Der Sturz des tunesischen Alleinherrschers Ben Ali hat eine historische Bedeutung. Es ist der erste arabische Diktator, dessen Herrschaft seit dem Ende des Kalten Krieges durch einen Volksaufstand gebrochen wurde. Die Bewegung ist ein Leuchtfeuer der Hoffnung für die Unterdrückten der gesamten Region. Über die Hintergründe berichtet Karl Naujoks aus Rabat (Marokko). Vorabveröffentlichung aus marx21, Heft 19
Zum Text: Der Artikel ist eine Vorabveröffentlichung der marx21 Februar Ausgabe. Das neue Heft ist ab 3. Febrauar 2011 erhältlich. Hier kostenfreies Probe Heft bestellen.
Die überstürzte Flucht des tunesischen Präsidenten Zine Al-Abedine Ben Ali am vergangenen Freitag ist das Ergebnis der revolutionären Zuspitzung einer Protestwelle, die Mitte Dezember durch die öffentliche Selbstverbrennung eines jungen Mannes in der Provinzhauptstadt Sidi Bouzid ausgelöst wurde. Dieser Akt der Verzweiflung empörte die Bevölkerung, weil er ein Schlaglicht auf die ganze soziale und politische Misere Tunesiens warf.
Mohammed Bouazizi, der sich mit 26 Jahren auf diese tragische Art und Weise das Leben nahm, hatte erfolgreich sein Abitur abgeschlossen, nur um aus der Schule in die Arbeitslosigkeit entlassen zu werden. Er musste sich wie so viele andere mit dem Verkauf von Gemüse und Obst durchschlagen. Doch die Polizei schikanierte ihn und verweigerte ihm die notwendige Genehmigung. Nach der Beschlagnahmung seiner Ware übergoss er sich aus Protest vor dem örtlichen Regierungsgebäude mit Benzin und zündete sich selbst an. Die Trauer um das Schicksal Bouazizis verband sich mit einer tiefsitzenden verallgemeinerten sozialen Frustration. In Tunesien, wie im gesamten Maghreb, den arabischen Staaten im Westen Nordafrikas, gibt es Millionen Mohammed Bouazizis, die für sich keine Perspektive sehen. Die unsichere Existenzgrundlage und die Unfreiheit verbinden sich zu einem Gefühl der Bedrückung, das sich über das gesamte Leben legt. Sie fühlen sich der »Hogra« ausgesetzt, einem schwer zu beschreibenden Gefühl der Verachtung durch die Behörden.
Nachdem sich die Trauer und der Zorn in Sidi Bouzid Luft machte, reagierte der tunesische Staat wie üblich: mit nackter Gewalt. In der Vergangenheit gelang es noch jedes Mal, auf diese Weise den Protest einzudämmen. So etwa 2008 im Bergbaurevier von Gafsa. Doch dieses Mal sprang der Funke über, zu groß war die Verzweiflung. Ein weiterer junger Mann brachte sich vier Tage nach Bouazizi um, indem er auf einen Strommast hoch kletterte. Polizeikräfte erschossen am selben Tag einen 18-jährigen in Menzel Bouziane. Die Protestwelle sammelte sich in Gabès vor den Gebäuden der offiziellen Gewerkschaft UGTT, die als Anlaufpunkt diente. Sie breitete sich auf die Bergbaureviere aus und ergriff in der zweitgrößten Stadt Sousse die Jugend an den Schulen und Universitäten. Schließlich erreichte sie nach knapp zwei Wochen den Großraum Tunis und nahm einen politischen Charakter an. In den Parolen verbanden sich der Abscheu gegen die Polizeigewalt mit der Forderung nach dem Sturz der herrschenden Partei Destour (»Verfassung«).
Mehrere Elemente kamen zusammen, die die Eskalation ermöglichten. Zunächst einmal die Unfähigkeit des Regimes, das zur Herrschaftssicherung ausschließlich auf ein Heer von Geheimpolizisten und blanke Polizeigewalt gesetzt hatte. Diese Methode war aus Sicht der herrschenden Klasse durchaus erfolgreich. Denn sie hatte dazu geführt, dass das Land jahrelang extrem »stabil« war. Ab einem bestimmten Punkt aber schlug diese Methode in ihr Gegenteil um, nachdem zu viele Tote in zu vielen Städten auf dem Pflaster liegen blieben. Demonstranten zeigten internationalen Reportern in Kasserine wütend die leeren Patronenhülsen. Die Bilder von erschossenen Professoren und selbst Kindern verbreiteten sich über die modernen Informationskanäle zu schnell für einen grotesken Polizeistaat, der über keine Flexibilität in seinen Reaktionsmustern verfügte.
