Jan Richter arbeitet seit zehn Jahren erfolgreich dafür, dass die Beschäftigten einer Berliner H&M-Filiale selbstbewusst für ihre Forderungen einstehen. Wie er und die anderen Betriebsrätinnen das machen, erläutert er im marx21-Gespräch
Jan, du hast im Jahr 2003 als Studierender in der H&M-Filiale in der Berliner Friedrichstraße gejobbt und dabei den Betriebsrat mitgegründet. Wie kam das?
Damals habe ich mich am Streik der Studierenden gegen Kürzungen an den Hochschulen beteiligt. Nach einer Streikaktion an der Uni musste ich zur Arbeit und eine Kollegin erzählte mir, sie wolle einen Betriebsrat gründen und dass ich mitmachen könne.
Wieso hatte eure Filiale bis dahin keinen Betriebsrat?
Davor gab es Regionalbetriebsräte, daher auch einen gemeinsamen Betriebsrat für alle Berliner Filialen. Den hatte H&M aber aufgelöst, weil er arbeitnehmerfeindliche Pläne der Geschäftsführung meist abgelehnt hatte.
Also musste in jeder Berliner Filiale ein eigener Betriebsrat gegründet werden?
Nein, zunächst ging die Strategie der Geschäftsführung auf. Nur in 3 der 29 Berliner H&M-Filialen haben engagierte Kolleginnen Betriebsräte gegründet: bei uns und in zwei weiteren Filialen. Mittlerweile gibt es in zehn Berliner Filialen einen Betriebsrat.
Warum wollte deine Kollegin eine studentische Aushilfskraft im Betriebsrat haben?
Studierende sind bei H&M leider keine Aushilfen, sondern oft die Mehrheit der Belegschaft. Damals war das auch in der Friedrichstraße so. Die wenigen Vollzeitbeschäftigten hatten Angst, einen Betriebsrat zu gründen. Später meinte meine Kollegin, wenn sie das gewusst hätte, hätte sie gleich alle dort jobbenden Studierenden gefragt.
Gibt es keine Stammbelegschaft wie bei anderen großen Unternehmen?
Wir reden hier vom Einzelhandel. Das ist eine andere Welt als die Auto- oder Chemieindustrie.
Inwiefern?
Bei H&M und bei vielen anderen Einzelhändlern sind unbefristete Vollzeitbeschäftigte eine kleine Minderheit. Die meisten Angestellten haben befristete und Teilzeitverträge. Viele haben einen Vertrag über zehn Wochenstunden und erfahren frühestens ein paar Tage vorher, ob sie mehr arbeiten dürfen.
Frühestens ein paar Tage vorher?
Ja. Oft wird man auch weniger als 24 Stunden vor Schichtbeginn angerufen. Wer dann zu oft ablehnt, bekommt keine zusätzlichen Stunden mehr und könnte eine Entfristung oder Verlängerung gefährden.
Warum werden die Beschäftigten so schlecht behandelt?
Das ist deutschlandweit das Geschäftsmodell von Konzernen wie H&M: Sie nehmen fast nur Leute, die jünger als 25 Jahre und bereit sind, maximal flexibel zu arbeiten. Die Kolleginnen erhalten einen Vertrag über 24 Monate, der bis zu dreimal ohne Sachgrund befristet werden kann und oft auch wird. Kaum jemand ist mehr als vier Jahre in der Branche, geschweige denn bei H&M.
Ist das eine neue Entwicklung?
In den 1990er Jahren waren die Arbeitsbedingungen auch im Einzelhandel deutlich besser. Hier hat die SPD-Grüne-Regierung mit ihren Hartz-Gesetzen eine Branche mit drei Millionen überwiegend weiblichen Beschäftigten weitgehend umgekrempelt – mit katastrophalen Folgen für die Kolleginnen.
Sind die Löhne besser als die Arbeitsbedingungen?
Nein. H&M hält sich zwar an den Tarifvertrag. Aber das bedeutet einen Einstiegslohn von 11,08 Euro pro Stunde.
Das klingt doch akzeptabel.
Nicht bei den üblichen Teilzeitverträgen. Viele Kolleginnen kommen gerade einmal auf 800 Euro brutto im Monat. Ist das genug, wenn man ein Kind hat?
Trotzdem gibt es woanders deutlich niedrigere Stundenlöhne als 11,08 Euro.
