Das Parlament aufgelöst, Mubaraks Mann als Kandidat zugelassen – das ägyptische Verfassungsgericht putscht gegen die Revolution. marx21 dokumentiert einen Aufruf der Revolutionären Sozialisten, die dafür argumentieren, die Kämpfen auf den Plätzen und in den Betrieben zu verbinden
Die Militärmachthaber Ägyptens haben zusammen mit alten Anhängern des gestürzten Diktators Hosni Mubarak einen unverhüllten Angriff auf die Revolution unternommen: Das Verfassungsgericht hat das Parlament aufgelöst und dem bevorzugten Kandidaten der Armee erlaubt, für die Präsidentschaftswahlen an diesem Wochenende zu kandidieren. Das sind gleich zwei Schritte Richtung Gegenrevolution.
Das Gericht, dessen Mitglieder Mubarak noch vor seinem Sturz im Februar 2011 ernannt hatte, erklärte ein Gesetz für ungültig, wonach Beamte des alten Regimes von der Kandidatur zum Präsidentenamt ausgeschlossen waren. Damit kann Ahmed Schafik, Mubaraks letzter Ministerpräsident, an der Stichwahl teilnehmen. Das Militär hofft offensichtlich, dass Schafik gegen den Kandidaten der Muslimbruderschaft, Mohammed Morsi, gewinnt.
Mit einer zweiten Entscheidung erklärte das Gericht die Wahlen für rund ein Drittel der Sitze im ägyptischen Parlament, die überwiegend der Muslimbruderschaft gehören, für ungültig. Das Gericht erklärte das Parlament bis zu Neuwahlen für aufgelöst. Einige Parlamentsmitglieder haben jedoch schon gesagt, dass sie sich der Verfügung widersetzen wollen.
Das Parlament umgehen
Das Ziel des Gerichtsentscheids besteht darin, dem Obersten Rat der Streitkräfte (SCAF) unter einem am Sonntag zu wählenden neuen Präsidenten gesetzgeberische Macht einzuräumen. Dieser Präsident wird seinen Eid vor den Generalen ablegen müssen. Dann könnte der Militärrat statt des Parlaments eine verfassunggebende Versammlung einberufen.
Am Tag vor dem Gerichtsentscheid hatte das Regime das Kriegsrecht wieder verhängt und der Polizei wie den Sicherheitskräften das Recht gegeben, jeden zu verhaften, der sich den Behörden widersetzt, den Verkehr blockiert, Gebäude beschädigt oder die Sicherheit der Regierung gefährdet – mit anderen Worten umfassend gegen Proteste vorzugehen.
Ein Putsch gegen die Revolution
Abdel Moneim Abul Futuh, der ehemalige Führer der Bruderschaft, der als Präsidentschaftskandidat angetreten war und als Kandidat der Revolution angesehen wird, erklärte: »Der Kandidat der Armee darf im Rennen bleiben und das gewählte Parlament wird aufgelöst, nachdem die Militärpolizei das Recht bekommen hat, beliebig zu verhaften: Das ist ein Putsch – und wer glaubt, dass Millionen Jugendliche stillhalten werden, macht sich etwas vor.«
Saad Abud von der Partei der Würde, deren Vorsitzender Hamdin Sabahi ist, ein weiterer Präsidentschaftskandidat, der mit der Revolution verbunden wird und bei den Präsidentschaftswahlen knapp hinter Morsi und Schafik auf den dritten Platz kam – sagte dem Guardian: »Das ist ein politisch motiviertes Urteil, das faktisch einen Putsch darstellt. Zusammen mit dem anderen Urteil, das Schafik erlaubt, im nächsten Wahlgang anzutreten, bedeutet das das Todesurteil für die Revolution. Es ist von höchster Dringlichkeit, dass wir wieder in den revolutionären Prozess eintreten.«
Heftige Proteste
Auch der Kandidat der Muslimbrüder, Mohammed Morsi, verurteilte die Gerichtsentscheidungen. Er erklärte aber auch, er respektiere den Richterspruch gegen den Ausschluss ehemaliger Beamter Mubaraks vom passiven Wahlrecht und er werde an diesem Wochenende bei der Wahl wieder antreten.
