Mit Stuart Hall verstarb am 10. Februar, kurz nach seinem 82. Geburtstag, einer der wichtigsten und innovativsten Denker der globalen Linken. Janek Niggemann und Benjamin Opratko argumentieren, warum seine Beiträge weit über seinen Tod hinaus lebendig bleiben.
Stuart Hall war ein linker „Intellektueller“ im Sinne des marxistischen Theoretikers Antonio Gramsci, dessen Denken Hall zutiefst prägte. Hall war kein abgehobener Theoretiker, war nie Teil der britisch-imperialen Bildungsaristokratie, die er an der Universität Oxford früh kennen und verachten gelernt hatte. Nicht bloß wegen ihrer elitären Haltung, sondern auch als einer der ersten einer Generation nichtweißer Intellektueller aus den Kolonien, die im Zentrum des britischen Empire zur neuen Elite der Kolonien ausgebildet werden sollte. Intellektueller wurde er aber, wie Gramsci es einst formuliert hatte, nicht durch „Beredsamkeit“, sondern „in der aktiven Einmischung ins praktische Leben, als Konstrukteur, Organisator, ‚dauerhaft Überzeugender’, weil nicht bloß Redner“ (1). Hall stritt innerhalb der Universität für den Aufbau und die Etablierung der Cultural Studies als politischem Theorieprojekt. Er war Hauptschullehrer im armen Teil East Londons, gründete Vereine wie die „Sozialistische Gesellschaft“ und Zeitschriften wie die New Left Review.
In einem gewissen Sinne steht die Lebensgeschichte Hall paradigmatisch für die Nachkriegsgeschichte der britischen Linken. Deren Konjunkturen, Krisen und Aufbrüche lassen sich – wie der Filmemacher John Akomfrah mit seiner Dokumentation „The Stuart Hall Project“ gezeigt hat – entlang der Biographie Halls nachzeichnen. Und umgekehrt lässt sich Halls Entwicklung als Intellektueller nicht ohne die historischen Zäsuren, die die britische Linke nach 1945 prägten, verstehen. Dazu zählte vor allem das Krisenjahr 1956, als die Suez-Krise das unwiderrufliche Ende des britischen Weltmacht-Imperiums anzeigte, und zugleich der ArbeiterInnenaufstand in Ungarn von sowjetischen Panzern im Namen des „Sozialismus“ zerschlagen wurde. Dies war die Geburtsstunde der „New Left“, einer neuen Generation linker AktivistInnen und TheoretikerInnen, die mit dem Stalinismus brachen. Viele von ihnen waren MigrantInnen aus den Kolonien oder kamen aus der ersten Generation von Bildungsaufsteigenden der englischen, irischen oder schottischen ArbeiterInnenklasse. Zum anderen markierte der Wahlerfolg Margaret Thatchers 1979 eine Zeitenwende in der Entwicklung des Kapitalismus, nicht nur in Großbritannien, sondern weltweit. Der „Thatcherismus“ war – neben den „Reaganomics“ in den USA und der Militärdiktatur Pinochets in Chile – ein zentraler Durchsetzungspunkt der neoliberalen Variante des Kapitalismus. Beide Umbrüche prägten Stuart Halls politische und theoretische Arbeit nachhaltig. Er gilt als eine der Gründerfiguren der New Left, die er vor allem als erster Herausgeber der 1960 neu gegründeten Zeitschrift „New Left Review“ prägte. Die inhaltliche, politisch-theoretische Erneuerung der Linken war für ihn einerseits durch die Neu- und Wiederentdeckung randständiger und verschütteter Traditionen kritischer Theorie verbunden. Zugleich sollte diese Erneuerung aber auch durch einen starken Fokus auf Fragen des Alltags, der Popularkultur und der nur scheinbar „unpolitischen“ Selbstverständlichkeiten des Denkens und Handelns angestoßen werden. Diese Perspektive verfolgte Hall ab 1964 als Direktor des „Centre for Contemporary Cultural Studies“ (CCCS) in Birmingham und später als Professor für Soziologie an der Open University. Die neoliberale Transformation der britischen Gesellschaft unter der konservativen Thatcher-Regierung analysierte Hall ab Ende der 1970er Jahre vor allem im Rahmen des Theoriemagazins „Marxism Today“, das vom „reformorientierten“ Flügel der Kommunistischen Partei Großbritanniens herausgegeben wurde.
