Vertreter von Sozialverbänden und Gewerkschaften begrüßten das Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes. Zu Unrecht, meint Rainer Roth.
Hartz IV-Eckregelsatz verfassungsgemäß
Entgegen der zahlreichen Falschmeldungen aus Medien (»Regelsätze für Hartz IV-Empfänger verfassungswidrig« FAZ 11.02.2010), Wohlfahrtsverbänden und Gewerkschaften (»Die Regelsätze …entsprechend nicht der Verfassung«, direkt 2/2009) hat das Bundesverfassungsgericht die Höhe der Regelsätze nicht für verfassungswidrig erklärt. Es hat im Gegenteil eindeutig festgestellt: »Da nicht festgestellt werden kann, dass die gesetzlich festgesetzten Regelleistungsbeträge evident unzureichend sind, ist der Gesetzgeber nicht unmittelbar von Verfassungs wegen verpflichtet, höhere Leistungen festzusetzen«. (Quelle ) Diese Feststellung bezieht sich auch auf die Kinderregelsätze.
Kürzung des Regelsatzes für Schulkinder war verfassungsgemäß
Das Gericht geht sogar soweit, die 2005 mit Hartz IV erfolgte Kürzung des Regelsatzes von 7 bis 13-Jährigen auf das Niveau von Vorschulkindern im Nachhinein noch als verfassungsgemäß zu bezeichnen. »Es kann ebenfalls nicht festgestellt werden, dass der für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres einheitlich geltende Betrag von 207 Euro zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums offensichtlich unzureichend ist« (Rd.Nr. 155 BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Absatz-Nr. 155; Quelle )
SPD/CDU/Grüne/FDP hatten mit der Kürzung Kindern ab dem Schulalter den bisher anerkannten besonderen Wachstums- und Entwicklungsbedarf aberkannt und ihnen auch die bis dahin übliche Anerkennung des Schulbedarfs verweigert. Die höchstrichterlichen Professoren urteilen jedoch, dass der Regelsatz, da » nicht evident unzureichend«, auch nach der Kürzung noch sowohl menschenwürdig als auch ausreichend gewesen sei. Das Gericht stellt zwar selbst fest: Der Bedarf von Kindern, »der zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums gedeckt werden muss, hat sich an kindlichen Entwicklungsphasen auszurichten und an dem, was für die Persönlichkeitsentfaltung eines Kindes erforderlich ist.« (Rd.Nr. 191)
Die Verletzung dieses Grundsatzes ist dem Urteil nach aber offenbar verfassungsgemäß. Es stellt fest, dass »ein zusätzlicher Bedarf vor allem bei schulpflichtigen Kindern zu erwarten« und die Nicht-Berücksichtigung nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sei (Rd.Nr. 192). Trotzdem erklärt es die faktische Nicht-Berücksichtung in der Leistungshöhe für Schulkinder ab 2005 für verfassungsgemäß. Es stellt fest, dass sich »der Bedarf eines schulpflichtigen Kindes in der Pubertät offensichtlich vom Bedarf eines Säuglings oder eines Kleinkindes unterscheidet« (Rd.Nr. 196). Vor allem wegen des biologisch bedingten Wachstums- und Entwicklungsbedarfs habe eine (bis heute nicht veröffentlichte) Sonderauswertung der Bundesregierung auch ergeben, dass Kinder von 6 bis 13 Jahren einen um 25 % höheren Verbrauch aufweisen als Kinder von 0 bis Jahren (Rd.Nr. 74).
Tut nichts zur Sache. Das Gericht bescheinigt der Gleichsetzung des Bedarfs von 13-Jährigen mit Säuglingen trotzdem im Nachhinein die Verfassungsmäßigkeit. Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sei gewährleistet und es sei »nicht ersichtlich, dass der Betrag von 207 Euro nicht ausreicht, um das physische Existenzminimum, insbesondere den Ernährungsbedarf, von Kindern im Alter von 7 bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres zu decken« (Absatz-Nr. 156). Man verhungert also trotz der Kürzung nicht. Danke. Mit einer weiteren Kürzung würden Kinder ebenfalls noch nicht verhungern. Geht es bei der Ernährung wirklich nur um das physische Existenzminimum? Bedeutet die Aberkennung des Wachstumsbedarfs aber nicht schon, dass das physisch Notwendige, nämlich der notwendige Kalorienbedarf, nicht gedeckt ist? Und der beträgt bei 7 bis 13-Jährigen Kindern im Durchschnitt 2.042 Kcal, während 0 bis 6-Jährige im Durchschnitt nur 1.250 Kcal brauchen.