Stimmt, Lidl oder KiK bezahlen deutlich weniger. Es könnte also schlimmer sein. Und ich verspreche jedem Kollegen und jeder Kollegin: Wenn wir nicht für bessere Arbeitsbedingungen und Löhne kämpfen, kommt es auch schlimmer. Die Geschäftsführung versucht immer wieder, den Gewinn von H&M auf unsere Kosten zu erhöhen. Warum sollen wir das zulassen? Nur weil es Kolleginnen gibt, die noch schlechter dran sind?
Wofür haben du und die anderen Betriebsräte sich hauptsächlich eingesetzt?
Wir haben zunächst mit den Beschäftigten gesprochen, um herauszufinden, was ihre wichtigsten Ziele sind. Daraus ergaben sich in unserer Filiale als zentrale Forderungen: Keine Sonntagsarbeit, keine Öffnung nach 20 Uhr, keine Leiharbeiter in der Filiale und die Schaffung von Vollzeitstellen.
Wart ihr erfolgreich?
Vor zehn Jahren arbeiteten in unserer Filiale von 47 Beschäftigten fünf in Vollzeit, vier in fester Teilzeit und 38 flexibel nach Wunsch der Geschäftsführung. Dabei mussten wir 3800 Überstunden anhäufen. Zwei Kolleginnen waren Mitglied von ver.di.
Heute sind wir 57 Kolleginnen, davon 30 in Vollzeit, 14 in fester Teilzeit und 13 sind flexible Kräfte. Es gibt keine Überstunden und wir haben einen Organisationsgrad bei ver.di von 71 Prozent.
Niemand muss sonntags arbeiten, die Filiale schließt immer um 20 Uhr. Wir haben keine Leiharbeiter und keine Mini-Jobber. Die Vollzeitbeschäftigten arbeiten pro Woche 37 Stunden und nicht mehr. Jeder hat mindestens jeden zweiten Samstag frei. Das sind große Unterschiede zu den meisten anderen H&M-Filialen, in denen es keinen Betriebsrat gibt.
Wie habt ihr das geschafft?
Wir mussten H&M unter Druck setzen. Und entscheidend dafür war die Beteiligung der Belegschaft. Wir haben Betriebsversammlungen, Umfragen und Workshops organisiert, in denen die Beschäftigten ihre Forderungen selbst diskutieren und ihre Aktionen selbst planen konnten.
Hat das die Geschäftsführung beeindruckt?
Ja. Das »Wirtschaftsmodell Einzelhandel« beruht größtenteils darauf, dass die Beschäftigten jede Anweisung, unter noch so schlechten Arbeitsbedingungen, zu einem noch so schlechten Lohn ausführen. Wenn sie das nicht mehr tun und stattdessen verlangen, über ihre Arbeit mitzubestimmen, funktioniert dieses Modell nicht mehr.
Ist es nicht normal, dass ein Betriebsrat die Forderungen der Beschäftigten bündelt und mit der Geschäftsführung darüber verhandelt?
Überhaupt nicht. Viele Betriebsräte versuchen eher, den Beschäftigten die Beschlüsse des Managements zu erklären. Über alle Branchen hinweg wagen es die wenigsten Betriebsräte, eine Forderung der Geschäftsführung grundsätzlich abzulehnen. Auch dann nicht, wenn sie den Interessen der Kollegen eindeutig widerspricht.
Wieso das?
Sie haben Angst, dass die Manager die »vertrauensvolle Zusammenarbeit« mit ihnen aufkündigen. Die meisten Betriebsräte verstehen sich hauptsächlich als Partner der Geschäftsführung. Das ist die »Sozialpartnerschaft« zwischen Management und Betriebsrat.
Was bedeutet das in der Praxis?
Ein gutes Beispiel sind die Öffnungszeiten im Einzelhandel. In den meisten Filialen werden sie ausschließlich von der Geschäftsführung bestimmt. Und wenn der Betriebsrat und die Beschäftigten nicht darüber sprechen, scheint das selbstverständlich zu sein. Genauso, wie es selbstverständlich ist, dass die Geschäftsführung darüber entscheidet, welche Waren verkauft werden, und nicht die Angestellten.
Und der Betriebsrat?
Ein »sozialpartnerschaftlicher« Betriebsrat stellt längere Öffnungszeiten normalerweise nicht infrage, sondern erklärt den Beschäftigten, warum sie für das Unternehmen notwendig sind. Wenn überhaupt, fordert er für die Arbeit spätabends oder am Wochenende höhere Zuschläge.
