Am 13. Mai ist die Sozialistin und Gewerkschafterin Gisela Kessler verstorben. Wir veröffentlichen aus diesem Anlass erneut ein Interview mit ihr aus dem Jahr 2008. Sie vertrat darin den Standpunkt, dass Emanzipation mehr ist als Gleichberechtigung mit dem Mann
marx21: Gisela, du hast von 1971 bis 1992 als Frauensekretärin in der IG Druck und Papier / IG Medien und dann bis 1995 als stellvertretende Vorsitzende gearbeitet. Was sind für dich die zentralen Erfolge und Sternstunden in deiner Arbeit?
Gisela Kessler: Manches sieht man/frau erst im Rückblick klarer. Heute sehe ich es als einen der zentralen Erfolge an, dass sich die Kolleginnen in unserer Organisation durch Bildungsarbeit, in gemeinsamen Aktionen, Kämpfen bis hin zu Streiks im Laufe der Zeit in ihrer Persönlichkeit ganz deutlich weiterentwickelt haben. Wir hatten das Glück, in der IG Druck und Papier eine Kampf- und Widerstandsorganisation zu finden und haben als Frauen nicht wenig dazu beigetragen, dass dies auch so blieb.
Die Frauenstrukturen haben wir Schritt für Schritt hin zum Wechselspiel zwischen Autonomie und Integration entwickelt. Unser strategischer Ausgangspunkt war der Betrieb. Klar, weil dort der Interessengegensatz von Kapital und Arbeit am unmittelbarsten aufeinander trifft und so solidarisches Handeln zur Gegenmacht stets neu entwickelt werden musste.
Was die Kolleginnen angeht, lassen wir doch einfach eine Journalistin reden, die unsere Bundesfrauenkonferenz beobachtet hat und ihren Artikel so überschrieb: „Eine unnachahmliche Mischung aus Phantasie, Heiterkeit, Frechheit, Erfahrung, Wissen, gelebter Solidarität und harter Arbeit«.
Und dann fragst du nach Sternstunden. Es war fraglos die bundesweite Solidaritätsbewegung mit den Heinze-Frauen gegen Lohndiskriminierung entlang aller Instanzen bis zum Bundesarbeitsgericht und dem Sieg dort. Eine Frauenforscherin der Bonner Universität betrachtet dies heute als „einen der bedeutendsten Arbeitskämpfe in der Geschichte der Bundesrepublik«.
Offensichtlich unterscheidet sich das Leben der heutigen Frauengeneration grundlegend von dem ihrer Mütter und Großmütter. Erwerbstätigkeit von Frauen ist zum Beispiel die Regel, nicht die Ausnahme. An den Universitäten studieren mehr Frauen als Männer und Deutschland wird von einer Kanzlerin regiert. Sind die wesentlichen Ziele der Emanzipationsbewegung erreicht?
Also fangen wir mal an: Die Fortschritte, die es ganz fraglos gibt, ob im gewachsenen Selbstbewusstsein, im fortschreitenden Bildungsstand, mehr ökonomische Unabhängigkeit vom Mann usw. sind nicht wie Geschenke vom Himmel gefallen. Vieles – das meiste – ist auch das Ergebnis von Kämpfen, in die sich Frauen zunehmend eingemischt haben, in den Betrieben, als Betriebs- und Personalrätinnen, in den Gewerkschaften, in Parteien und Politik, auf Demonstrationen, bei Streiks.
Jedoch: Es gibt auch Rückschläge. Schauen wir doch mal genau hin, wie sieht es aus mit der Erwerbstätigkeit von vielen Frauen? Da gibt es einen erheblichen Zuwachs an prekären Arbeitsverhältnissen: Leiharbeit, Zeitarbeit, befristete Beschäftigung, erzwungene Teilzeitarbeit, Mini- oder Midi-Jobs, von Hartz IV ganz zu schweigen. Für immer mehr Menschen wird die Existenzsicherung unter Vorbehalt gestellt. Die Verunsicherung reicht hinein bis in die lohnabhängigen Mittelschichten. Sechs Millionen Menschen können nicht mehr von Arbeit leben; die Arbeits- und Rentenzeit wird verlängert statt verkürzt, Kinderarmut grassiert; Beruf und Familie sind für viele nicht vereinbar.
Du fragst, ob die Ziele der Emanzipationsbewegung erreicht sind? Was heißt denn Emanzipation? Ich habe gelernt, es ist ein Prozess oder eine Bewegung zur Befreiung; Befreiung von Fesseln! Es geht auch, aber um mehr als Gleichberechtigung mit dem Mann. Emanzipation hat etwas gesellschaftlich Anderes zum Ziel, etwas das über den Kapitalismus hinausweist. Es geht um die Überwindung der gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse, es geht um Individualität – nicht Individualismus -, also um die Freiheit des Individuums, sicher auch um die ökonomische Unabhängigkeit der Frau vom Mann, aber auch um die Aufhebung der Ausbeutung der Menschen durch den Menschen, eine Welt ohne Gewalt und ohne Krieg.
In der Frauenbewegung gibt es immer wieder einen Grundsatzstreit über das Verhältnis von sozialer Befreiung und Frauenbefreiung. Du hast dich dafür stark gemacht, die Geschlechterfrage mit der Klassenfrage zu verknüpfen. Warum?