All das ist Eiertanz in Perfektion. Die Kritik an Hartz IV wird von den flexiblen Richtern sehr wohl registriert. Sie kann aber rein nichts an ihrer Grundauffassung ändern, dass die Höhe des Regelsatzes in Geld, egal, wie willkürlich er festgesetzt wurde, trotzdem mit dem Grundgesetz übereinstimmt. Hier macht sich bemerkbar, dass die ProfessorInnen, die von den Parteien des Bundestags und Bundesrats in das Bundesverfassungsgericht gewählt wurden, sich durchaus ihrer Verantwortung gegenüber ihren Wählern bewußt sind. Sie nehmen Kritik auf und stellen gleichzeitig fest, dass aber trotzdem die Leistungen nicht zu niedrig sind.
Alles ist möglich, man muss es nur besser begründen
Als verfassungswidrig wird nur das Verfahren zur Festsetzung der Regelsätze betrachtet (Rd.Nr. 210), nicht die Höhe der Regelsätze selbst. »Schätzungen 'ins Blaue hinein' laufen … einem Verfahren realitätsgerechter Ermittlung zuwider und verstoßen deshalb gegen Art. 1 Abs. 1 GG (Unantastbarkeit der Menschenwürde) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG« (Rd.Nr. 171) Wenn die Höhe der Regelsätze dem Hohen Gericht nach verfassungsgemäß ist, muss man demnach also nur die Höhe der Regelsätze »nachvollziehbar begründen« (Rd.Nr. 171), um der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip genüge zu tun.
Die Bundesregierung ist also trotz verfassungswidriger Methoden der Regelsatzbemessung zu durchaus verfassungsgemäßen Bemessungen der Regelsätze gekommen. Man muss schon Professor sein, um das Interesse an der Aufrechterhaltung des unhaltbaren bestehenden Zustandes von Hartz IV so klug zu begründen, dass möglichst viele Menschen dennoch meinen, es würde sich etwas ganz Bedeutsames ändern. Hätten sie diese Fähigkeit nicht, wären sie von den Parteien, die Hartz IV beschlossen haben, wohl auch nicht für diese Funktion vorgeschlagen und gewählt worden.
Was halten die Richter beim Eckregelsatz nicht für nachvollziehbar begründet?
a) Bei der Festsetzung des Regelsatzes von 345 Euro auf der Basis der EVS 1998 wurden Abschläge vorgenommen, z.B. für Pelzmäntel, Sportboote und Segelflugzeuge, obwohl gar nicht festgestanden hätte, dass das unterste Quintil der Einpersonen-Haushalte der EVS solche Ausgaben überhaupt getätigt hat (Rd.Nr. 175). Ein lustiges Eingeständnis. Die Sache ist aber »verjährt«. Sie hat sich erledigt, weil die Bundesregierung bei der Auswertung der EVS 2003 darauf verzichtet hat.
b) Das Gericht kritisiert, dass bei den Stromkosten der Abschlag von 15 % (oder 3,84 Euro) für Strom, der auf Heizung entfällt, nicht empirisch belegt sei. Das Gericht vermutet zwar, das diese Kürzung »dem Grunde nach vertretbar« sei, verlangt aber dafür eine empirische Untermauerung. Das Gericht stört sich nicht daran, dass die im Regelsatz anerkannten Stromkosten heute erheblich niedriger sind als 1998, obwohl die Strompreise um mehr als ein Drittel gestiegen sind.
