Unter der Flagge des Kampfes gegen Antisemitismus hat die Bundestagsfraktion der LINKEN eine problematische Erklärung zum Nahost-Konflikt verabschiedet. marx21 ordnet den Text ein und nimmt dazu Stellung
Die Linksfraktion hat eine in der Partei, in der linken Bewegung insgesamt, aber auch in der Fraktion selbst sehr umstrittene Erklärung verabschiedet. Besonders problematisch ist dabei folgender Absatz, besonders weil er unter der Überschrift »Entschieden gegen Antisemitismus« geführt wird: »Wir werden uns weder an Initiativen zum Nahost-Konflikt, die eine Ein-Staaten-Lösung für Palästina und Israel fordern, noch an Boykottaufrufen gegen israelische Produkte noch an der diesjährigen Fahrt einer »Gaza-Flottille« beteiligen. Wir erwarten von unseren persönlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie den Fraktionsmitarbeiterinnen und Fraktionsmitarbeitern, sich für diese Positionen einzusetzen.«
Der Beschluss legt aufgrund seiner Überschrift in diesem Zusammenhang nahe, dass eine Beteiligung an der Gaza-Flottille, Boykottaufrufe gegen Waren aus besetzten Gebieten oder der Einsatz für einen multi-ethnischen und säkularen Staat antisemitisch seien.
Massive Drohungen
Diese Deutung bringt weite Teile der bundesdeutschen und internationalen Linken in den Ruf, antisemitisch zu sein. Damit öffnet man die Tore, die man in der Bundestagsdebatte über Antisemitismus letzte Woche schließen wollte, wieder weit und gibt der Kampagne gegen DIE LINKE neuen Zündstoff. Sehr zur berechtigten Verärgerung der Mitglieder und Sympathisant/-innen unserer Partei, die beizeiten wieder zur politischen Arbeit zurückkehren wollen.
Es ist wichtig zu wissen, dass der Fraktionsbeschluss nur aufgrund massiver Drohungen der Fraktionsspitze zustande kam. Die knappe Hälfte der Fraktionsmitglieder hatte nach einem Geschäftsordnungsantrag dafür gestimmt, den Tagesordnungspunkt abzusetzen und die Erklärung gar nicht erst zu behandeln. In der doch folgenden vierstündigen Debatte meldeten sich viele zu Wort, die harsche Kritik an dem Vorgehen und der Vorlage äußerten. Da zu Recht zu befürchten war, dass Gregor Gysi bei einer Abstimmungsniederlage nicht mehr länger als Fraktionsvorsitzender zur Verfügung steht, haben viele MdBs entweder widerwillig zugestimmt, sich an der Abstimmung gar nicht beteiligt oder den Saal vor der Abstimmung verlassen. So auch die marx21-Unterstützerinnen Christine Buchholz und Nicole Gohlke.
Falsch kalkuliert
Die Abgeordneten, die diesen Beschluss vorbereitet haben, haben gezeigt, wie weit sie zu gehen bereit sind und wie schnell sie bereit sind, innerparteiliche Demokratie und Pluralität infrage zu stellen: »Wir erwarten von unseren persönlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie den Fraktionsmitarbeiterinnen und Fraktionsmitarbeitern, sich für diese Positionen einzusetzen.« Zwar ist nicht ausgesprochen, was passiert, wenn man sich weigert dies zu tun, aber Dagmar Enkelmann hatte im Tagesspiegel schon arbeitsrechtliche Konsequenzen, auf gut deutsch: Rauswurf, ins Spiel gebracht. Substanziellen Teilen der Mitgliedschaft, die in den letzten 50 Jahren entweder von der SPD rausgeworfen, im DGB an die Wand gedrückt wurden oder unter dem Parteiregime der SED gelitten haben, stößt diese Neuauflage der schlechtesten autoritären Fehlgriffe in der deutschen Arbeiterbewegung sauer auf.
Sinn des Beschlusses war die Disziplinierung des linken Flügels unter Zuhilfenahme der bürgerlichen Presse. Das Kalkül ist nicht aufgegangen. Die empörten Stimmen sind weit in der Überzahl, es hagelt Kritik an Inhalt aber vor allem Form des Beschlusses weit über die Parteilinke hinaus – auch das oft der Parteirechten zuneigende Neue Deutschland hatte Kritik. Bemerkenswert auch die Wortmeldung des bekannten israelischen Soziologen Moshe Zuckermann: »Die undurchdachte Resolution der Linkspartei hat mit Antisemitismusbekämpfung letztlich ebensowenig zu tun wie die »wissenschaftliche« Schrift, die ihr zugrunde lag, und die überflüssige Bundestagsdebatte, die diese Schrift provozierte. Gerade darin erweist sich der Verrat der Partei an dem, was sie zu vertreten vorgibt. Und dass sie mit ihrer Resolution sogar noch die bürgerlichen Parteien von rechts überholt hat – keine von diesen hat offiziell einen vergleichbaren Beschluss gefasst -, lässt sie zur Lachnummer der sich höhnisch die Hände reibenden deutschen Politszene verkommen.«
Zur Positionierung des marx21-Netzwerks:
a) Wir finden den Beschluss inhaltlich falsch, sein Zustandekommen mit den Abläufen einer demokratischen, pluralen Partei nicht vereinbar. Deshalb haben unsere Unterstützerinnen in der Fraktion auch nicht zugestimmt, sondern mit anderen Kritiker/-innen den Saal verlassen. Viele Fraktionsmitglieder der Parteilinken waren bei der Abstimmung auch nicht da, so dass die »Einstimmigkeit« einen Konsens vorgibt, der politisch so nicht da ist.