Aber bei euch läuft das anders?
Unser Betriebsrat betreibt keine »Sozialpartnerschaft«. Wir helfen dabei, die Ziele der Beschäftigten durchzusetzen und meistens bedeutet das gerade nicht, als Betriebsrat Verständnis für die Anliegen des Arbeitgebers aufzubringen und diese widerstandslos gegen die Interessen der Beschäftigten durchzuwinken.
Wie geht ihr mit den Plänen der Unternehmensleitung um?
Wenn ein Manager mit Gewinnerlächeln in unser Büro kommt und sagt, er »habe eine neue Idee für unsere Filiale«, wissen wir, dass es wahrscheinlich nichts Gutes ist. Wenn die »neue Idee« dann darin besteht, sonntags zu öffnen, setzen wir unser Gewinnerlächeln auf und versprechen ihm, die Beschäftigten zu fragen, was sie davon halten. Und wenn die Kolleginnen sonntags nicht arbeiten wollen, lehnt der Betriebsrat die »neue Idee« kompromisslos ab und die Filiale bleibt geschlossen.
Klingt, als sei es recht einfach, die Rechte der Beschäftigten durchzusetzen
Erstens ist es nicht immer einfach und zweitens ist die entscheidende Frage: Wie schafft man es, dass die Beschäftigten ihre Forderungen selbst formulieren und gegenüber der Geschäftsführung einfordern?
Viele linke Betriebsräte scheitern nicht am Unternehmer, sondern am mangelnden Klassenbewusstsein der Beschäftigten. Wenn ein Betriebsrat seinen Kolleginnen nicht erklären kann, warum er die Neueinstellung von Leiharbeitern ablehnt, nützt ihm die beste politische Theorie nichts. Und wenn die Kolleginnen nicht hinter ihm stehen, kann der Betriebsrat auch nicht viel durchsetzen. Auch dann nicht, wenn die Forderungen richtig sind.
Sind solche gewerkschaftlichen Forderungen so schwierig zu verstehen?
Natürlich. Wir Betriebsräte müssen lernen, dass heutzutage viele Beschäftigte kein blindes Vertrauen in die Gewerkschaften und ihre Forderungen haben. Jemand der sich noch nie mit »Arbeitnehmerinteressen« beschäftigt hat, weiß vielleicht nicht, dass Mehrarbeit keine Arbeitsplätze sichert, sondern vernichtet.
Hat euer Betriebsrat auch solche Probleme?
Durch unsere zehnjährige Arbeit an der Seite der Beschäftigten nur noch selten. Aber zu Beginn wurden auch wir von manchen Beschäftigten scharf kritisiert.
Worin bestand der Konflikt?
Im Jahr 2005 haben wir erreicht, dass mehrere Zehn-Stunden-Kräfte gegenüber der Geschäftsführung schriftlich erklärt haben, dass sie Vollzeit arbeiten wollen. Bis dahin hatten die Manager behauptet, die Kolleginnen seien mit ihren flexiblen Verträgen zufrieden.
Haben diese Erklärungen etwas genützt?
Sie waren ein wichtiger Schritt. Denn jetzt hatten wir als Betriebsrat die Möglichkeit, jeden Einsatz von Leiharbeitern grundsätzlich abzulehnen, bis der Wunsch dieser Kolleginnen nach Vollzeit erfüllt wird.
Hat die Geschäftsführung sich gewehrt?
Ja. Zunächst haben sie Schichtpläne veröffentlicht, in denen Kolleginnen allein in einer Abteilung arbeiten sollten. Das war der Moment, in dem wir Betriebsräte von einzelnen Beschäftigten angebrüllt wurden, weil es völlig unmöglich ist, diese Arbeit allein zu leisten.
Habt ihr den Kolleginnen nachgegeben oder sie ignoriert?
Weder noch. Wir haben diskutiert, diskutiert und nochmal diskutiert. Unser Argument war: Wenn wir alleine arbeiten müssen, dürfen wir nicht versuchen, die Arbeit von drei Kolleginnen zu machen. Die Geschäftsführung ist schuld, wenn niemand die Kleidung aufräumt und der Laden nach ein paar Stunden im Chaos versinkt. Wir erledigen wie immer unsere Arbeit, aber nicht mehr.
Hat das funktioniert?
