Frauenunterdrückung ist kein Thema von gestern, sondern noch immer alltäglich. Neue soziale Bewegungen kämpfen weltweit gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt – denn nicht das Geschlecht teilt die Menschheit in zwei Hälften. Von Kate Davison
Alle reden über Sexismus. Alle, außer Bundespräsident Joachim Gauck. Stattdessen erzählt er allen anderen, sie würden überreagieren. Als »Tugendfuror« bezeichnete er beispielsweise die Empörung über den FDP-Fraktionsvorsitzenden Brüderle. Schon wieder Frauen, die hysterisch werden. Moment. Kennen wir das nicht irgendwoher?
Die Reaktionen, die Rainer Brüderles Entgleisungen auf Twitter unter dem Hashtag #Aufschrei hervorrief, machen das Dilemma deutlich. Einerseits gehört Sexismus offensichtlich zum Alltag vieler Frauen. Andererseits trauen sich die wenigsten, das zu thematisieren, aus Angst, dann als »Miesepetras« dazustehen. #Aufschrei dokumentiert diese Erfahrungen, exemplarisch dafür ist der Tweet einer Userin, die schreibt, dass »ich Hemmungen habe, Sexismen zu benennen, weil ich nicht als humorlos gelten will«. Binnen weniger Tage erstellten zehntausende Frauen eine lange Liste von sexistischen Witzen, Bemerkungen und Verhaltensweisen, mit denen sie sich Tag für Tag berieseln lassen müssen. Einige der Beispiele gehen dabei weit über die »harmlosen« Sprüche hinaus und gehören eher in die Kategorie schwerer Beleidigung oder Belästigung.
Frauen twitterten über einen Universitätsprofessor, der eine Studentin anwies »Malen Sie mal einen Herd an die Tafel. Da gehen Sie besser wieder dran«, oder über den Lehrer, der seinen Schülerinnen in Mathematik mitgab: »Ach, die Mädchen… Ihr braucht das ja sowieso nicht.« Ein Tweet nach dem anderen berichtete von der Gewöhnlichkeit der »anzüglichen Witze im Job. Teilweise total unter der Gürtellinie und die Männerrunde lacht laut«, oder über den Kunden, »der täglich an der Kaffeebar seine ›Latte‹ bestellt und dabei nie ohne ›flotte‹ Bemerkung auskommt«. Unheilvoll der Chef, »der Vergewaltigungswitze total lustig findet«. Aber für den elitären Herrenclub ist das alles nur die politische Korrektheit der Ewiggestrigen. Ein Witzchen wird heutzutage doch wohl erlaubt sein, ohne dass einem gleich aggressive Feministinnen an die Gurgel gehen…
Es gibt aber einen Zusammenhang zwischen Witzen, Bemerkungen und Vorstellungen auf der einen und Taten und Strukturen auf der anderen Seite. Warum existiert Sexismus überhaupt – und sei es »nur« auf der Ebene der Symbolik und von Kommentaren?
Nicht auf jede sexistische Bemerkung folgt ein körperlicher Angriff, die meisten Diskriminierungen bleiben auf der verbalen Ebene. Doch diese gesammelten »Harmlosigkeiten« erzielen in Kombination mit dem Dauerfeuer sexistischer und sexualisierter Werbung durchaus eine psychologische Wirkung. Hinzu kommen prekäre Arbeitsbedingungen (68 Prozent der Geringverdienenden in Deutschland sind Frauen), ein Einkommen, das durchschnittlich 23 Prozent geringer ist als das von Männern (hier ist Deutschland europäische Spitze) und der Schwangerschaftsabbruch als Straftatbestand… Vor diesem Hintergrund bekommen die »harmlosen Witze« eine tiefere Dimension: Sie spiegeln die Unterdrückung in der Klassengesellschaft.
