Aufruhr und Repression im Iran. Lee Sustar beleuchtet die Hintergründe und Triebkräfte der Ereignisse.
Mit den Massenprotesten gegen einen mit großer Wahrscheinlichkeit manipulierten Wahlsieg des amtierenden Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad hat sich der Iran auf unbekanntes Gebiet begeben. Die seit langem schwelenden Risse in der herrschenden Klasse Irans haben sich wegen der Massenunterstützung für den reformistischen Präsidentschaftskandidaten Mir Hussein Mussawi zur breiten Kluft entwickelt. Das gewaltsame Vorgehen der Polizei gegen Demonstrationen in der Hauptstadt Teheran wurde begleitet von der Verhaftung von 130 bekannten Mussawi-Anhängern, wozu auch Mohammed Resa Chatami gehört, der Bruder des ehemaligen Präsidenten Mahmud Chatami und einstiger Parlamentssprecher, sowie der Schwiegersohn von Ajatollah Ruhollah Chomeinei, Führer der islamistischen Revolution von 1979. Weitere von der Polizei verhaftete Personen sind Mustafa Tadschsadeh, ehemals Innenminister unter Chatami, Behsad Nabawi, früher Industrieminister, und Mohsen Mirdamadi, Organisator der Besetzung der US-Botschaft im Jahr 1979.
In der Vergangenheit richteten sich solche Repressalien vor allem gegen liberale Zeitungsherausgeber, Menschenrechts- und Gewerkschaftsaktivisten. Jetzt werden wichtige Politiker von Ahmadinedschad nicht anders behandelt. Von den Protestierern auf der Straße wird er als Diktator bezeichnet und mit dem ehemaligen Schah verglichen, dem von den USA unterstützten und 1979 gestürzten Machthaber des Irans. Dieser Kampf an der Spitze der iranischen Gesellschaft könnte zu noch mehr Rebellion von unten führen. Anders als bei früheren Wahlen, wo sogar die Opfer von Wahlbetrug die Ergebnisse hinnahmen, hat Mussawi sich geweigert, stillzuhalten. Stattdessen rief er seine Unterstützer auf, auf der Straße zu bleiben, und bat offiziell um die Genehmigung weiterer Proteste.
Wahlfälschung – aber warum?
Hart umkämpfte Präsidentschaftswahlen und Stimmenklau, um den Wähleranteil um ein oder zwei Prozentpunkte zu erhöhen, sind im nachrevolutionären Iran nichts Neues. Aber Ahmadinedschads Behauptung, 62 Prozent der Wählerstimmen erhalten zu haben, ist nicht glaubwürdig. Während es durchaus sein kann, dass er in ländlichen Gegenden aufgrund der Unterstützung unter den Armen von den fünf Konkurrenten die meisten Stimmen auf sich gezogen haben könnte, ist es sehr unwahrscheinlich, dass er eine große Mehrheit hat und einer Stichwahl zwischen den beiden Spitzenkandidaten entgeht. Das offensichtlichste Zeichen für Wahlbetrug ist, dass die Wahlverlierer laut Wahlbehörden nicht einmal in ihren Heimatstädten und -regionen eine Mehrheit bekommen haben sollen. Das wäre im Iran fast einmalig. Zum Beispiel hat Mussawi laut offiziellen Ergebnissen in der Provinz Aserbaidschan sehr schlecht abgeschnitten, obwohl er Aseri und dort sehr beliebt ist. Der Nah- und Mittelostexperte Juan Cole schrieb: „Es wird behauptet, dass der Kleriker Mehdi Karrubi, der andere reformistische Kandidat, 320.000 Stimmen erhielt und in den iranischen Westprovinzen schlecht abschnitt, in Luristan sogar verloren hat. Er ist Lur und im Westen, einschließlich Kurdistans, sehr populär. Im Jahr 2005 erhielt Karrubi 17 Prozent der Stimmen in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen. Es mag sein, dass die Unterstützung für ihn seitdem abgenommen hat, aber es ist höchst unglaubwürdig, dass er weniger als ein Prozent der Stimmen erhielt."
Die Frage lautet: Warum sollte Ahmadinedschad das Risiko solch einer offensichtlichen und groben Wahlfälschung eingehen? Die Antwort muss Spekulation bleiben. Aber ein Wahlbetrug mit der Behauptung einer überwältigenden Mehrheit der Stimmen ist durchaus logisch, weil Ahmadinedschad dadurch einer Stichwahl gegen Mussawi, seinen Hauptkonkurrenten, entgeht.
