Der kanadische Politikwissenschaftler Peter Hallward meint, dass es ist kein Zufall ist, dass Port-au-Prince wie eine Kriegszone aussieht.
Ein Erdbeben des Ausmaßes, wie es die haitianische Hauptstadt am Dienstagnachmittag heimgesucht hat, hätte in jeder Großstadt der Welt zu erheblichen Zerstörungen geführt. Dennoch ist es kein Zufall, dass Port-au-Prince heute wie eine Kriegszone aussieht. Die meisten Verheerungen durch die jüngste Katastrophe lassen sich am besten als menschgemacht erklären – als weitere, durch und durch menschgemachte Auswirkungen einer langen, hässlichen Reihe historischer Ereignisse.
Die Insel Haiti hat überproportional viele Katastrophen durch litten. 1770 starben Hunderte bei einem Erdbeben in Port-au-Prince. Beim großen Erdbeben 1842 starben vermutlich allein in der nördlichen Stadt Cap Haitien 10 000 Menschen. Hurrikane suchen die Insel regelmäßig heim – zuletzt 2004 und 2008. Ein Sturm im September 2008 überflutete die Kleinstadt Gonaives und schwemmte einen Großteil der maroden Infrastruktur einfach weg. Mehr als 1 000 Menschen starben, etliche tausend Häuser wurden zerstört. In Hinblick auf das aktuelle Erdbeben wird das volle Ausmaß der Zerstörung erst in einigen Wochen bekannt werden. Selbst minimale Instandsetzungsarbeiten werden sicherlich Jahre dauern, bis sie abgeschlossen sind. Die Langzeitfolgen des Erdbebens sind noch nicht absehbar. Klar ist die Tatsache, dass diese Auswirkungen das Resultat einer noch älteren Geschichte – einer Geschichte der bewussten Verarmung und Machtlosigkeit – sind. Haiti wird regelmäßig als das »ärmste Land in der westlichen Hemisphäre« bezeichnet. Diese Armut ist das direkte Vermächtnis des wahrscheinlich brutalsten Systems kolonialer Ausbeutung in der Weltgeschichte – abgerundet durch mehrere Jahrzehnte systematischer postkolonialer Unterdrückung die folgten.
Die edle »internationale Gemeinschaft«, die derzeit so emsig bemüht ist, »humanitäre Hilfe« nach Haiti zu verfrachten, trägt einen Großteil der Verantwortung für das Ausmaß der Not, die sie jetzt zu lindern versucht. Seit 1915 die USA in Haiti einmarschierten und das Land besetzten, wurde jeder ernsthafte politische Versuch des haitianischen Volk, sich »aus dem absoluten Elend zu einer Armut in Würde« hoch zuarbeiten – wie es Ex-Präsident Jean-Bertrand Aristide ausgedrückt hat -, bewusst und gewaltsam durch amerikanisch Regierungen und deren Verbündete blockiert. Die Regierung Aristide (die mit 75% der Wählerstimmen an die Macht kam) ist das aktuellste Opfer dieser Einmischungspolitik. Aristide wurde 2004 durch einen international gesponserten Staatsstreich gestürzt, bei dem mehrere tausend Menschen getötet wurden. Ein Großteil der Bevölkerung bebte vor Zorn. Nach dem Sturz von Aristide stationierte die UNO eine große, extrem kostspielige permanente »Stabilisierungs- und Pazifizierungstruppe« auf der Insel.
Heute ist Haiti ein Land, in dem – gemäß der besten, erhältlichen Studien -, rund 75% der Bevölkerung »von weniger als $2 am Tag leben; 56%, das sind 4,5 Millionen Menschen, leben von weniger als $1 am Tag«. Jahrzehnte der neoliberalen »Anpassung« und der neoimperialen Einmischung haben die Regierung praktisch aller maßgeblichen Möglichkeiten beraubt, die Wirtschaft zu regulieren oder in ihr Volk zu investieren. Internationale Handels- und Finanzabkommen, die Strafen vorsehen, stellen sicher, dass dieser Zerfall und diese Ohnmacht (als strukturelle Tatsachen) das Leben der Haitianer weiter bestimmen und dies in absehbarer Zukunft so bleibt. Diese Armut und Machtlosigkeit sind für das ganze Ausmaß des Schreckens, der Port-au-Prince jetzt heimgesucht hat, verantwortlich. Seit Ende der 70ger Jahre steht der landwirtschaftliche Sektor des Landes unter neoliberalem Dauerbeschuss. Zehntausende Kleinbauern wurden gezwungen, in übervölkerte urbane Slums abzuwandern. Dazu gibt es keine verlässlichen Statistiken, doch leben hunderttausende Bewohner und Bewohnerinnen von Port-au-Prince in verzweifelten Verhältnissen – in improvisierten Unterkünften, die nicht dem Standard entsprechen. Häufig sind sie bedrohlich an schräge, abgeholzte Hänge gebaut. Welche Menschen an diesen Orten und unter derartigen Bedingungen leben müssen, ist weder Zufall noch »natürlich«, ebenso wenig wie die Verletzungen, die sie jetzt erleiden, zufällig oder »natürlich« sind.
