaftierungen und Polizeigewalt dazu, eine Rebellion im wahrsten Sinne des Wortes festzusetzen oder abzuwürgen – und die Kriminalisierung schwarzer Amerikanerinnen und Amerikaner trennt sie von ihren Verbündeten. Jede Masseninhaftierung und jeder massive Polizeieinsatz trägt allerdings das Potenzial eines Kampfes der Massen in sich. Die nächste Runde im Tauziehen steht an und mit ihr eine weitere Chance, überfällige strukturelle Veränderungen anzustreben.
Brian Jones arbeitete jahrelang als Grundschullehrer und promoviert nun an der City University of New York. Er ist Autor, Schauspieler und betreibt einen Blog über Rassismus und Bildungspolitik.
»Die Krise hat das schwarze Amerika verheerend getroffen«
Todd St. Hill: Es mag wohl sein, dass Schwarze heute nicht mehr gezwungen sind, in Leibeigenschaft unbezahlte Arbeit zu verrichten, und dass Lynchmorde gesetzlich verboten sind. Allerdings bedeutet die Überwindung dieser Umstände – des wohl dunkelsten Kapitels der amerikanischen Gesellschaft und Geschichte – noch lange nicht die Freiheit für die schwarze amerikanische Bevölkerung.
Unbezahlte Arbeit oder zumindest nahezu unbezahlte Arbeit gibt es im Strafvollzugssystem nach wie vor. Hier herrscht quasi eine neue Form der staatlich abgesegneten Leibeigenschaft, die uns dazu zwingt die Definition von Arbeit, vor allem in Gefangenschaft, neu zu überdenken. Die Sklaverei ist zwar abgeschafft, allerdings stellen die USA 25 Prozent der Gefängnisinsassen weltweit. Ein unverhältnismäßig großer Anteil davon sind schwarze Männer und viele Gefangene sind wegen minder schwerer Vergehen wie kleineren, nicht-gewalttätigen Drogendelikten inhaftiert.
Der Staat hat in klassisch amerikanisch-kapitalistischer Manier natürlich gelernt, die Inhaftierungen profitabel zu nutzen. Darüber hinaus werden an Orten wie Ferguson Menschen aus arbeitenden und armen Bevölkerungsteilen oft mehrfach mit Strafzetteln für Bagatelldelikte wie Verkehrswidrigkeiten belegt, bei denen die Nichtbezahlung der Bußgelder Gefängnisstrafen nach sich ziehen kann.
Hand in Hand mit der wirtschaftlichen Benachteiligung von Orten in denen mehrheitlich Schwarze leben, geht eine Polizeigewalt epidemischen Ausmaßes, die bei Belästigungen beginnt und bis zur außergerichtlichen Tötungen Schwarzer jeden Geschlechts reicht. Dies war der Auslöser für die Entstehung der »Black Lives Matter«-Bewegung.
»Black Lives Matter« ist in den letzten Jahren entstanden durch ein wachsendes Bewusstsein sowie die Auflehnung gegen ungestrafte Tötungen junger Schwarzer durch die Polizei. Die Bewegung steht aber auch im Kontext einer Wirtschaftskrise, die das schwarze Amerika verheerend getroffen hat und von der sich die schwarze Durchschnittsbevölkerung nach wie vor nur mühsam erholt.
Das ist der Grund, warum die »Black Lives Matter«-Bewegung im vergangenen Jahr so an Dynamik gewonnen hat. Immer mehr Schwarze ziehen für sich den Schluss, dass es keine echte Freiheit gibt, solange schwarze Menschenleben von der Gesellschaft nicht wertgeschätzt und solange unsere Stimmen erstickt werden – ungeachtet der historischen Kämpfe unserer Vorfahren, Eltern und Großeltern.
Dank der Triumphe der Bürgerrechtsbewegung und der Black-Power-Bewegung sind wir heute in einer besseren Ausgangslage dafür, eine Welt zu erstreiten, in der Schwarze wahrhaftig frei sind. Wenn wir jedoch eine Sache aus diesen Kämpfen gelernt haben, dann ist es die Erkenntnis, dass es im Kapitalismus immer Kräfte geben wird, die danach streben jede erkämpfte Errungenschaft sofort wieder umzuwälzen. Um unsere Gesellschaft umzugestalten müssen wir also die Grundlagen der Klassengesellschaft angehen, den Rassismus sowie die Ausbeutung in ihrem Innersten.
Todd St. Hill lebt in Chicago, wo er für We Charge Genocide arbeitet, eine Grassroot-Organisation, die unter anderem Jugendarbeit macht und vor Ort über die Aktivitäten der Polizei informiert. Er ist Mitglied der Campaign to End the New Jim Crow.