In den letzten Tagen vor der Wahl am 12. Juni mobilisierten Mussawis Anhänger zu Demonstrationen, an denen Hunderttausende Menschen teilnahmen, und das nicht nur in der Hauptstadt Teheran, sondern auch in Provinzstädten. Vermutlich fürchtete Ahmadinedschad, dass es bei einer zweiten Wahlrunde zu noch größeren Protesten kommen und Mussawi den Sieg davontragen würde. Somit war es sicherer, sich gleich in der ersten Runde zum Sieger zu erklären und jede weitere Herausforderung zu verhindern. Ajatollah Chamenei, oberster religiöser Führer des Irans, bestätigte die Wahlergebnisse in der Hoffnung, wieder Ordnung herzustellen.
Wie zu erwarten war, riefen die Wahlergebnisse neue Proteste hervor. Bisher haben die Demonstranten den gewalttätigen Angriffen von Polizei und paramilitärischen Revolutionsgarden, den Basidschi, widerstanden. Die Revolutionsgarden patrouillieren auf den Straßen, um „unislamisches" Verhalten wie angeblich schamlose Kleidung bei Frauen zu ahnden. Durch die Verschärfung der Spaltungen in der herrschenden Klasse hat der Wahlbetrug in der iranischen Politik eine neue Ära eingeleitet, in der konkurrierende Gruppierungen sich zu einer Art echter politischer Parteien formieren könnten. Das wäre eine Entwicklung, die bisher durch das Establishment der schiitischen Kleriker, die die iranische Politik dominieren, verhindert wurde. Wir wissen nicht, was jetzt geschehen wird. Aber um die politische Dynamik im Iran besser zu verstehen, empfiehlt es sich, sich die soziale Basis der Spitzenkandidaten anzusehen.
Die soziale Basis der Kandidaten
Ahmadinedschad, ein Veteran des Iran-Irak-Kriegs der 1980er Jahre und der bewaffneten Revolutionsgarden, ist Vertreter der harten Rechten innerhalb der Geistlichkeit und des nationalen Sicherheitsapparats. Als relativ unbekannter Kandidat bei den Wahlen von 2005 konnte er – dank sehr wahrscheinlich gestohlener Wählerstimmen – in die Stichwahl kommen. Sein Gegenspieler war ebenfalls ein Konservativer, der ehemalige iranische Präsident Ali Akbar Haschemi Rafsandschani. Durch einen populistischen Wahlkampf gelang es Ahmadinedschad relativ einfach, Rafsandschani zu schlagen, einen der reichsten Männer des Irans und Vertreter des Großkapitals.
Nach Amtsantritt wollte Ahmadinedschad die liberale Politik der Vorgängerregierung unter dem Reformer Mahmud Chatami zurückdrängen. Chatami hatte während seiner achtjährigen Amtszeit in sozialen Fragen eine liberalere Haltung eingenommen, um die gebildete Mittelschicht zu fördern, während er Wirtschaftsverbindungen zum westeuropäischen Kapital knüpfte. Chatami war aber nicht fähig, sich gegen die Angriffe der Hardliner auf liberale Studenten und die Medien durchzusetzen, und hatte der Arbeiterklasse und den Armen wenig zu bieten. Ahmadinedschad konnte deshalb vom Zynismus der Mittelschichtintellektuellen gegenüber den Reformern profitieren, indem er der Arbeiterklasse, der Mehrheit der Bevölkerung im Iran, bessere Tage versprach.
Im Amt zapfte Ahmadinedschad die hohen staatlichen Öleinkommen an, um seine politische Basis zu konsolidieren. Almosen für die Armen, Boni für Regierungsangestellte und lokale Entwicklungsprojekte standen im Zentrum seiner Wirtschaftspolitik. Und indem er den Konsum der Arbeiter und Armen ankurbelte, steigerte er auch das Einkommen der Basaris – der Kleinstunternehmer, die das Rückgrat der iranischen harten Rechten bildeten. Andere Fraktionen der iranischen herrschenden Klasse betrachteten diese Politik mit wachsender Besorgnis. In den Augen von Leuten wie Rafsandschani wurde der Wirtschaft durch Ausgaben für Sozialprogramme nach dem Gieskannenprinzip und Klientelpolitik nach lateinamerikanischer Art Geld entzogen, das für Investitionen benötigt wurde, vor allem für die Modernisierung der Öl- und Gasindustrie. Viele betrachteten Ahmadinedschads Konfrontationskurs gegenüber dem Westen in der Frage des Atomprogramms mit Misstrauen. Ihrer Ansicht nach lohnte es sich nicht, sich im Gegenzug dafür Sanktionen gegen die iranische Ökonomie einzuhandeln.