Ja. Wir haben gemeinsam entschieden, zuzulassen, dass die Filiale »vor die Wand fährt«, weil wir nicht schuld daran sind, dass die Geschäftsführung keine Vollzeitstellen schafft. Durch diese Diskussion haben wir eine neue Stufe des Klassenbewusstseins erlangt.
Und die Vollzeitstellen?
Nach der ersten Ein-Personen-Schicht sah die Filiale so aus, dass praktisch kein Verkauf mehr stattfinden konnte. Zwei Tage später hat die Geschäftsführung verbindlich neue Vollzeitstellen zugesagt. Alle 320 »unbesetzten« Arbeitsstunden wurden auf die eigene Belegschaft verteilt. Am nächsten Tag haben wir Betriebsräte uns neben eine Kollegin gestellt und gerufen: »Begrüßt unsere neue Vollzeitkraft.« Erst waren alle still und haben mit offenem Mund gestaunt. Dann kam der Beifall.
Streiks sind im Einzelhandel traditionell schwierig. Ist eure Belegschaft streikfähig?
Auch hier gilt: Langfristige Arbeit der Betriebsräte zusammen mit den Beschäftigten zahlt sich aus. Wir haben in der Tarifrunde 2007/08 das erste Mal gestreikt. Beim ersten Versuch kamen zum Streiktreffpunkt am S-Bahnhof nur vier Kolleginnen. Aber nach einem halben Jahr Diskussion mit den Beschäftigten hat am Donnerstag vor Ostern 2008 die komplette Schicht vor der Filiale gestreikt. Außerdem sind zahlreiche Kolleginnen in ver.di eingetreten. Auch das war ein wichtiger Schritt, um unter den Beschäftigten das Bewusstsein zu verbreiten: Wir selbst müssen für unsere Ziele einstehen. Den Job erledigt niemand anders für uns.
Das heißt, die Filiale war an diesem Streiktag geschlossen?
Diese Frage beantworte ich als Arbeitnehmer, nicht als Betriebsrat (Betriebsräte dürfen nicht streiken, Anm. d. Red.): Leider nicht. H&M hat Streikbrecher aus Leipzig, Magdeburg und Rostock einbestellt, ihnen Hotels in Berlin bezahlt und angeordnet, sich den ganzen Tag bereit zu halten. Eine halbe Stunde nach Beginn des Streiks wurden die Streikbrecher mit Taxis zur Filiale gebracht. Den Laden wirklich dicht zu machen, ist eine Aufgabe, die wir in Zukunft anpacken wollen.
War die Tarifrunde erfolgreich?
Nach einer Forderung von 6,5 Prozent mehr Lohn haben wir 3,5 Prozent erreicht. Zwischen 2000 und 2008 gab es zwei Lohnerhöhungen: Einmal 0,8 und einmal 1,2 Prozent. Von daher waren die 3,5 Prozent ein Erfolg.
Hat H&M euren Betriebsrat bekämpft?
Ja. Der Höhepunkt war die Klage auf Amtsenthebung des Betriebsrats im Jahr 2011. Die Begründung war, dass mit uns keine »vertrauensvolle Zusammenarbeit« möglich sei.
Kann ein Unternehmen einen Betriebsrat absetzen?
Es gab eine Verhandlung vor dem Arbeitsgericht. Allerdings hat H&M die Klage während des Prozesses zurückgezogen, weil sie keine Aussicht auf Erfolg hatte.
Hat diese Klage eure Position geschwächt?
Zunächst hat sie natürlich unsere Arbeit in der Filiale eingeschränkt. Aber am Ende ging der Schuss der Geschäftsführung nach hinten los, weil die Beschäftigten sich aus Eigeninitiative vor ihren Betriebsrat gestellt und die Amtsenthebung abgelehnt haben. Auch das war nur möglich, weil sich in unserer Filiale viele Beschäftigte bewusst sind, dass ihr Verhältnis zur Geschäftsführung zwangsläufig konfliktreich ist und dass sie für diesen andauernden Konflikt einen Betriebsrat brauchen.
Damit hatte H&M scheinbar nicht gerechnet. Nach dem Prozess waren unsere Beschäftigten mit ihrem Betriebsrat noch näher zusammengerückt. Außerdem haben uns H&M-Betriebsräte aus ganz Deutschland ihre Solidarität erklärt.
Ist eure Arbeit bei H&M Berlin-Friedrichstraße ein Einzelfall oder gibt es das öfter?