b) Die laufende Kampagne gegen die Linke in der LINKEN bedeutet keinen Durchmarsch, sondern ist Ausdruck der relativen Defensive des Realo-Flügels. Die Prognosen für die Berlin-Wahl sind schlecht, die Perspektive Rot-Grün mit der LINKEN als Korrektiv schwindet angesichts rot-grüner Stärke. In Ermangelung einer Positiv-Perspektive Regierungsbeteiligung, welche die Partei durch die Parlamentarisierung von alleine diszipliniert hätte, verlegen sich jetzt einige aufs Zerstören. Gegen die Kräfte der Zerstörung setzen wir den Aufbau der Partei über Bewegungsprojekte, ein klares linkes Profil und Arbeit an der Basis. Diese Perspektive und Einschätzung ist wichtig, um diejenigen in der Partei zu halten, die schockiert über den Beschluss drohen auszutreten.
Israel unter Druck
c) Die Kampagne entspringt auch der neuen Situation im Nahen Osten. Israel hat durch die Unterstützung der Autokraten – wie zum Beispiel Mubarak gegen die ägyptische Revolutionsbewegung – enorm an moralischem und politischem Kapital eingebüßt. Die von den arabischen Revolten inspirierte neue palästinensische Bewegung ist breit getragen und gewaltfrei, umso schwieriger kann die israelische Regierung ihre Repression rechtfertigen. In dieser Situation kann die Gaza-Flottille breite Unterstützung bekommen – das sollte im Vorfeld vermieden werden.
d) Wir wehren uns gegen die Diffamierung der BDS-Kampagne (mit Abstand die größte internationale Kampagne gegen die Unterdrückung der Palästinenser durch den israelischen Staat) als antisemitisch. Die Initiativen im Rahmen von BDS, die wir für geeignet halten, die Solidarität mit den Palästinensern in Deutschland zu verbreitern, unterstützen wir – also keine deutsche Waffen an Israel, keine Hilfe durch Beton oder Maschinen aus Deutschland für den Siedlungsbau, keine Straßen- oder Bahntrassen mit deutscher Hilfe durch besetztes Gebiet.
Vor allem aber halten wir dem jetzt anliegenden praktischen Fokus, nämlich der Unterstützung der Gaza-Flottille, fest. Hierzu gab es in mehreren Kreisverbänden Initiativen wie Solidaritätserklärungen. Mit ähnlichen Erklärungen und Veranstaltungen sollten wir praktisch tätig werden. Die Argumente, die heute gegen eine Unterstützung der Flottille ins Feld geführt werden, gleichen denen vom letzten Jahr, deshalb sind die damals veröffentlichten Gegenargumente von Christine Buchholz und Niema Movassat noch immer interessant.
Wie viele Staaten?
e) Zum Thema »Ein-Staaten-Lösung«: Konkret liegt die Ausrufung eines palästinensischen Staates im September an. DIE LINKE sollte von der Regierung fordern, dass sie den palästinensischen Staat anerkennt. Dazu gibt es einen Antrag der Fraktion. Es zeichnet sich überdeutlich ab, dass die israelische Regierung den Palästinenserstaat nicht anerkennen beziehungsweise seine Grenzen völlig ignorieren wird. Genau hier werden die praktischen Beschränkungen der »Zwei-Staaten-Lösung« deutlich werden. Vor diesem Hintergrund ist eine Debatte um einen multi-ethnischen und säkularen Staat legitim – wie sie mittlerweile aufgrund der Zersiedelung auch immer mehr Akteure in der Friedensbewegung führen.
Mehr im Internet:
- Israelkritik ist kein Antisemitismus (Peter Strutynski, Bundesausschuss Friedensratschlag)
- Die unerträgliche Leichtigkeit des Meinungsdiktats (Murat Cakir)
- »Das ist ein Skandal sondergleichen« Interview mit Prof. Dr. Fanny-Michaela Reisin, geboren in Jerusalem und israelische Staatsbürgerin, Präsidentin der Internationalen Liga für Menschenrechte (Junge Welt, 09.06.11)
- Brief an den Vorstand der Fraktion DIE LINKE (Wiltrud Rösch-Metzer, pax christi, u.a.)
- Zum so genannten Antisemitismusbeschluss der Linksfraktion (Andrej Hunko, MdB)
- Resolution zur Unterstützung der Gaza-Flottille (DIE LINKE. Kreisverband Soest)
Mehr auf marx21.de:
- Für eine freie und offene Debatte über den Nahostkonflikt in der LINKEN (Diskussionsbeitrag von Leandros Fischer)
- Im Rahmen der Debatte ist auch der marx21-Unterstützer Stefan Ziefle namentlich für seine Referate zum Thema »Ist Kritik an Israel antisemitisch?« im letzten November und auf dem Kongress »MARX IS MUSS 2011« im Juni angegriffen worden. Diese Angriffe weist er in einer persönlichen Erklärung zurück.
- Eine berechtigte Kritik: Ende Mai ging es im Plenum des Bundestages um Antisemitismus – nicht in der Gesellschaft, sondern um den angeblichen in der Partei DIE LINKE. Der Vorwurf ist nicht neu: Hinter der Kritik an der Politik des Staates Israel verberge sich plumper Judenhass. Doch damit werden Dinge zusammengeworfen, die nicht zusammengehören. Von Stefan Bornost