Denken von der Diaspora ins Herz des Empires
Halls Lebensgeschichte steht also paradigmatisch für die Nachkriegsgeschichte der britischen Linken. Zugleich – und das macht die besondere Produktivität und das Inspirierende seines Denkens aus – war er jedoch auch eine höchst außergewöhnliche, ja eine solitäre Figur innerhalb dieser Geschichte. Geboren und aufgewachsen in Kingston, Jamaica, gehörte er zur ersten Generation von MigrantInnen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus den „westindischen“ Kolonien nach Großbritannien kamen. Ein Stipendium ermöglichte ihm ab 1951 an der Universität Oxford zu studieren, wo er sich von einer rein weißen upper-class-Kultur umgeben fand und nach eigenen Angaben „nach drei Monaten“ wusste, dass er hier nicht hingehörte. Hall war nicht nur linker und marxistischer, er war auch und besonders „post-imperialer“ Denker, ein Schwarzer Intellektueller, nicht im Sinne einer identitären „rassistischen“ Kategorie, sondern als Teil der Unterdrückungs- und Kampfgeschichte der Kolonialisierten und Unterdrückten, wie er selbst immer wieder betonte: als eines der historischen Subjekte der „langen Erinnerung der Katastrophe“ (W.E.B. DuBois). Folgenreich war Halls Perspektive darin, von den Kolonien aus zu denken, von der Diaspora ins Zentrum der westlichen kapitalistischen Gesellschaften. Dies betraf England mit seiner langen Geschichte der Durchsetzung von Imperialismus, Kolonialismus, Sklavenhandel und kultureller Dominanz als weltumspannender Macht in besonderer Weise. Hall schrieb ausgehend von einer konservativen und weißen englischen Universitätslandschaft, aber weit über sie hinaus, wie einer seiner Kollegen kürzlich in einem Nachruf schrieb: „Er ermöglichte mindestens zwei Generationen schwarzer Britischer WissenschaftlerInnen, dass wir uns als ‚DenkerInnen‘ begreifen und nicht bloß als Objekte soziologischer Neugierde. Dadurch hat Hall die weiße Universitätslandschaft sowie das intellektuelle Leben in Großbritannien und darüber hinaus für immer verändert“ (2).
Hall betrieb Theorieproduktion nicht als intellektuelles Glasperlenspiel, sondern zum Zwecke der Analyse der jeweils konkreten historischen Situation und der sie prägenden politischen Kräfteverhältnisse. Er entwickelte einen offenen, lernfähigen Marxismus, der auf die ernsthafte und produktive Auseinandersetzung mit unterschiedlichen kritischen Theorietraditionen angewiesen ist, anstatt sich durch Abgrenzung und Abschottung nur aus sich selbst heraus zu kritisieren. So rezipierte und verarbeitete er poststrukturalistische und psychoanalytische AutorInnen ebenso wie weniger prominenter TheoretikerInnen des black atlantic wie W.E.B. DuBois oder C.L.R. James. Er gab die prominente Position der Leitung des Centre for Contemporary Cultural Studies 1979 ab, da dem Feminismus einer nachfolgenden Generation nicht nur mit wohlwollendem Zuhören begegnet wurde und deshalb Ressourcen und Machtpositionen am Institut benötigte. „Als Diebin in der Nacht ist er [der Feminismus] eingebrochen; unterbrach die Arbeit; machte unziemliche Geräusche, eignete sich die Zeit an und kletterte auf den Tisch der Cultural Studies“ (3). Das alles jedoch nicht, um den je aktuellen intellektuellen Modetrends an den Universitäten nachzulaufen, sondern um die analytischen Werkzeuge immer weiter zu schärfen, die notwendig sind, um zu verstehen wie die Macht- und Herrschaftsverhältnisse funktionieren, die es umzuwerfen gilt.
Drei zentrale politische und theoretische Einsatzpunkte, die Halls Arbeiten prägten, sollen hier herausgegriffen werden: Sein Fokus auf Popularkultur und Alltagsverstand; die Entwicklung einer kritischen Theorie des Rassismus; und die Analyse der Hegemonie des Neoliberalismus.