c) Das Gericht kritisiert, dass bei der Auswertung der EVS 1998 beim Posten Ersatzteile und Zubehör für Privatfahrzeuge in Höhe von 1,69 Euro ein Abschlag von 80 % für Ersatzteile usw. von Kfz vorgenommen worden sei und hält das nicht für nachvollziehbar. Die Sache hat sich jedoch erledigt, weil die Bundesregierung in der Auswertung der EVS 2003 die entsprechenden Kosten für Fahrräder gesondert ermittelt hat. Das Gericht stört sich jedoch nicht an dem 2006 auf monatlich 11,27 € gesunkenen Betrag für öffentlichen Nahverkehr.
d) Das Gericht kritisiert, dass die Nicht-Anerkennung von Bildungsausgaben nicht begründet worden sei, legt aber nahe, dass das Problem mit einer (noch fehlenden) »Wertungsentscheidung«, dass »diese Ausgaben nicht zur Sicherung des Existenzminimums erforderlich« seien, behebbar sei (Rd.Nr. 179 cc). Das wäre auch nicht schwer, weil der Betrag von 5,95 € (EVS 2003) überwiegend der Bezahlung von Studien- und Prüfungsgebühren an Schulen und Universitäten dient und ferner für Kursgebühren aufgewandt wurde.
e) Das Gericht bemängelt auch, dass die Position »Außerschulischer Untericht in Sport und musischen Fächern« in Höhe von 0,75 € ohne Begründung unter den Tisch gefallen sei. Die Begründung könnte aber wie bei d) nachgereicht werden.
Weil also die Transparenz der Regelsatzbemessung in diesen nebensächlichen Fragen verletzt worden sei, sei das Verfahren zur Festsetzung des Eckregelsatzes verfassungswidrig. Die schallende Ohrfeige, die viele gehört haben wollen, entpuppt sich als sanftes Streicheln mit furchterregendem juristischem Theaterdonner, um ein vertrauensseliges Publikum zu begeistern. Die Aufgabe, den Eckregelsatz in dieser Hinsicht wieder mit der Menschenwürde in Übereinstimmung zu bringen, wird die Bundesregierung mit Bravour lösen.
Was hält die Bundesregierung bei den Kinderregelsätzen nicht für nachvollziehbar begründet?
Wenn der Eckregelsatz von jetzt 359 Euro nicht verfassungsgemäß begründet ist, können es natürlich auch die Kinderregelsätze nicht sein. Zudem seien Kinder keine »kleinen Erwachsenen« mit jeweils 60, 70 oder 80-prozentigen Ausgaben von Erwachsenen. Die Kinderregelsätze seien »freihändig« festgesetzt. Das ist nur auf der Oberfläche richtig, trifft aber den Kern nicht, denn die Prozentsätze habe ihren Ursprung in Warenkörben für Kinder verschiedener Altersstufen aus den 1970er Jahren, deren Ergebnis ins Verhältnis zum Eckregelsatz gesetzt wurde. Die differenzierten Altersabstufungen und ursprünglich ermittelten Prozentsätze wurden allerdings im Laufe der Zeit immer mehr zusammengekürzt, mit Ausnahme des Regelsatzes der Vorschulkinder. In allen früheren Untersuchungen wurde der Wachstumsbedarf von Kindern ab dem Schulalter und der Jugendlichen von 14 bis 17 Jahren grundsätzlich anerkannt. Hartz IV machte damit Schluss. Das BverfG rechtfertigt das als verfassungsgemäß.