Die Verkündung der beiden Gerichtsentscheidungen traf sofort auf heftige Proteste vor dem Gerichtsgebäude, und Massen von Demonstranten gingen bis in den Abend auf die Straße.
Es folgt eine Stellungnahme der Revolutionären Sozialisten zu dem Gerichtsurteil:
Das Verfassungsgericht hat heute die Beendigung einer Phase der Revolution zugunsten des Militärregimes verkündet. Die Gerichtsbarkeit, die sich zum Helfershelfer des Regimes gemacht hat, hat das Parlament für aufgelöst erklärt. Sie hat auch entschieden, das Gesetz für ungültig zu erklären, mit dem der Mann von der Kandidatur ausgeschlossen wurde, der den Posten des Ministerpräsidenten besetzte, während die revolutionäre Jugend in den Straßen niedergemacht wurde.
Das Gericht hatte zuvor einen Präzedenzfall in Bezug auf das ägyptische Wahlkomiteegesetz geschaffen: Es räumte dem Verwaltungsrat, der von der Armee geschaffen wurde, um die Wahlen zu beaufsichtigen, richterliche Macht ein. Sinn des Ganzen war, Ahmed Schafik ins Präsidentenamt zu heben, der von allen Kräften der Bevölkerung abgelehnt, aber von der Armee und der Richterschaft unterstützt wird. Auf diese Weise kann er sein Versprechen erfüllen, innerhalb von 24 Stunden für »Sicherheit« zu sorgen und diejenigen hinzurichten, die er als »Verbrecher« bezeichnet, während er die Wirtschaft dazu anregt, unsere Arbeiterinnen und Arbeiter als billige Ware auf den globalen Arbeitsmarkt zu werfen.
Der Militärrat diktiert
Und während das Regime Mubarak, repräsentiert vom Militärrat, alle ihm zur Verfügung stehenden Institutionen, Mittel, Medien, Menschen und Material mobilisiert hat, um die Revolution vom 25. Januar 2011 zu schlagen, streiten sich die politischen Kräfte über die Spaltung der Gesellschaft in eine zivile (also säkulare) und eine islamische. Der Militärrat hat uns jedoch heute daran erinnert, dass Ägypten in eine zivile (also nicht militärische) und eine militärische Gesellschaft gespalten ist. Und er hat allen bewiesen, dass Demokratie unter dem Schutz der Armee eine Lüge ist, dass die Richterschaft unter Aufsicht der Armee unterwürfig und abhängig ist.
Die ständig rangelnden und feilschenden politischen Kräfte, die nach Macht dürsten, welche sie aber nicht einen einzigen Tag in Händen hielten, wollten ihre Bedingungen diktieren, wollten die Forderungen der Revolution auf »demokratische« Forderungen im Schatten eines Regimes beschränken, das noch nicht einmal bereit ist, die ungerechten Verhältnisse einer bürgerlichen Demokratie einzuführen. Dieses Regime geht noch viel weiter als eine ungerechte bürgerliche Demokratie, weil es Waffen trägt und Internierungslager und Gefängnisse unterhält, weil es das fürchterliche Instrument der Folter anwendet.
Stabilität der Börse
Die Massen riefen nach einem Stück Brot, dem Recht auf Arbeit und einem Leben in Würde und sozialer Gerechtigkeit, aber diese Forderungen wurden als spalterisch angesehen, sie sollten warten, bis die Stabilität des Staats wieder hergestellt ist – was die Stabilität der Börse bedeutet, der Investitionen, des Rads der Produktion, das Überrollen und Niederschlagen der Arbeiterbewegung, der Armen, der Studenten und derer, die am Rande der Gesellschaft stehen. Sie forderten eine Vertretung der Kopten in der verfassunggebenden Versammlung, nur um durch die Kirche und eine Handvoll Geschäftsleute vertreten zu werden. Sie wurden nicht von der Schwester Mina Danjals vertreten oder von den Revolutionären, die zusehen mussten, wie ihre Brüder und Schwestern bei dem Massaker von Maspero von den Panzern der Armee überrollt wurden.