Cultural Studies: Kultur und Alltagsverstand
Die inhaltliche Erneuerung des Marxismus, die Hall und andere TheoretikerInnen der britischen „New Left“ anstrebte, wendete sich vor allem gegen mechanistische Ansätze der Linken, den Marxismus als Wissenschaft von den „ehernen Gesetzen der Geschichte“ zu verstehen und festzulegen. Insbesondere argumentierte Hall – wie schon vor ihm Generationen revolutionärer MarxistInnen – gegen die Falle des „Ökonomismus“, also gegen den Fehlschluss, man könne aus der Analyse der ökonomischen Klassenstruktur einer Gesellschaft alle politischen, ideologischen und kulturellen Dynamiken – z.B. das Verhalten von Parteien, das „Bewusstsein“ von ArbeiterInnen oder deren alltäglichen Praxen – mehr oder weniger direkt ableiten. Der explizite Fokus beispielsweise auf Popular- und Jugendkulturen oder die Weisen, wie z.B. schwarze Jugendliche in Massenmedien als innere „Gefahr“ für die Gesellschaft dargestellt werden (4), sah er als notwendige Voraussetzung für ein realistisches Verständnis der jeweils aktuellen politischen Lage – und somit für effektive emanzipatorische Politik. „Kultur“ ist für Hall und die von ihm begründete Perspektive der Cultural Studies ein Begriff, der viel mehr umfasst als Hoch- und Popkultur. Als „a whole way of life“ (Raymond Williams) ist Kultur ein Terrain der Verhandlung, der Bedeutungen, der Grenzen und Umarbeitung von Ideologie, der Verbreitung von Identitätsvorstellungen, der Herstellung von Differenz und Stereotypen. Umgekehrt ging es aber auch um das Zusammenspiel verschiedener Bededeutungen und Symbole, ihre Aneignung, die kreative Auseinandersetzung mit ihnen und so dem Entstehen neuer Arten, die Welt zu sehen, zu denken und zu träumen.
Dabei ging es immer um die Art der Verbindung zwischen Kultur und Macht, zwischen der Produktion von Bedeutungen und denjenigen Gruppen, die sie produzieren, verwenden, durchsetzen. Besonders die Stärke und die Langlebigkeit von Moralvorstellungen, des Glaubens an eine Idee oder Utopie beschäftigten Hall wieder und wieder. Sie können eine Kraft sein, die auch gegen die schlimmsten Bedingungen oder die ungünstigste Ausgangslage die Hoffnung nicht zu verlieren helfen und die als Motor für neue Formen des Lebens und Denkens des Alltags und der politischen Kämpfe funktionieren kann, als Widerstand gegen falsche Neuerungen. Umgekehrt wurzelt im Alltäglichen der Kultur, im vermeintlich privaten Vergnügen der Freizeit, des Familienlebens usw. das Problem der herrschaftsförmigen Einbindung von Menschen durch verhärtete, schwer zu ändernde Überzeugungen. Auch hier ist Antonio Gramsci der wichtigste theoretische Bezugspunkt, der schon Anfang des 20. Jahrhunderts anhand popularer Erzeugnisse wie Groschenheften, Romanen und Zeitungsartikeln den Alltagsverstand der beherrschten Klassen – der „Subalternen“ – untersuchte . Hall schloss vielfältig daran an, wenn er die Analyse der kulturellen Produkte mit geringem Status fokussierte, um zu verstehen, welche Ideen begeistern, welche Gedanken bewegen, welche Überzeugungen mobilisieren, welche Verknüpfungen gemacht werden, um das eigene Handeln zu orientieren. Wie sind die kursierenden Vorstellungen, in welche Weltauffassung sind sie eingebunden? Sind sie Teil einer rückschrittlichen Ideologie oder verbünden sie sich mit emanzipatorischen Kräften, werden Teile linker Kritik unfreiwillig eingebaut in die Modernisierung von Herrschaft? Hall nahm Gramsci immer dort besonders ernst, wo er den antidemokratischen Impuls konservativer Kulturauffassungen in linken Parteien oder Theorieströmungen entdeckte und überwinden wollte. Im ersten Editorial der New Left Review schrieb er deshalb 1960: „Wenn wir in NLR Kinofilme oder Jugendkulturen diskutieren, dann nicht um zu zeigen, dass wir der Mode entsprechend mit dem Zeitgeist mithalten können. Diese Diskussionen sind direkt relevant für die kreativen Formen, in denen Menschen, die im Kapitalismus leben müssen, Widerstand leisten – die wachsenden Ausdrücke sozialer Unzufriedenheit, die Entwürfe tief verankerter Bedürfnisse.“
Kritische Theorie des Rassismus