Vorab: Ich bin aus voller Überzeugung Mitglied der Strömung Sozialistische Linke. Was dort gesagt und geschrieben ist, entspricht meiner langjährigen Erfahrung als Gewerkschafterin. Dort heißt es unter anderem, dass „wir einen neuen Anlauf unternehmen wollen, um die Herrschaft des Kapitals zu überwinden…« und wir sind „realistisch, kritisch, radikal und klassenorientiert zugleich«.
Was die Frauen angeht, so lesen wir bei den Frauen der Europäischen Linken und anderswo, dass es eine Verschränkung von Klasse und Geschlecht im Lebenszusammenhang von Frauen und Männern gibt. Nun wollen wir doch wissen, wie sich das konkret verhält. Und da sind wir auf eine Untersuchung „Klasse und Geschlecht« gestoßen.
Ich bin keine Intellektuelle, kann nur sagen, was bei mir aus meinen gelebten Erfahrungen greift. Die beiden Frauen Margareta Steinrücke und Petra Frerichs kritisieren, dass vielen Untersuchungen ein Erklärungsansatz gemeinsam ist: Sie bleiben insofern abstrakt, als Menschen nur auf ihre Eigenschaft, Männer und Frauen zu sein, reduziert werden. Damit wird von anderen, für sie möglicherweise bedeutsameren Eigenschaften, wie Angehörige einer bestimmten Klasse zu sein, abstrahiert.
Aus dem Blick geraten dabei spezifische Unterdrückungserfahrungen von Frauen verschiedener Klassen, sowie Solidarität von Frauen und Männern ihrer Klasse, wenn sie gemeinsam die Erfahrung von Ausbeutung, Unterdrückung und Not machen und dagegen auftreten.
Nun kann ich hier nicht die gesamte Untersuchung erläutern. Wichtig ist das Ergebnis: Sie sagen, dass wir auf keinen Fall von einem einheitlichen und damit solidarisierungsfähigen Großsubjekt „Frau« ausgehen können. Frau-Sein bedeutet in verschiedenen Klassen unterschiedliches. Und – das ist wichtig für uns – „dazu bedarf es diskursiv strukturierter Zusammenhänge von Frauen und der politischen Organisation, ohne die im übrigen noch keine Befreiungsbewegung ihre Heterogenität hat überwinden können…«
Was aber heißt das für unseren politischen Alltag? Wir Frauen müssen doppelt kämpfen, einerseits mit allen Lohnabhängigen zusammen gegen Ausbeutung, Unterdrückung, Sozial- und Demokratieabbau und gegen Krieg – andererseits mit den Frauen zusammen gegen soziale, sexuelle und kulturelle Unterdrückung des weiblichen Geschlechts. Und wenn wir mit Clara Zetkin weiterhin sagen „die Frauenfrage ist ein Teil der sozialen Frage«, dann verstehen wir darunter die Zusammenfassung von all dem.
Was gibst Du der neu gegründeten LINKEN für ihren Kampf gegen Frauenunterdrückung mit auf den Weg?
Genau das! Es geht um emanzipatorische Forderungen, die die Frauen entwickeln und diskutieren müssen, Forderungen die gleichzeitig mobilisierungsfähig sind. Also Kristallisationspunkte, in denen sich wie in einem Brennglas gebündelt Diskriminierungen, Unterdrückungen, Abhängigkeiten, Ausbeutungsverhältnisse widerspiegeln. Aber auch kreative Aktionsformen, die die Entwicklung der Solidarität fördern und damit dem neoliberalen Denkgift des tödlichen Stachels der Konkurrenz entgegenwirken. Die Frauen der Linken brauchen freilich auch BündnispartnerInnen. Wie wäre es zum Beispiel mit Betriebsrätinnen? Davon gibt es 56.217 und bestimmt – mir fehlen die genauen Zahlen – noch einmal so viele Personalrätinnen. Sie alle sind, wenn sie Frauendiskriminierung aufgreifen, Grenzgängerinnen zwischen den Klassen- und Geschlechterverhältnissen und zwar am unmittelbaren Ort des Geschehens. Die Frauen der Sozialistischen Linken haben sich vorgenommen, an all diesen Herausforderungen weiterzuarbeiten. Und das ist gut so!
Das Interview erschien erstmals in: marx21 Nr.4, Februar 2008. Das Gespräch führte Stefan Bornost, leitender Redakteur marx21
Zur Person:
Gisela Kessler war von 1971 bis 1991 Frauensekretärin im Hauptvorstand der IG Druck und Papier und bis 1995 stellvertretende Vorsitzende der IG Medien. 1979 organisierte Gisela Kessler die Solidaritätsbewegung mit den „Heinze-Frauen« und deren Kampf um gleichen Lohn für gleiche Arbeit. 2005 war sie dann Gründungsmitglied der Partei WASG und wurde Mitglied im Landesvorstand Bayern. Danach war sie Mitglied der LINKEN und unterstützte dort die Strömung Sozialistische Linke.
Foto: sozialismus.de
Schlagwörter: DIE LINKE, Emanzipation, Feminismus, Frauen, Frauendiskriminierung, Geschlechterpolitik, Gewerkschaft, Gewerkschaften, Inland, Sozialistische Linke, Streik