Dass die vom Gericht favorisierte Methode der Festsetzung des Kindesbedarfs zu einer Erhöhung der Kinderregelsätze führt, ist nicht ersichtlich. Die Sonderauswertung der EVS 2003 nach dem vom Gericht befürworteten Verfahren ist von der Bundesregierung Ende 2008 schon vorgenommen worden. Sie ergab, dass mit Ausnahme der Beträge für Kinder zwischen 6 und 13 Jahren die Regelsätze für Kinder eher zu hoch als zu niedrig gewesen seien. »Die Sonderauswertung habe bestätigt, dass die Höhe der Regelsätze für die bisher im Gesetz vorgegebenen beiden Altersstufen mehr als ausreichend sei. Als weiteres Resultat habe sich aber ergeben, dass Kinder von 6 bis 13 Jahren einen höheren Verbrauch aufweisen würden, als ihn die Regelsatzverordnung berücksichtigt. Ursache des ab dem 7. Lebensjahr eintretenden erhöhten Konsums dürfte vor allem der Schulbesuch sein. Daraus ergebe sich ein Verbrauch nach der Regelsatzverordnung für Kinder von 0 bis 5 Jahren in Höhe von 191,23 Euro, für Kinder von 6 bis 13 Jahren ein Umfang von 240 Euro und für Kinder von 14 bis 17 Jahren in Höhe von 257,66 Euro. Der signifikante Unterschied zwischen den Altersstufen 0 bis 5 Jahre und 6 bis 13 Jahre habe den Gesetzgeber zur Einführung einer dritten Altersstufe nach § 74 SGB II veranlasst.« (Rd.Nr. 74)
Die Regelsätze von 2008 aber betrugen 211 Euro für alle Kinder unter 14 und 281 Euro für Jugendliche von 14 bis 17 Jahren. Der Regelsatz für 6 bis 13-Jährige beträgt nach der teilweise Rücknahme seiner Kürzung ab 1.7.2009 251 Euro. So sehr also die angeblich freihändigen Prozentsätze für »kleine Erwachsene« beklagt werden, sie sind heute (nach der erzwungenen Rücknahme einer Regelsatzkürzung) höher, als wenn der »Kindesbedarf« nach Maßgabe der Sonderauswertung der EVS 2003 transparent und nachvollziehbar berechnet würde. Da könnten einem die alten, noch irgendwie an den früheren Warenkörben hängenden Kinderregelsätze fast noch lieber sein.
Die Richter kritisieren heftig, dass die Sonderauswertung nicht schon bei der Einführung von Hartz IV, und auch nicht bei der Auswertung der EVS 2003 durchgeführt worden ist (Rd.Nr. 198). Dann hätte die Bundesregierung zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Die Regelsätze hätten niedriger ausfallen können und trotzdem wäre »im Interesse der Kinder« ihr Bedarf eigenständig, nachvollziehbar und menschenwürdig ermittelt worden. Ein verfassungsmäßiges Verfahren würde demnach eher zu einer Senkung der Kinderregelsätze führen als ein verfassungswidriges. Die Regelsätze wären geringer, aber dafür wenigstens »realitätsgerecht« (Rd.Nr. 198). Die Richter machen auch einen Vorschlag, wie man der potentiellen Senkung entgegenwirken kann. Sie fordern, dass der Schulbedarf, der bisher mit umgerechnet 8,33 € in einem Schulbedarfspaket außerhalb des Regelbedarfs enthalten ist, in den Regelsatz von Schulkindern aufgenommen wird, weil er zum Existenzminimum gehöre. Allerdings müsse auch er empirisch begründet werden. Das bedeutet, dass er auch niedriger sein kann als die jetzige Summe, die immerhin eine Verdopplung gegenüber der früheren Sozialhilfe darstellt.
Auf Grund der EVS mögliche Regelsatzsenkungen sind verfassungsgemäß
»Das nach § 28 Abs. 3 SGB XII und § 2 Regelsatzverordnung 2005 maßgebliche Statistikmodell ist eine verfassungsrechtlich zulässige, weil vertretbare Methode zur realitätsnahen Bestimmung des Existenzminimums für eine alleinstehende Person« (Rd.Nr. 162). Das Existenzminimum hängt also nicht von einer eigenständigen Festsetzung des Bedarfs ab, sondern davon, wie viel die untersten Verbrauchergruppen von ihrem Einkommen ausgeben können. Die untersten Verbrauchergruppen jedoch bestehen zu einem bedeutenden Teil aus RentnerInnen über 65 Jahren, deren regelsatzrelevante Ausgaben erheblich niedriger sind als die von Personen unter 65 Jahren. Auch dieser Zustand ist verfassungsgemäß.