Insofern ist der »Furor« sehr zu begrüßen. Er signalisiert ein gesteigertes Bewusstsein darüber, dass Frauenunterdrückung immer noch existiert. Ebenso macht er deutlich, dass sich viele Frauen nicht mit der Unterstellung abfinden wollen, Beschwerden über sexistische Kommentare zeugten nur von »politischer Überkorrektheit«. Nicht umsonst lautete schon in den 1970er Jahren ein populärer Slogan der Frauenbewegung in den englischsprachigen Ländern: »Wenn du nicht empört bist, hast du nicht aufgepasst« (»If you’re not outraged, you haven’t been paying attention«).
Immer wieder weisen Studien die Benachteiligungen von Frauen in unserer Gesellschaft nach. Bei einer Umfrage unter 10.000 Frauen im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Jahr 2003 haben 58 Prozent angegeben, dass sie mindestens schon einmal sexuell belästigt wurden. Jede fünfte Frau gab an, dies sei in den letzten zwölf Monaten passiert. Die Hälfte der Betroffenen erlebte die Situation als ernsthafte Bedrohung, für neun Prozent endete die Belästigung mit körperlicher Gewalt oder einer Vergewaltigung. Obwohl Belästigung am Arbeitsplatz auch ein großes Problem ist, ereigneten sich zwei Drittel der Fälle in der eigenen Wohnung der Betroffenen.
Die neue Debatte findet nicht nur in Deutschland statt. Auf der ganzen Welt empören sich sowohl Frauen als auch Männer über die Herabsetzung des weiblichen Geschlechts durch sexualisierte Gewalt, alltäglichen Sexismus und strukturelle Ungleichheit. Die Hunderttausenden in Indien, die im vergangenen Dezember aus Empörung über eine Massenvergewaltigung auf die Straße gingen, sind nur das bekannteste Beispiel. Das Fass zum Überlaufen brachte dort die Tatsache, dass dem Opfer die Schuld zugeschoben wurde. Spitzenpolitiker und bekannte Persönlichkeiten behaupteten, das Mädchen, das an den Folgen einer brutalen Vergewaltigung gestorben war, habe diese selbst durch ihr Verhalten provoziert.
Ähnliches geschah vor kurzem in den USA. In Steubenville im Bundesstaat Ohio hatten zwei minderjährige Footballspieler ein 16-jähriges Mädchen vergewaltigt. Im März sprach sie ein Gericht für schuldig. Nur drei Prozent aller Anklagen wegen Vergewaltigung enden in den USA überhaupt mit einer Verurteilung. Auch das war wahrscheinlich ein Grund, weshalb das Urteil wochenlang die Schlagzeilen beherrschte. Die Massenmedien verlegten sich schnell auf das sogenannte »Victim-Blaming« (Opferbeschuldigung): In einem Interview mit Fox News argumentierte der CNN-Moderator Sean Hannity gegenüber der Feministin Zerlina Maxwell, die selber einmal Opfer eine Vergewaltigung war, dass Frauen Waffen tragen sollen, um sich vor Vergewaltigern zu schützen. Maxwells Forderung nach einer anderen Sozialisierung von Männern im Umgang mit Frauen sei unrealistisch. Maxwell antwortete: »Diese ganze Unterhaltung ist falsch«, weil sie sich auf die Frauen als Opfer fixiere. Immer gehe es nur darum, was Frauen tun sollen und müssen, um sich wehren zu können. Dieser Logik folgend sind Opfer sexualisierter Gewalt selber schuld, denn sie haben sich nicht ausreichend geschützt.
Derselben Logik folgend wird Frauen häufig vorgeschrieben, wie sie auszusehen haben, was sie anziehen und wie sie sich verhalten sollen. Darauf reagierte im April 2011 die Slutwalk-Bewegung (»Schlampendemo«). Sie entzündete sich daran, dass ein kanadischer Polizist ein Vergewaltigungsopfer für ihre Aufmachung zurechtwies.