Wir klassenbewussten Betriebsräte sind eine Minderheit, aber nicht alleine. Auch H&M-Betriebsräte in Berlin-Gesundbrunnen, München, Stuttgart, Hannover, Wiesbaden, Oldenburg oder Trier sind sehr engagiert, kämpferisch und versuchen, ausschließlich die Forderungen der Beschäftigten durchzusetzen und nicht die Wünsche des Kapitals. Zurzeit hat die Geschäftsleitung von H&M Trier die Kündigung des dortigen Betriebsrats Daminao Quinto beantragt.
Unter welchen Bedingungen ist solch eine kämpferische Betriebsratsarbeit möglich?
Unsere Filiale zeigt: Es gibt keine Bedingungen. Wir haben im Jahr 2003 unter Umständen angefangen, die viele erfahrene Gewerkschafter als hoffnungslos abgetan hätten. Aber durch kontinuierliche Arbeit, nicht für, sondern mit den Beschäftigten, haben wir aus einer gewerkschaftsfreien Zone eine konflikt- und streikfähige Filiale im Textileinzelhandel gemacht.
Wenn das überall geht, warum passiert es dann nicht?
Weil wir Betriebsräte und Gewerkschafter noch nicht genug umgedacht haben. Wir müssen aufhören, die Millionen meist weiblichen prekär Beschäftigten als »nicht organisierbar« abzutun und uns auf die großen Fabriken zu konzentrieren. Wer soll gegen Niedriglohn und Zehn-Stunden-Verträge kämpfen, wenn nicht die Niedriglöhner und flexibel Beschäftigten selbst? Darauf zu hoffen, dass der Bundestag irgendwann von alleine die Hartz-Gesetze abschafft, halte ich für eine Illusion.
Habt ihr auch in der jetzigen Tarifrunde des Einzelhandels gestreikt?
Der Arbeitgeberverband hat den Tarifvertrag in Berlin zum 30. Juni gekündigt. Ver.di Berlin hat deshalb entschieden, erst ab Herbst zu Warnstreiks aufzurufen, obwohl Kolleginnen in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen schon jetzt auf die Straße gehen und Selbstbewusstsein tanken. Das sollten wir Berliner aber meiner Meinung nach auch tun.
Warum ist ver.di Berlin so zurückhaltend?
Ein ver.di-Vertreter nannte das Argument, man müsse auf die Beschäftigten von Karstadt Rücksicht nehmen, weil das Unternehmen in einer tiefen Krise steckt. Aber Karstadt geht nicht Pleite, weil die Kolleginnen streiken und es wird nicht gerettet, wenn sie es nicht tun. Ich denke, das ist ein Fall, in dem wir die Interessen des Konzerns nicht mit den Interessen der Beschäftigten verwechseln dürfen.
Klingt, als wollte ver.di Berlin in der Tarifrunde gar nichts erreichen…
Doch, natürlich wollen die Gewerkschaftssekretäre das. Die Frage ist: Wie?
Ein Beispiel: In der Tarifkommission Einzelhandel von ver.di Berlin sitzen seit 15 Jahren dieselben Leute. Die meisten von ihnen haben ihr Leben lang die Gewerkschaft verwaltet und mit Managern verhandelt, aber kaum versucht, mit den Beschäftigten zu diskutieren, wie diese für ihre Ziele kämpfen können.
Gerade im Einzelhandel hat ver.di Berlin in den letzten Jahren kaum versucht zu streiken. Klassenkampf ist etwas, das wir alle wieder neu lernen müssen.
Heißt das, ihr seid zum Nichtstun verurteilt?
Nein. Ich bin überzeugt, dass auch der Berliner Einzelhandel im Herbst erfolgreich streiken wird, wenn wir uns gut vorbereiten. Unser Betriebsrat will jetzt schon ein möglichst großes Bündnis schmieden, weil wir viel Unterstützung brauchen – auch von Leuten, die nicht im Einzelhandel arbeiten. Deshalb führen wir zum Beispiel Gespräche mit der LINKEN oder machen Veranstaltungen wie vor kurzem mit dem SDS an der Humboldt-Universität Berlin. Je mehr Hilfe wir kriegen, desto eher können wir den Angriff der Einzelhandelskonzerne abwehren.
(Das Interview führte Hans Krause.)
Zur Person:
Jan Richter ist Vorsitzender des Betriebsrats von H&M Berlin-Friedrichstraße.
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