Ein halbes Jahr nach dem Sturz Mubaraks meldet sich die Revolution zurück auf dem Tahrirplatz. Und in den Betrieben. Anne Alexander berichtet aus Kairo
Die ägyptischen Militärherrscher kamen seit Anfang September nicht mehr zur Ruhe angesichts einer wachsenden Welle von Streiks und Protesten.
Am Donnerstag, den 9. September, bestritt der Arbeitsminister eine Marathonverhandlung mit den Vertretern von 22.000 Arbeitern der größten Textilfabrik des Landes in Mahalla al-Kubra. Nur im letzten Moment gelang es ihm, einen Streik abzuwenden, der wohl die gesamte Textilbranche umfasst hätte.
Einen Tag später versammelten sich bis zu 100.000 Protestierende auf dem Tahrirplatz in Kairo. Und das trotz der Abwesenheit der Muslimbruderschaft. Sie forderten »eine Berichtigung des revolutionären Wegs«. Sie hatten sich nach dem Freitagsgebet in einem Sternmarsch von fünf Arbeitervierteln aus auf den Weg zum Tahrirplatz gemacht.
Botschaft gestürmt
Von dort aus marschierten dann tausende in Richtung Innenministerium, Verfassungsgericht, Staatsfernsehen und israelischer Botschaft.
Nur Stunden später erhielten das Staatsoberhaupt Feldmarschall Mohammed Hussain Tantawi und seine Getreuen aufgeregte Anrufe aus Washington und Tel Aviv. Protestierende hatten die israelische Botschaft gestürmt, und die gesamte Botschaftsbesetzung musste evakuiert werden.
Botschaftsarchive flogen aus den Fenstern, umhüllt von den Rauchschwalben aus der nahe gelegenen Sicherheitszentrale von Giza, die von Demonstranten angezündet worden war.
Lehrer protestieren
Inmitten der sich zuspitzenden Krise wollten Premierminister Essam Scharaf und sein ganzes Kabinett ihren Rücktritt einreichen.
Zugleich waren 40.000 Lehrer und Lehrerinnen vor dem Parlament aufmarschiert. »Erfüllt unsere Forderungen, sonst gibt es heuer keine Schule«, stand auf ihren Bannern.
Die Generäle entschieden sich für die Repression, um die Kontrolle wieder an sich zu reißen. Sie organisierten Überfälle in den frühen Morgenstunden, um Protestierende aufzugreifen, und die Presse war voll von Schmähungen gegen »Gewalttäter« und »Rowdys«.
Harter Kurs
Der Militärrat verkündete, bestehende Gesetze gegen Streiks und Demonstrationen unter Gebrauch der Schusswaffe durchzusetzen und Mubaraks verhasste Notstandsgesetze wiederzubeleben.
Die Streikwelle breitete sich aber unaufhaltsam weiter aus. 26.000 Arbeiter der Zuckerraffinerien traten in den Kampf. Hunderte Textilarbeiter der Indorama-Fabrik in Schibinal-Kom besetzten am gleichen Tag das Büro des Provinzgouverneurs.
Die kollektive Aktion von unten hat wieder einmal den Kampf um nationale Befreiung mit dem Kampf um soziale Gerechtigkeit verknüpft. Sie hat die Massen in eine Schlacht zur Verteidigung der demokratischen Errungenschaften der Februarrevolution gegen die Generäle geführt.
Äußere Krise
Die innere Krise im Zuge dieses Zusammenstoßes nährt wiederum die äußere Krise. Das Netz von Bündnissen, das Israel und die USA in der Region geknüpft hatten, droht zu reißen. Die Beziehungen zwischen Israel und der Türkei sind auf einem Tiefpunkt. Der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdogan hat versprochen, zukünftigen humanitären Konvois nach Gaza Begleitschutz durch die türkische Marine zu gewähren, und hat israelische Diplomaten des Landes verwiesen.
Der Kontrast zwischen Erdogans Haltung und der der ägyptischen Generäle blieb nicht unbemerkt von den ägyptischen Massen. Erdogans Konterfei tauchte an vielen Stellen auf dem Tahrirplatz auf. Und es waren die Protestierenden, nicht Tantawi, die den israelischen Botschafter aus Ägypten auswiesen.
»Der Tsunami rollt an«, prangte auf der Titelseite der Sonntagsausgabe von Israels Maariv-Zeitung. »Nun schwankt unser letzter bedeutender Verbündeter in der Region, Ägypten, und droht unter dem Druck der Massen zusammenzukrachen.«
Koordinierte Streiks
Die jüngste Ausweitung der Arbeiterbewegung ist der Schlüssel zu einer Lösung dieses Ringens. Im Verlauf des letzten Monats hat es eine qualitative Verschiebung hin zu koordinierten oder branchenweiten Streiks in mehreren Schlüsselindustrien gegeben, darunter die Eisenbahn, die Post, der Bildungssektor und die Textilbranche. Viele verbuchen wichtige Zugeständnisse seitens des Staates, auch ohne in den Streik treten zu müssen, was wiederum andere Gruppen ermuntert, ihre Forderungen zu formulieren.
Die gegenwärtige Streikwelle wird zwar durch die Preissteigerungen angespornt, aber die Horizonte der Arbeiter sind viel breiter als ihre Lohntüten.
Politische Forderungen
Streikende Lehrer wollen einen Neubeginn in der Bildung, einen Minister, der von ihnen gewählt wird, und ein Ende von Privatschulen. Die Mahalla-Arbeiter fordern Investitionen, um die Textilindustrie vor dem Kollaps zu retten.
Schlüsselsektoren der Arbeiterschaft debattieren neue Organisationsformen, um die Streikbewegung weiter zu entfalten.
»Genug der leeren Versprechungen« titelte eine Stellungnahme der Demokratischen Arbeiterpartei. Sie forderte die Gründung eines Koordinierungskomitees für einen Generalstreik.
Solche Initiativen können das gewaltige Potenzial der ägyptischen Arbeiterklasse vereinen und sie in ein Instrument zur Herausforderung des Staates verwandeln. Eine solche Entwicklung kann den Kampf gegen Mubaraks Generäle einen entscheidenden Schritt voranbringen.
(Zuerst erschienen in der britischen Wochenzeitung Socialist Worker. Aus dem Englischen von David Paenson.)
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