»Victim-Blaming« geschieht aber nicht nur im extremen Fall sexueller Gewalt, sondern betrifft auch alltäglichere Formen von Sexismus – vor allem, wenn die Betroffenen es wagen, darüber zu reden. Jill Filipovic, Kolumnistin der britischen Zeitung »The Guardian«, hat einen lesenswerten Artikel über die IT-Beraterin Adria Richards verfasst, die im März von ihrem Arbeitgeber SendGrid entlassen wurde. Der Grund für die Kündigung war, dass Richards auf Twitter über die sexistischen Witze ihrer männlichen Arbeitskollegen berichtet und dabei deren Namen genannt hatte. Filipovic wies in ihrem Text darauf hin, dass SendGrid nicht gefragt habe, warum die beiden Männer ungestört sexistische Witze am Arbeitsplatz machen können, sondern lediglich, warum Richards so darauf reagiert habe. Aber dies sei leider das übliche Verfahren: »Warum bist du mit ihm nach Hause gegangen, wenn du keinen Sex haben wolltest? Warum hast du so viel getrunken? Warum hast du dieses Outfit getragen? Warum bist du so lange bei der Party geblieben? Warum bist du diese Straße entlang gegangen? Warum hast du nicht lauter geschrien oder dich nicht gewehrt? Warum hast du dich gewehrt, obwohl klar war, dass ihn das nur noch mehr verärgern würde?« Zusammengefasst bedeute das: »Es gibt keinen universellen Weg, um sexistische Schikanen, die Belästigung am Arbeitsplatz oder die alltägliche Frauenfeindlichkeit zu unterbinden. Es gibt aber doch einen nahezu universellen Weg ungestraft davonzukommen: Man muss nur das Opfer beschuldigen.« Offenbar können wir Frauen hier nur verlieren. Nichts, was wir tun, reicht aus, um in Ruhe gelassen zu werden.
In Mai 2011 berichtete »Die Welt«, dass jede zweite Frau in Deutschland im Job sexuell belästigt wird, und zwar nicht nur durch »obszöne Witze, schmutzige Bemerkungen, aufdringliche sexuelle Angebote«. Nichtdestotrotz hätten seit dem Jahr 2006 nur 65 Frauen bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes wegen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz Rat gesucht. Das zeigt, wie hoch der Druck ist, einfach damit zu leben. Aber es deutet auch auf den Zusammenhang zwischen »Sexismus« und der Tatsache hin, dass Frauen eine untergeordnete Position in der Klassengesellschaft einnehmen.
Wichtig ist hier, den Zusammenhang zwischen einer Ideologie und den materiellen Bedingungen, auf denen sie aufbaut, zu verstehen. Karl Marx schrieb einst, dass es »nicht das Bewusstsein der Menschen« sei, das ihr Sein bestimme, »sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.« Sexistische Vorstellungen können in einer Klassengesellschaft gedeihen, in der Frauen strukturell unterdrückt werden. Zugleich dient die Vorstellung, Frauen seien Männern unterlegen, wiederum als Rechtfertigung zur Aufrechterhaltung dieser Klassengesellschaft. Dass sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz in Zeiten von ökonomischen Krisen zunehmen, hat eine Studie der Internationale Arbeitsorganisation ILO offenbart. Bereits existierende sexistische Vorstellungen breiten sich weiter aus, wenn der ökonomische Druck steigt.
Doch es gibt einen Unterschied zwischen Sexismus »von unten« und Sexismus »von oben«. Immer wieder berichten Frauen aus verschiedenen Ländern von Chefs, die ihre Rückkehr in die Lohnarbeit nach einer Schwangerschaft verhindern. Das betrifft besonders Frauen, die in prekären Arbeitsverhältnissen tätig sind, also in Teilzeit, mit befristeten Verträgen, oder dort, wo die wirtschaftlichen Verhältnisse des Arbeitgebers unsicher sind. Die zentrale Rolle der Frau in der Reproduktion – sie sind nun einmal die einzigen, die Kinder zur Welt bringen können – dient als Rechtfertigung dafür, Frauen in prekäre Arbeitsverhältnissen zu drängen.