Es ist auch verfassungsgemäß, die Ausgaben nur mit Abschlägen als relevant für den Eckregelsatz anzuerkennen (Rd.Nr. 170). Wenn also die Ausgaben für Nahrungsmittel und nicht-alkoholische Getränke 3,94 € pro Tag sind, ist das verfassungsgemäß, weil das Verfahren verfassungsgemäß ist. Wenn die Ausgaben für öffentliche Verkehrsmittel nur knapp 40 Cent pro Tag betragen, ist das verfassungsgemäß. Es ist auch verfassungsgemäß, wenn Ausgaben für »Mobilfunk« nicht relevant für den Regelsatz sind oder »Verzehr außer Haus« nicht als notwendig betrachtet und nur mit dem Nahrungsmittelanteil anerkannt wird, den man hätte, wenn man zu Hause »einkehren« und verzehren würde.
Das soziokulturelle Existenzminimum von Ausgaben des unteren Einkommensfünftels abhängig zu machen, bedeutet, dass sinkende Einkommen zu sinkenden Ausgaben und von daher zu sinkenden Regelsätzen führen müssen. Es sei denn, man erkennt höhere Prozentsätze der gesunkenen Verbrauchsausgaben an. Die Einkommen der untersten Verbrauchergruppen sind schon in der EVS 2003 gegenüber der EVS 1998 gefallen. Nur weil die regelsatzrelevanten Prozentsätze der Verbrauchsausgaben angehoben wurden, wurde eine Senkung – weil sie zur Zeit aus politischen Gründen nicht durchsetzbar schien – vermieden. Die Einkommen der untersten Verbrauchergruppen könnten durchaus mit der EVS 2008 weiter gefallen sein. Die Anerkennung des heutigen Verfahrens zur Bemessung des Eckregelsatzes schließt also die Zustimmung zu daraus folgenden Senkungen des Eckregelsatzes ein. Die regelsatzrelevanten Verbrauchsausgaben schließen die Warmmiete aus. Wenn bei tendenziell sinkenden Einkommen des unteren Einkommensfünftels die Kosten für Unterkunft und Heizung steigen, fällt die Summe, die dieser Bezugsgruppe für die anderen in den Regelsatz eingehenden Verbrauchsausgaben zur Verfügung steht. Daraus folgt weiterer Druck auf die Senkung des Eckregelsatzes.
Die Verbrauchsausgaben der untersten Haushalte sind erheblich höher als ihr Nettoeinkommen. Nach Angaben von Irene Becker betrugen die Verbrauchsausgaben der Bezugsgruppe auf der Basis der EVS 2003 807,67 Euro, das Haushaltsnettoeinkommen aber nur 730,96 Euro (a.a.O., 21). Die Bezugsgruppe gibt zehn Prozent mehr aus, als sie Einkommen hat. Wenn die Möglichkeiten sinken, mit Schulden, Auflösung von Barvermögen oder mit anderen Mitteln mehr auszugeben, als man Einnahmen hat, fallen auch die Verbrauchsausgaben. Das erzeugt eine weitere Tendenz zur Senkung des Eckregelsatzes. Angesichts der heutigen krisenhaften Entwicklung der Wirtschaft sind also mit der EVS Senkungen des offiziellen Existenzminimums möglich. »Die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, aus der sich … der Eckregelsatz ableitet, liefert eine realitätsnahe Ermittlungsgrundlage« ((Rd.Nr. 167) Indem das Verfassungsgericht die EVS als verfassungsgemäß begrüßt, legitimiert sie in der Zukunft mögliche Regelsatzsenkungen.
Positives?
Zweifellos ist der Rentenwert als Maßstab für die jährliche Fortschreibung der Regelsätze ungeeignet. Er widerspricht auch der gesetzlichen Vorgabe, Nettoeinkommen, Verbraucherverhalten und Lebenshaltungskosten zu berücksichtigen. Das Gericht hält deshalb nur die Preisentwicklung der im Regelsatz anerkannten Ausgaben als Maßstab für die Fortentwicklung des Eckregelsatzes für tauglich. Dadurch würde der Bezug zum Nettoeinkommen (der Bezugsgruppe), den Verbrauchsausgaben (der Bezugsgruppe) und den Lebenshaltungskosten (der Bezugsgruppe) hergestellt. Die Abschaffung des Rentenwerts als Methode der Fortschreibung wirkt der Tendenz, die Regelsätze zu senken, entgegen und erscheint, so betrachtet, als positiv.