Die Polizeigewalt allein kann aber nicht den Sturz Ben Alis erklären. Sie hat das Feuer angeheizt. Aber es war die soziale Misere von Millionen, die die Grundlage für die Massenwirksamkeit des Protestes legte. Ben Ali wurde nicht durch eine isolierte Palastrevolte seines Premierministers gestürzt. Am Tag seiner Flucht fand ein Generalstreik statt, der die gesamte Verwaltung, alle Banken, den öffentlichen Dienst und den Handel lahmlegte. Die Monsterdemonstration im Stadtzentrum von Tunis zog die Mittelschichten mit. Dies versetzte die herrschende Klasse in Panik und untergrub die Basis der Herrschaft Ben Alis.
Noch drei Tage vor seiner überstürzten Flucht ließ der Präsident den Innenminister absetzen und die Armee in Tunis einrücken, verbunden mit der Verhängung einer nächtlichen Ausgangssperre. Nach den erfolglosen Polizeieinsätzen versuchte Ben Ali nichts anderes als eine militärische Erstickung der Bewegung. Damit scheiterte er, weil die Armee unter dem Druck der Volksbewegung unzuverlässig wurde. General Rachid Omar, ein Mitglied des obersten Befehlsstabes des Heeres, wurde abgesetzt, weil er sich weigerte, den Schießbefehl weiterzugeben. Die Angst vor einer künftigen revolutionären Abrechnung war größer, als die Angst vor dem alten Regime. Am folgenden Tag, dem 13. Januar, standen Soldaten in Tunis, ohne einzugreifen. Stattdessen eskalierte die Bewegung, die mittlerweile neben den Arbeitern und Arbeitslosen auch die Mittelschichten hinter sich zog. Die Tage des Diktators waren gezählt, er fing an zu schwanken. Am 14. Januar versprach er plötzlich, nicht mehr zu nächsten »Wahl« in drei Jahren anzutreten. Darauf wollte keiner mehr warten. Die gesamte Bewegung wurde nun von einem Ziel zusammengeschweißt: Der Diktator muss weg.
Der Diktator und der Westen
Einige europäische Regierungen haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Menschenrechtsverletzungen in Tunesien hinter vorgehaltener Hand kritisiert. Die Polizeistaatsmethoden haben ihre Vertreter vor Ort genervt. Doch sofern überhaupt dezente Kritik geäußert wurde, verbanden sie diese stets mit lobenden Worten für die »wirtschaftlichen Reformen« und den säkularen Charakter des Regimes. Die soziale Misere in Tunesien verschwand hinter den liberalen Formeln.
Diese reflektieren die übergeordneten Geschäftsinteressen. In Tunesien haben sich zahllose europäische Firmen niedergelassen, insbesondere Textilfirmen und Automobilzulieferer. Das Tourismusgeschäft boomte. Aus der EU wurden derlei wirtschaftlichen Beziehungen seit 1995 mit der Vergabe von unkündbaren Krediten an Tunesien in Höhe von 1,25 Milliarden Euro flankiert. Für die Jahre 2011 bis 2013 sind Direkthilfen in Höhe von 240 Millionen Euro vereinbart worden.
Wie sehr die europäischen Regierungen an der Stabilität der Diktatur interessiert waren, zeigten ihre erbärmlichen Reaktionen. Die europäische Kommission in Brüssel brauchte drei Wochen, bevor es dort überhaupt zu einer Stellungnahme kam. Merkel zeigte in der vergangenen Woche, in der die tunesische Staatsgewalt mindestens 50 Menschen erschossen hatte, ganz allgemein ihre »Besorgnis«. Kein Wort über die konkrete Verantwortung der tunesischen Regierung für die schweren Menschenrechtsverletzungen. Kein Wort der Kritik an Diktator Ben Ali. Um nicht die Einnahmen aus dem Tourismusgeschäft der wankenden tunesischen Diktatur zu gefährden, enthielt sich das Auswärtige Amt mit einer Reisewarnung bis zum Vorabend des Tyrannensturzes – nachdem die Nachrichten über die Lage in Tunesien über die »tagesschau« längst die deutsche Bevölkerung erreicht hatte.
Wie weiter?