»Nicht annähernd frei genug«
Khury Petersen-Smith: Bei einem Auftritt im Jahr 1972 sagte der legendäre Künstler Gil Scott Heron: »It’s an election year, and once again, Black people are running – for their lives.« (Anm. d. Übers.: Wortspiel mit »running (for office)« = kandidieren (für ein Amt) und »running (for one’s life)« = laufen (um sein Leben))
Auch Jahrzehnte später haben diese Worte viel Wahres an sich. Die Wahlen rücken näher und es herrscht ein gravierender Kontrast zwischen dem offiziellen Jubel um die Nominierungen für das Präsidentenamt in der selbsternannten »größten Demokratie der Welt« und dem stärkeren Vorgehen gegen das demokratische Demonstrationsrecht – besonders wenn es um Proteste gegen Rassismus geht.
An sich ist der Übergriff auf Bürgerrechte nichts Neues und beschränkt sich längst nicht auf die schwarze Bevölkerung, wie viele Muslime und Zugewanderte aus leidvoller Erfahrung bestätigen können. Die Regierenden des Landes allerdings sehen in der wachsenden »Black Lives Matter«-Bewegung die Chance für ein neues Zeitalter staatlicher Repression.
Es scheint fast, als wäre die Reaktion auf die Bewegung dazu gemacht, um uns daran zu erinnern, wozu die Polizei eigentlich da ist. Wem das Handeln der Stadtverwaltungen und ihrer Einsatzkräfte – Tränengaseinsätze in Ferguson, Massenverhaftungen in Baltimore, das Ausrufen eines »Kriegszustandes« in New York City – noch nicht Ausdruck genug sind, für den gibt es auch Worte: Die Polizei bezeichnete die Demonstranten in Ferguson als »fucking animals« (»Drecksvieh«), während ein Bürgermeister in Baltimore von »thugs« (»Randalierer«/»Schläger«) sprach.
Wem das als Beweis für die Repression unserer »Demokratie« gegen die schwarze Bevölkerung Amerikas noch nicht ausreicht, der sollte sich die Situation vor Augen führen, aus der die Proteste entstanden sind: Alltägliche polizeiliche Belästigung, Schusswechsel und Festnahmen schwarzer Amerikaner im ganzen Land; Ämter und Gerichte, die Morde und Masseninhaftierungen Schwarzer verteidigen und die düstere wirtschaftliche Realität aus Arbeitslosigkeit, Schulden, Zwangsvollstreckungen und dem Abzug öffentlicher Dienstleistungen aus schwarzen Vierteln – mit Ausnahme einer »Dienstleistung«: der Polizeikontrolle.
Wie frei also sind Schwarze 150 Jahre nach Ende der Sklaverei? Nicht annähernd frei genug. Klar ist die Lage der schwarzen Bevölkerung heute besser als an ihrem Tiefpunkt – zu Zeiten der Sklaverei. Sie ist jedoch auch meilenweit von dem Höhepunkt entfernt, den sich viele erhofft hatten als Barack Obama ins Amt gewählt wurde.
Die Freiheiten, die wir heute genießen, wurden uns nicht von einer gütigen »amerikanischen Demokratie« in den Schoß gelegt. Sie wurden einem rassistischen Staat entrissen, der uns die ersten neunzig Jahre seines Bestehens als Sklaven gehalten hat. Die Kämpfe, in denen diese Rechte erstritten wurden, haben das System immer wieder erschüttern können – das System selbst allerdings hat überlebt und trägt den Rassismus weiterhin in seinem Kern, unberührt davon, dass ein schwarzer Mann sein Präsident ist.
So düster die Lage auch ist, sie trägt eine Hoffnung in sich. Das Aufkommen der »Black Lives Matter«-Bewegung birgt die Chance unserer Generation auf Mobilisierung der einzigen Kraft, die uns unsere Rechte erstreiten konnte: der massenhafte Kampf organisierter einfacher Leute.
Wir Schwarze laufen nicht nur um unser Leben (Bezug auf das »running«-Wortspiel am Anfang, Anm. d. Red.), sondern wir kämpfen auch dafür. Das Entstehen einer neuen, radikalisierten Generation leitet eine weitere Runde des Kampfes ein, der schon vor 150 Jahren geführt wurde. In den USA spielt damals wie heute der Befreiungskampf der Schwarzen eine zentrale Rolle im Kampf um die Freiheit aller Unterdrückten.
Khury Petersen-Smith studiert an der Clark University in Boston und ist Teil der »Black Lives Matter«-Bewegung. Er engagiert sich insbesondere gegen Rassismus und in der Palästina-Solidarität. Im Jahr 2009 fuhr er mit einem Hilfskonvoi nach Gaza.
Brian Jones, Todd St. Hill und Khury Petersen-Smith sind zudem Mitglied der ISO (International Socialist Organization). Ihre Antworten sind auch auf der Website der Organisationszeitung »Socialist Worker« veröffentlicht.
Übersetzung: Marion Wegscheider
Schlagwörter: Black lives matter, Bürgerrechtsbewegung, Polizeigewalt, Rassismus, USA