Die Unterordnung von Frauen aufgrund ihrer Sonderrolle in der menschlichen Reproduktion wird wiederum durch die sexistische Ideologie gerechtfertigt. Oft heißt es, Frauen sollten zuhause bleiben und ihre traditionellen Rolle als Mütter und Hausfrauen ausfüllen. Das hat historisch zu einer Überrepräsentation von Frauen im »Care-« oder Pflegebereich geführt, also bei der Kranken- und Alterspflege, der Sozialarbeit, bei Reinigungstätigkeiten oder aber auch in Kindergärten und Grundschulen. In diesen Bereichen liegt der Frauenanteil bei bis zu 90 Prozent. Frauen sind nicht deswegen unterdrückt, weil sie schlechter bezahlt werden. Sie werden schlechter bezahlt, weil sie unterdrückt sind. Die ökonomische Ungleichheit bildet also die materielle Grundlage für den Sexismus, der wiederum die Ungleichheit auf ideologischer Ebene rechtfertigt.
In den vergangenen Jahren war eine Zunahme von sexistischer Werbung zu beobachten. Aktuellstes Beispiel sind die Plakate des Deodorant-Herstellers Axe an den U-Bahnhaltestellen der Großstädte (»Astronauten regeln das mit dem Verkehr«). Zugleich gab es in der letzten Zeit auch Rückschläge und Angriffe auf der Ebene der formellen Gleichstellung. Bekanntes Beispiel hierfür der Versuch der CDU, das Betreuungsgeld einzuführen. Nicht umsonst bezeichnen Kritiker es als »Herdprämie«, also einen Versuch, Frauen auf ihre Rolle als Mütter zu reduzieren.
Das alles führt zur der Schlussfolgerung, dass Frauen gesellschaftlich weniger wert sind, dass sie schwächer sind, dass sie durchs Leben geführt und kontrolliert werden müssen: dass ihnen gesagt werden muss, was sie zu tun und lassen, zu tragen und nicht zu tragen, zu denken haben, wo sie hingehen dürfen und mit wem. Die Autorinnen des Buches »Wir Alphamädchen« aus dem Jahr 2004 wiesen darauf hin, dass sich unter solchen Bedingungen leicht ein falsches Bewusstsein bei Frauen und Männern entwickeln kann. Junge Leute überzeugen sich davon, dass sie selbst ein Leben »ausgewählt« haben, wo der weibliche Partner hauptsächlich zuhause bleibt und die Kinder erzieht und der männliche Partner arbeiten geht.
Neue Bewegungen, die aus der Empörung über diese Zustände entstanden sind – von den Slut Walks über die Proteste in Indien bis hin zum »#Aufschrei«-Phänomen – lassen hoffen. Zu Recht greifen sie sexistische Vorstellungen an und machen zugleich auf die strukturelle Ungleichheit aufmerksam.
Wir müssen die Kritik an den sexistischen Ergüssen der Werbeindustrie ebenso unterstützen wie den bewussten Widerstand gegen die Festlegung auf geschlechtsspezifische Rollenbilder (wie etwa gegen das neue »Barbie-Dreamhouse«-Kaufhaus in Berlin). Wir sollten auch versuchen, in unserem eigenen Leben und unseren Beziehungen solchen Mustern zu widerstehen.
Aber um das System der Unterdrückung tatsächlich zu sprengen, müssen wir den Widerstand gegen Geschlechterungleichheit in einen klassenkämpferischen Zusammenhang bringen – ihn zusammenführen mit dem Kampf für höhere Löhne, gegen das Spardiktat und für Umverteilung des Reichtums, für einen funktionierenden Sozialstaat.
Letztendlich kann der Unterdrückung von Frauen und dem Sexismus nur die Grundlage entzogen werden, wenn wir eine Welt ohne Kapitalismus erkämpfen, ohne Spaltung der Menschheit in Klassen, nach Herkunft oder Geschlecht.
Zur Autorin:
Kate Davison ist seit 15 Jahren in Bewegungen für Frauenrechte und gegen Sexismus aktiv. Sie arbeitet derzeit als Lehrbeauftragte für Geschlechterstudien an der Universität Potsdam.