Die Unzufriedenheit mit ökonomistisch geprägten Marxismen wirkte sich auch auf Halls Zugang zur Analyse des Rassismus aus. Er betonte, dass es nicht ausreiche, die ökonomische, symbolische, materielle und allzu oft mörderische Gewalt des Rassismus zu skandalisieren. Es sei notwendig zu verstehen wie Rassismus als alltäglicher „kultureller Code“ funktioniert – „how it works in our heads, so that we can better combat it in the streets“. Das schließt auch die Frage ein, wie Rassismus im Zusammenhang mit Klassenbildung funktionieren kann, ohne darauf begrenzt zu sein. Halls Perspektive lenkt die Aufmerksamkeit darauf, wie die Ein- und Zuteilung von Menschen entlang bestimmter Merkmale funktioniert, welchen Merkmalen Bedeutung verliehen wird, um Identität festzuschreiben und Differenz zu produzieren.„Stereotypisierung“ ist darin die zentrale Strategie, um zu definieren, wer sozial oder symbolisch „dazugehört“ und wer nicht, also die Grenze zwischen einem „wir“ und allen „anderen“ politisch herzustellen und so auch Zugänge zu Macht und Ressorucen systematisch zu regulieren oder zu verbauen. Menschen sind nicht nur verschieden, sie werden zu Verschiedenen gemacht. Stereotypisierung sichert so die bestehende Ordnung, nicht nur der sozialen Positionen, sondern auch des Imaginären, der kulturellen Räume, des Symbolischen. Die scheinbar so augenfällige Teilung entlang von Hautfarben ist tatsächlich eine hoch politische, voraussetzungsvolle, historisch weit zurückreichende kulturelle Praxis der Stereotypisierung. Rassismus ist somit nicht einfach das, was RassistInnen tun. Rassismus ist ein kulturell tief verankerte Logik, eine Art Code des Alltagsverstands, die ein bestimmtes System der Klassifikation – „Weiß“, „Schwarz“, „Inländer“, „Ausländer“, „Brite“, „Inder“ usw. – mit einer bestimmten Verteilung von Macht und Ressourcen verknüpft. Zugleich wendet sich Hall aber gegen Formen der – auch linken oder antirassistischen – „Identitätspolitik“. Seine Überzeugung ist, dass Identitäten, als Ergebnisse machtvoller Selbst- und Fremdzuschreibungen, nie fixiert oder stabil sind oder sein können. Er untersuchte Versuche, Identität zu produzieren, indem alles definiert wird, was sie nicht sind. Identitäten sind kompliziert zusammengesetzt, überlappend, widersprüchlich, oder in Halls Formulierung „hybrid“. Diese „Hybridität“ entspricht Halls prägender Erfahrung als Diaspora-Intellektueller: Als „bekannter Fremder“ gleichzeitig Teil von etwas zu sein und zugleich nicht, beide Orte zu kennen und zu keinem vollständig dazu zu gehören. „Und das ist genau die Diaspora-Erfahrung: genügend Entfernung, um das Gefühl des Verlustes und des Exils zu erleben und genügend Nähe, um das Rätsel einer auf ewig aufgeschobenen Ankunft zu verstehen.“ (5)
Identitäten bieten also keine „authentische“ Grundlage für echte, „authentische“ Politik – auch nicht für antirassistische Projekte. Sie sind nicht fest im Sinne von unveränderbar, sondern bilden sich in umkämpften Prozessen der Vereinheitlichung und Neuzusammensetzung und vor allem nicht abgelöst von den Gruppen, die sie für sich in Anspruch nehmen und sie artikulieren, auch gegen andere. Es ist auch ein bitteres Missverständnis, wenn Hall nun in zahlreichen Nachrufen als „Pate des Multikulturalismus“ gepriesen (oder abgekanzelt) wird. Hall ging es um effektive antirassistische Politik, in der die eigenen Anforderungen des Kampfes gegen Rassismus anerkannt werden, dieser sich aber zugleich als Teil eines breiteren politischen Projekts der politischen und gesellschaftlichen Emanzipation begreift. „Multikulturalismus“ war für Hall dort relevant, wo er als organisierende Ideologie die Kraft entfaltete, ein politisches Projekt zu organisieren, in dem viele unterschiedliche Identitäten, Positionen und Analysen sich verbanden. Es war eben kein Label, für das Hall Pate stand. Mit dem, was heute häufig als Multikulturalismus verstanden wird – das karnevaleske Nebeneinander abgegrenzter Kulturen, die sich gegenseitig durch exotische Kochrezepte, Ethnomusik und Produktivitätssteigerung durch Diversity Management bereichern, hat Halls Beitrag nichts zu tun.