Sie forderten die Vertretung der Frauen und sie erhielten als Vertretung sieben Frauen, die keinerlei Ahnung vom Leben der Frauen in diesem Land haben, der Armut, der Unterdrückung, Diskriminierung und der Verletzung einfachster Rechte, wozu das Recht auf körperliche Unversehrtheit innerhalb wie außerhalb der Gefängnisse gehört. Sie forderten eine Vertretung für die Arbeiter, also wurden diese von Männern des alten Regimes aus den gelben Gewerkschaften vertreten. Und sie stritten sich über die Parteienvertretung, dabei war keine der Parteien fähig, die Revolution zu schützen.
Kein Sieg an der Wahlurne
Kein Wunder, dass sich unter den Revolutionären, Genossen, Kollegen und Freunden Entmutigung breit machte, ein ungläubiges Staunen über die jetzige Entwicklung, denn die Konterrevolution scheint mit einem Schlag gewonnen zu haben. Das aber war zu erwarten, wenn wir glauben, dass unsere mutige Revolution in der Lage ist, demokratische Rechte zu bekommen ohne gleichzeitig den Kampf um soziale Gerechtigkeit zu führen. Die Parolen und der Kampf für soziale Gerechtigkeit ermatteten angesichts der Forderung nach einer neuen Verfassung und einem neuen Präsidenten und Parlament und so weiter.
Für unsere Revolution wird es aber keinen Sieg an der Wahlurne geben, keine politische Gruppierung, keine Demonstration, keine jugendliche Hartnäckigkeit auf den Plätzen der Befreiung werden ausreichen. Die Arbeiterklasse, die noch nicht in die Schlacht eingetreten ist, ist die einzige Kraft, die unserer Revolution zum Erfolg verhelfen kann, so wie sie den Kopf des Regimes gestürzt hat.
Betriebe und Plätze
Es ist wahr, dass die Arbeiterklasse tapfer gegen das Management und gegen die Kapitalisten in ihren Betrieben kämpft, aber die Kämpfe sind nicht mit den Plätzen und nicht miteinander verbunden. Die Streiks und Kämpfe und Besetzungen, die in ihrer Anzahl und Verbreitung beispiellos sind, haben sich nicht nicht zu einer geschlossen revolutionären Arbeiterbewegung formiert, um sich solidarisch gegen die Phalanx der Gegenrevolution zu stellen. Stattdessen ist die Gegenrevolution vereint in ihren mörderischen Apparaten bestehend aus Exekutive, Legislative, Judikative und Strafeinrichtungen. Und die Revolutionäre der Plätze verweigern sich der Organisation und Politik, als ob die Revolution nicht die höchste Form praktischer Politik wäre.
Die Brücken sind also zwischen den beiden Armeen der Revolutionen noch nicht geschlagen. Um diese Brücken zu bauen, müssen wir auf die zweite Runde der Revolution hinarbeiten. Den Aufbau einer Einheitsfront all jener, die bei einem Sieg der Revolution gewinnen werden, in den Betrieben, bei den Bauern, der Jugend und den Frauen, bei den arbeitenden Männern und Frauen Ägyptens. Das ist heute unsere Aufgabe, eine Aufgabe, die abhängig ist von den Kämpfen in den Betrieben und den Stadtvierteln, und nicht vom Verhandlungstisch.
Unsere Revolution wird siegen, trotz des Hasses der Armee und ihrer Kumpanen. Und die Rache für unsere Märtyrer wird kommen, trotz des Hasses der Mörder.
Es leben die Märtyrer!
Sieg der Revolution!
Macht und Wohlstand für das Volk!
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