Brian Concannon ist Direktor des »Institute for Justice and Democracy« auf Haiti. Er weist auf Folgendes hin: »Diese Menschen sind dort gelandet, weil sie selbst oder ihre Eltern bewusst aus ländlichen Gebieten abgedrängt wurden – durch eine Handelspolitik und politische Hilfen, die speziell dazu entworfen worden waren, um ein großes Heer von Menschen zu schaffen, das in den Städten gefangen ist und daher eine ausbeutbare Arbeiterschaft darstellt; per definitionem handelt es sich um Menschen, die es sich nicht leisten konnten, erdbebensichere Häuser zu bauen«. Gleichzeitig ist die grundlegende Infrastruktur von Port-au-Prince – fließendes Wasser, Strom, Straßen usw. – extrem unzureichend oder vielfach überhaupt nicht vorhanden. Die Kapazitäten der Regierung zur Mobilisierung von Katastrophenhilfe gehen gegen Null. Seit dem Staatsstreich von 2004 regiert de facto die internationale Gemeinschaft das Land. Nun sind diese Staaten emsig bemüht, Nothilfe nach Haiti zu senden. In den vergangenen fünf Jahren jedoch hatten sie kontinuierlich gegen eine Ausweitung des Mandats der UNO-Mission auf Haiti – über den unmittelbaren mlitärischen Bereich hinaus – votiert. Vorschläge, einen Teil der »Investitionen« (für das Militär) zur Armutsbekämpfung einzusetzen oder zur Entwicklung der Landwirtschaft, wurden abgeblockt. Man blieb dem alten Muster treu – ein Muster, das festlegt, wie internationale »Hilfe« verteilt wird.
Die gleichen Stürme, die 2008 (auf Haiti) so viele Opfer forderten, trafen Kuba nicht weniger hart. Aber dort starben nur 4 Menschen. Kuba ist ein Land, das den meisten Auswirkungen der neoliberalen »Reformen« entgangen ist. Hinzu kommt, dass die kubanische Regierung in der Lage ist, ihre Bevölkerung vor Katastrophen zu schützen. Wenn es uns ernst damit ist, Haiti durch diese jüngste Krise zu helfen, sollten wir diesem Vergleich Beachtung schenken. Neben der Versendung von Notfallhilfe, sollten wir uns fragen, wie wir es den Menschen auf Haiti leichter machen können, sich selbst zu emanzipieren. Wenn wir wirklich helfen wollen, müssen wir aufhören, die Regierung dieses Landes kontrollieren zu wollen bzw. die Bürger zu befrieden und deren Wirtschaft auszuplündern. Außerdem sollten wir endlich damit anfangen, zu bezahlen – zumindest für einen Teil der Schäden, die die USA angerichtet hat.
Was du tun kannst:
Spenden und Hilfe sind in Haiti dringend erforderlich. Hier sind einige Organisationen mit Verbindungen zu den Basisbewegungen im Land.
- Der »Haiti Nothilfe-Fonds«, unterstützt Basisorganisationen in Haiti, die humanitäre Hilfe leisten. Er wird organisiert von Haiti Action. Das Netzwerk wurde nach dem Putsch im Jahr 2004 gegründet. Für weitere Informationen, einschließlich telefonischem Kontakt findest Du auf der Webseite der von »Haiti Action in Kanada«.
- Die Organisation »Zanmi Lasante Medical Center« hat iheren Sitz in der zentralen Hochebene von Haiti und bietet Gesundheitsversorgung durch ein Netz von Kliniken. Das Gesundheitszentrum hat das Erdbeben überstanden und kann so Hilfe in das Katastrophengebiet sicherstellen. Spenden vermittelt die US-amerikanische Non-Profit-Organisation »Partners in Health«.
- Das Schulprojekt »SOPUDEP« gibt es in der Stadt Petionville. Die Ressourcen der Schule und Lehrer werden mobilisiert, um die benachbarte Bevölkerung zu unterstützen. Sie können die Schulen unterstützung über die kanadische »Sawatzky Family Foundation«.
Zum Text:
Veröffentlichung auf marx21.de mit freundlicher Genehmigung von ZNet. Dort ist er zuerst auf Deutsch erschienen in der Übersetzung von Andrea Noll. Erstmals auf englisch erschienen bei Guardian Online am 13.1.2010.