Am Tag nach dem Sturz Ben Alis werden die Medien von der Frage beherrscht, wie nun wieder Ruhe einkehren könne. Dabei hat die Bewegung die Macht des alten Regimes noch keineswegs gebrochen. Der Premierminister Ben Alis, Mohammed Ghanouchi, hat nach Rücksprache mit der französischen Regierung die Initiative ergriffen und Ben Ali aus dem Amt geputscht. Die Präsidentschaft wurde dem vormaligen Parlamentspräsidenten übergeben. Die gesamte ehemalige Entourage Ben Alis erklärt ihn nun als den einzigen Verantwortlichen der Misere – um sich selbst an der Macht zu halten. Ihr Ziel ist es, durch die bloße Umgruppierung an der Spitze von Regierung und der herrschenden Partei die Bewegung abzuwürgen. Ghanouchi hat die Rolle eines Egon Krenz übernommen, der 1989 nach dem Fall Erich Honeckers versuchte, die revolutionäre Welle in der DDR aufzuhalten, in dem die »Wende« versprach. Nachdem dies nicht funktionierte, wurden die Oppositionsgruppen der Bürgerrechtsbewegung erst über die runden Tische, und dann über die Beteiligung an einer Regierung der »nationalen Einheit« gebunden. Diese Politik führte schließlich in die Demoralisierung und machte den Weg für eine Wiedervereinigung unter der Führung des westdeutschen Kanzlers Helmut Kohls zum Nutzen des westdeutschen Kapitals frei.
Die herrschende Klasse in Tunesien wird mit Unterstützung der europäischen Regierungen eine ähnliche Operation versuchen. Die wichtigste Aufgabe der Opposition und der Linken in Tunesien ist es in diesem Moment, sich nicht im Zeichen einer falschen Einheit einbinden zu lassen, sondern den Kampf gegen die provisorische Regierung fortzusetzen. Nur der Aufbau eigener Machtorgane von unten bietet die Möglichkeit, die Wurzeln der Misere zu lösen. Mit dem Sturz von Ben Ali ist noch kein einziges der sozialen Probleme gelöst, die den Konflikt ausgelöst haben. Nur die Verbindung von politischen und ökonomischen Forderungen und Kampfformen bietet eine Gewähr, um eine Restauration der Macht der herrschenden Klasse zu verhindern.
Unmittelbar geht es darum, die günstige Situation zur Durchsetzung höherer Löhne und der Schaffung von Hunderttausenden neuer Arbeitsplätze zu nutzen. Weitere wichtige Forderungen betreffen die Aufhebung der nächtlichen Ausgangssperre sowie den Rückzug der Armee aus den Straßen. Bereits am ersten Abend nach dem Sturz nach Ben Ali zeigt sich, dass seine ehemaligen Günstlinge die Armee nutzen wollen, um eine wirkliche Demokratisierung aufzuhalten. Die Gefahr besteht, dass die zweite Garde des Ben Ali-Regimes in Koalition mit dem Offizierskorps der Armee die Revolution kapert, umlenkt und abwürgt.
Die revolutionäre Bewegung hat eine Öffnung erzwungen, die es den tunesischen politischen Flüchtlingen nun die Rückkehr in ihr Land erlaubt und den Aufbau unabhängiger Organisationen von unten ermöglicht. Diese Öffnung gilt es rasch zu nutzen, um den Kampf fortzusetzen. Es gilt, aus der Revolution heraus eine neue, authentische revolutionäre Organisation aufzubauen, die diesen Weg bewusst propagiert und praktische Schritte in diese Richtung organisieren kann. Die Bewegung in Tunesien kann so zum Leuchtfeuer für die Länder in der gesamten arabischen Region werden, die durchweg von absoluten Monarchen oder mehr oder minder repressiven Präsidialdiktaturen beherrscht werden.
Denn es liegt für jeden auf der Hand: Abgesehen von Libyen, Saudi-Arabien und Syrien gibt es kein arabisches Land, das so unterdrückerisch geführt wird wie die tunesische Republik unter Ben Ali. Wenn Ben Ali gestürzt werden kann, dann auch jeder andere Alleinherrscher. Und die Unruhe ist da. Am Abend seiner Flucht erlebte die jordanische Hauptstadt Amman einen von den tunesischen Ereignissen inspirierte Massenkundgebung. Das Nachbarland Algerien wurde in den vergangenen Wochen von Jugendunruhen erschüttert, die punktuell an die palästinensische Intifada erinnerten – vor dem Hintergrund ununterbrochener Streikaktivitäten unterschiedlicher Teile der Arbeiterklasse. In Ägypten und Jemen gab es Solidaritätskundgebungen mit der tunesischen Revolution, die Studenten vor den tunesischen Botschaften abgehalten haben.
Selbst in der marokkanischen Hauptstadt Rabat, wo seit Monaten regelmäßig die Gewerkschaften ritualisiert am Abend vor dem Parlamentsgebäude Arbeitslosenproteste durchführen, scheint in den vergangenen Tagen die Zahl der Protestierer anzusteigen. In den Cafés, in denen üblicherweise das Nachrichtenprogramm von »Al-Jazeera« unbeachtet vor sich hinflimmert, kleben die Gäste heute an den Bildschirmen, sobald die Bilder aus Tunis erscheinen. Die tunesische Revolution kam unverhofft. Sie strahlt heute weit über die Grenzen dieses kleinen Landes aus.