Hegemonie des Neoliberalismus
Halls Analysen verfolgten den Zweck, die Konjunkturen gesellschaftlicher Entwicklungen auszumachen, um eine Erneuerung linker Politik voranzubringen, in der Theoriearbeit und Politik nicht voneinander getrennt stattfinden, aber auch nicht in eins zu setzen sind. Hall versteht als einer der Ersten, dass die Wahlerfolge von Reagan und Thatcher mehr als bloß einen vorübergehenden Rückschlag darstellen, sondern die Bedingungen und Koordinaten jeder zukünftigen linken Politik entschieden verändert hatten. Er prägt den Begriff »Thatcherismus«, um darauf hinzuweisen, dass die Politik der Konservativen in den 1980er Jahren eine neue Phase kapitalistischer Entwicklung einleitete: Eine breite Offensive des Kapitals, die auch – wie im Britischen Miner’s Strike 1984/5 – aber nicht nur mit Zwang und Repression gegen die ArbeiterInnenklasse vorging. Die Zunahme von Rassismus im weißen Teil der britischen ArbeiterInnenklasse seit den 80er Jahren und im Neokonservatismus der Thatcher-Regierung ließen sich nicht allein durch ökonomische Veränderungen erklären. Durch Nationalismus, law and order, massive Privatisierungen in öffentlichen Bereichen (Schulen, Unis, Krankenhäusern, soziale Absicherung) und einem nostalgischen Rekurs auf das Empire mit seinen „britischen Werten“ konnte die breite Zustimmung von weiten Teilen der Lohnabhängigen organisiert werden, obwohl gleichzeitig massive reale Verschlechterungen der Lebenslagen und Chancen vieler Menschen durchgesetzt wurden. Ein ganzes Bündel neoliberaler Leitsätze sind an vielen Stellen in der Zivilgesellschaft mit enormem Aufwand verbreitet worden. Die „Freiheit des Marktes“, das von Natur aus isolierte und konkurrenzgetriebene Individuum, das Mantra, wonach die Privatisierung staatlicher Betriebe und sozialer Infrastruktur alle gesellschaftlichen Bereiche effizienter und billiger machen würde – all diese Aussagen wurden zum Selbstverständnis von vielen, selbst wenn sie tatsächlich allenfalls die eigene Arbeitskraft zu Markte tragen konnten und existenziell auf soziale Sicherungssysteme und kollektive Solidarität angewiesen waren. Hall machte diese – nie vollständige, aber zunehmend erfolgreiche – Neoliberalisierung des Alltagsverstands, die Formulierung der Partikularinteressen des Kapitals als Allgemeininteresse der Gesellschaft – zum Ausgangspukt seiner Kritik. Er zeigte, dass die Leitsätze des Neoliberalismus von den Herrschenden und deren Intellektuellen erarbeitet wurden – als Theorieproduktion an den Universitäten, als Erklärung und Rechtfertigung bis hin zu Casting-Shows, in denen Tausende Leute um einen einzigen Job als Star konkurrieren.
Hall sah in dieser widersprüchlichen Bewegung, also der Vielfalt der Perspektiven und dem Schwinden ihrer sozialen, materiellen Grundlagen, eine der größten Probleme linker Gegenwehr zum Neoliberalismus: dem „autoritären Populismus“ der Thatcher-Regierung konnte die Linke kein „popular-demokratisches“ Projekt entgegensetzen, in dem der Kampf um reale materielle Verbesserungen mit der Demokratisierung und Pluralisierung von Lebensweisen im Alltag verknüpft worden wäre. Es ist nicht gelungen, Differenz zur Stärke der Kämpfe zu machen und eine „organisierende Ideologie“ zu formulieren, die die massiven Umverteilungen von unten nach oben und den rassistischen Mobilisierungen hätte begegnen können.
„Without Guarantees“: werden, was wir sein wollen.
Hall kritisierte nicht nur die Herrschaft des Kapitals, sondern auch die Institutionen der ArbeiterInnenbewegung – und zwar dort, wo sie etwa über die Bürokratien in Labour Party und Gewerkschaften Zugänge regulieren, die Grenzen zu den eigenen Debatten, Räumen und Ressourcen, zu Machtpositionen und Stellen abschließen. Eine Politik, auch von links, die auf Immunisierung setzt statt auf Überzeugung, verdient ihren Namen nicht. Dazu gehört auch ein kritisches, also reflektierendes, befragendes Verhältnis zu den eigenen theoretischen und analytischen Grundlagen. So muss die Erneuerung des Marxismus für Hall auch die „relative Autonomie“ verschiedener Unterdrückungsverhältnisse und die Eigenlogiken der Kämpfe um sie anerkennen, um zu verstehen, wie sie auf verschiedenste Weise an der (Re-)Produktion von Kapitalismus beteiligt sind. Denn Kapitalismus produziert nicht bloß „ökonomische“ Klassen. Klassenverhältnisse, die Spaltung in eine überwältigende Mehrheit an Ausgebeuteten und eine kleine Elite von Ausbeutenden, existieren immer in Kombination mit Geschlechterverhältnissen, mit rassistischen und auf Sexualität bezogenen Spaltungen.