Unterdessen rieb sich die gebildete Mittelschicht zunehmend an den plumpen Versuchen, die gesellschaftlichen Normen der islamistischen Revolution wieder durchzusetzen. Zudem musste die Arbeiterklasse zusehen, wie ihr Einkommen inflationsbedingt sank und unter Ahmadinedschad Versuchen der gewerkschaftlichen Organisierung mit scharfer Unterdrückung begegnet wurde. Der Präsident versuchte sogar, Preissubventionen für die Lebensmittel der Armen zurückzunehmen, und die Korruption – seit langer Zeit ein Muster der iranischen Regierung – blieb ungebrochen.Aus diesen Gründen sahen Mussawi und seine Anhänger eine Gelegenheit, Ahmadinedschad abzusetzen. Bei diesem Versuch kamen einige merkwürdige Verbündete zusammen. Einer der Hauptunterstützer von Mussawi ist Rafsandschani, obwohl derselbe Rafsandschani zwei Jahrzehnte zuvor die Abschaffung des Amts des Ministerpräsidenten durchgesetzt hatte, um Mussawi zu verdrängen, der diesen Posten damals innehatte. Mussawi war seinerzeit Vertreter einer staatskapitalistischen Wirtschaftspolitik, die für Importbeschränkungen und Regierungskontrolle über Schlüsselindustrien eintrat. Rafsandschani war als Befürworter privater Eigentumsrechte entschlossen, ihn zu isolieren, und er war damit weitgehend erfolgreich. Heute steht Mussawi mit seinem Wirtschaftsprogramm Rafsandschani viel näher. „Er trat für Wirtschaftsliberalisierung ein, versprach, die Inflationskontrolle durch Geldpolitik und Erleichterung von Privatgeschäften", schrieb der britische Journalist Robert Fisk. Während Mussawi mit seinem Eintreten für Frauenrechte und größere politische Freiheiten studentische Aktivisten und die Mittelschicht begeisterte, versuchte er nicht ernsthaft, die Arbeiter und die Armen anzusprechen, und überließ so Ahmadinedschad das Feld. Der iranische Präsident bezichtigte zum Beispiel Rafsandschani während einer im Fernsehen übertragenen Wahldebatte der Korruption. (Der reformistische Präsidentschaftskandidat Karrubi stellte ebenfalls keine ökonomischen Fragen in den Mittelpunkt seines Wahlkampfs.)
In der Krise nach den Wahlen wurden die Beschränkungen der sozialen Basis der Reformer offensichtlich. Ein Kampf zur Absetzung Ahmadinedschads würde viel radikalere Massenaktionen erforderlich machen als alles, was wir bisher erlebt haben. Es scheint jedoch eher zweifelhaft, dass Mussawi, der in den vergangenen drei Jahrzehnten zur politischen Hierarchie gehörte, zu Arbeiterstreiks oder zum Aufstand aufruft. Er wird versucht sein, ein Spiel auf zwei Ebenen zu spielen, indem er einerseits zu Straßenaktionen aufruft, während er weiterhin auf Rafsandschani setzt – den Chef des Expertenrats und begnadeten Strippenzieher -, um zu irgendeiner Art von Abkommen mit Ahmadinedschad zu kommen. Vielleicht ist es dafür aber auch zu spät. Fortgesetzte Proteste und Repression könnten Mussawi und seine Verbündeten davon überzeugen, eine Untergrundopposition zu bilden. Tatsächlich hat Ahmadinedschad bereits Mussawi beschuldigt, eine „Samtrevolution" nach dem Vorbild der tschechoslowakischen Demonstrationen von 1989 loszutreten, durch die das stalinistische Regime gestürzt wurde. Zweifellos werden die USA versuchen, den Machtkampf im Iran zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen, indem sie den diplomatischen Druck erhöhen und die üblichen CIA-Aktivitäten verstärken, um Teile der Opposition zu kooptieren. Das wäre ein willkommenes Geschenk an Ahmadinedschad, der jeden entsprechenden Versuch als Vorwand nutzen würde, die Opposition in Misskredit zu bringen oder sie gar zu zerschlagen. Echter demokratischer Wandel im Iran wird nicht durch das Eingreifen der USA kommen, sondern durch die Ausweitung und Vertiefung der Protestbewegung.
Zum Text:
Veröffentlichung auf marx21.de mit freundlicher Genehmigung von socialistworker.org. Dort ist er zuerst auf Englisch erschienen. Übersetzung von Rosemarie Nünning