Positiv ist auch die Anerkennung wenigstens von atypischen dauernden Bedarfen. Positiv ist aber vor allem, dass die öffentliche Diskussion eher über Erhöhungen des Eckregelsatz und der Kinderregelsätze geht als über Senkungen. Das ist jedoch nicht das Verdienst des Gerichts. Es ist das Verdienst der Ausdauer der Hartz IV beziehenden Kläger, die lange Jahre für eine Erhöhung der Regelsätze gekämpft haben. Allerdings wird das Urteil falsch verstanden, wenn man es als Urteil auffasst, das sich gegen Senkungen der Regelsätze ausspricht. Positiv ist, dass über die Höhe des Existenzminimums diskutiert wird und trotz der Faulheitskampagne (keiner will mehr arbeiten), sich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung für eine Erhöhung der Regelsätze ausspricht. In einer repräsentativen Forsa-Umfrage im Auftrag des Stern erklärten 61 %, die Regelsätze seien zu niedrig und nur 4 % schätzten sie als zu hoch ein (Quelle).
Schluss
Insgesamt verdient es das Urteil nicht, begrüßt zu werden. Es greift zwar Kritik teilweise auf, wendet die Sache aber so, dass der bestehende Zustand gerechtfertigt wird. Er soll nur besser »kommuniziert« werden. Die hauptsächliche Wirkung des Urteils besteht darin, der Kritik an Hartz IV das Wasser abzugraben, ohne dass es etwas kostet. Die Wirkung besteht darin, die soziale Bewegung auf das Bundesverfassungsgericht auszurichten und die angeblich wunderbaren Auswirkungen für arme Leute, die sein Urteil haben würde. Angesichts der eigenen Schwäche erträumen sich viele, dass die acht von den Hartz-IV-Parteien bestellten Professoren des BverfG es für sie richten würden.
Medienkonzerne und Hartz-IV-Parteien haben diese Hoffnungen geschürt, indem sie die Milliarden Euro an die Wand malten, die möglicherweise aufgrund des Urteils auf sie zukämen. Die allseits geschürten Hoffnungen auf das Bundesverfassungsgericht erschweren das selbstständige Auftreten der LohnarbeiterInnen, seien sie erwerbslos oder beschäftigt. Sie bekommen hier nicht das Recht, das ihnen nützen würde. Deshalb sind jetzt nicht Hoffnungen auf die Umsetzung dieses Hartz IV-Verteidigungsurteils angesagt, sondern die verstärkte Kampagne für die eigenen Forderungen.
Die Antwort auf Karlsruhe müsste sein, die Kampagne für mindestens 500 Euro Eckregelsatz und zehn Euro Mindestlohn tatkräftig zu unterstützen. Sie ist vom Aktionsbündnis Sozialproteste, dem Erwerbslosen Forum Deutschland, dem Rhein-Main-Bündnis, der Sozialen Bewegung Land Brandenburg und Tacheles in Leben gerufen worden und hat zahlreiche Unterstützer gefunden (Homepage). 6.400 Unterschriften unter die Forderungen bis jetzt sind aber zu wenig. Das Thema 500 Euro Eckregelsatz und der entsprechenden Steigerung der Kinderregelsätze muss unser Thema sein, und nicht die Bejubelung einer massiven Rechtfertigung von Hartz IV mit juristischen Wortblasen, die als»schallende Ohrfeige« und »vernichtend« missverstanden werden können. Die Forderung nach mindestens 500 Euro Eckregelsatz und 10 Euro Mindestlohn muss in den Demonstrationen des Bündnisses »Wir zahlen nicht für Eure Krise« am 20. März deutlicher zu hören sein. Wir sollten uns nur auf uns selbst verlassen. Falsche Hoffnung auf das Urteil des Verfassungsgerichts untergraben die notwendigen eigenen Aktivitäten.
Mehr im Internet:
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