Diese haben eigene Logiken, nach denen sie funktionieren, sind aber miteinander „artikuliert“, also wirklich ineinander verknüpft. Es gab nie „die“ Arbeiterklasse als einheitliches, männliches, weißes Subjekt. Für Gegner von Emanzipationsprozessen soll es sie sowieso nie geben, aber auch die Aktiven sozialer Bewegungen wollten nicht unter einen einzigen Kampf zusammengefasst werden. Stuart Hall verstand diese Erkenntnis schon sehr viel früher als viele dogmatische Kader, die die gewünschten Prozesse der Vereinigung mit Gleichmachen verwechselten, im Stalinismus mit den schlimmsten Formen von Mord und Einsperrung. Soziale Bewegungen sind aus verschiedenen Gruppen zusammengesetzt. Dennoch können sie nicht umhin, eine organisierte Gegenwehr zu organisieren, die ihre reale Differenziertheit in ihrer sozialen und symbolischen Bedeutung berücksichtigt, aber auf Prozesse der Einheit in den Forderungen nicht verzichtet. Es gibt keine Garantie dafür, dass sich der Kapitalismus verewigt, dass er das Ende der Geschichte ist, wie so gern behauptet wird. Ebensowenig sind wir schon die, die wir werden können. Mit Stuart Hall verlieren wir jemanden, der wusste, dass das persönliche Werden nur wird, wenn das gesellschaftliche Sein aufhört uns zu begrenzen, zu entmutigen, zu demütigen und gegeneinander zu verachten. Er war ein vehement politischer Mensch und wusste als solcher, dass Politik machen immer auch das Scheitern, die Sackgassen und Umwege beinhaltet. Politik machen wir „without guarantees“, wie Hall das gerne nannte, ohne uns auf den Fortlauf der Geschichte verlassen zu können – uns rettet weder ein höh’res Wesen noch die List der Vernunft. Politik beinhaltet aber auch, und das allein macht sie erstrebenswert, die Möglichkeit, etwas viel Besseres, Freieres, Gerechteres und Schöneres als das, was ist, zu erreichen. Dafür müssen aus individuellen Sorgen, Hoffnungen und Begehren gemeinsame, verbündete werden; dafür muss ein „Wir“ werden, ohne „Eins“ zu sein.
Es ist nun die Sache derjenigen, die Hall zurücklässt, den Dialog mit seinem Denken fortzuführen. Es zu entwickeln wäre ein Abschied, der einen Aufbruch beinhaltet: ein Abschied in die Zukunft.
Benjamin Opratko ist Autor von „Hegemonie. Politische Theorie nach Antonio Gramsci“. Janek Niggemann ist Mitherausgeber von „Gramsci Lesen. Einstiege in die Gefängnishefte“.
Fußnoten
(1) Antonio Gramsci: Gefängnishefte, Hamburg, 1991ff, S. 1531f.
(3) Stuart Hall: Ausgewählte Schriften Bd. 2, Hamburg, 1994, S. 42. Zum Feminismus in den Cultural Studies vgl auch S. 43 ff. :„Wir öffneten die Tür für feministische Studien, schließlich waren wir gute neue Männer. Aber als der Feminismus durch das Fenster einbrach, leistete die voll institutionalisierte patriarchale Macht, die sich bis dahin so erfolgreich verleugnet hatte, unvermutet Widerstand. […] Darüber zu reden, Macht abzugeben, ist eine völlig andere Erfahrung, als zum Schweigen gebracht zu werden“ Stuart Hall: Ausgewählte Schriften Bd. 2, Hamburg, 1994, S. 43.
(4) So in der 1978 erschienenen Studie „Policing the Crisis“, die Hall mit seinen Kollegen am CCCS verfasste.
(5) Stuart Hall: Ausgewählte Schriften Bd. 2, Hamburg, 1994, S. 16.