Es muss ja nicht immer die knallharte Wirtschaftsanalyse auf 300 Seiten sein. Was nicht bedeutet, dass Politik unterm Weihnachtsbaum nichts zu suchen hätte. Wir empfehlen sieben zeitlose Werke für die Feiertage
Marcel Bois empfiehlt
DVD: Zug des Lebens
Im Jahr 1941 erfahren die Einwohner eines jüdischen Schtetls in Osteuropa von den Deportationen durch die Nazis. Daraufhin beschließen sie, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Sie organisieren eine Lokomotive samt Viehwaggons und der Rat des Dorfes benennt diejenigen, die als deutsche Wehrmachtssoldaten verkleidet die anderen Bewohner zu »deportieren« haben. Doch ihr Zug soll nicht nach Auschwitz, sondern gen Osten fahren, um über die Sowjetunion die Flucht nach Palästina zu ermöglichen. Eine tragisch-bittere Komödie über die Schrecken des Holocaust.
Zug des Lebens
Regie: Radu Mihaileanu
Frankreich, Rumänien u.a. 1998
103 Minuten
David Jeikowski empfiehlt
DVD: Koyaanisqatsi
Zugegeben, ein beschauliches Weihnachtsfest wird es mit Godfrey Reggios Meisterwerk nicht. Es geht um den Eingriff der Menschheit in die Natur, doch: Hier wird kein Wort gesprochen, es gibt keine Story, keine Hauptfiguren, nur Bilder und Musik. Die Montage kommt aber mit solcher Macht, einer solchen Stringenz, dass man sich nach durchlebten 90 Minuten ernsthaft Gedanken macht, welche Substanzen in der soeben vertilgten Weihnachtsgans wohl drin gewesen sein mögen.
Koyaanisqatsi
Regie: Godfrey Reggio
USA 1982
82 Minuten
Carla Assmann empfiehlt
Comic: Meine Beschneidung
Der bekannte französische Comicautor Riad Sattouf erzählt authentisch aus der Perspektive eines achtjährigen Jungen, der sich seinen eigenen Reim auf die unverständliche Erwachsenenwelt macht. In naiv anmutenden Bildern vermischen sich die düster gezeichneten Zustände im Syrien der 1980er Jahre mit der durch Actionfilme angeregten Phantasie des Protagonisten Riad zur Geschichte eines tragischen Helden. Dem sehr schönen Comic wäre Unrecht getan, würde er nur verschenkt, um weihnachtliche Familienstreitigkeiten auf ein gesellschaftspolitisches Feld umzulenken – aber auch dazu kann er nutzen.
Riad Sattouf
Meine Beschneidung
Reprodukt Verlag
Berlin 2010
100 Seiten
14 Euro
Paula Nikolai empfiehlt
Buch: In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung
Die Erweiterung des marxschen Kapitalbegriffs von Pierre Bourdieu prägte maßgeblich die Soziologie des 20. Jahrhunderts und auch sein Term ›Habitus‹ ist mittlerweile ein Standardbegriff. Seine fotografischen Arbeiten hingegen sind weniger bekannt. Zu unrecht, wie ich finde.
Nach Algerien kam Bourdieu im Jahr 1955 als Schreibkraft der französischen Armee. Die Kriegserfahrungen prägten das Selbstverständnis und die politische Orientierung des jungen Philosophen. Er blieb nach Beendigung seines Militärdienstes, um sich in Feldforschungen und mit Hilfe der Fotografie mit den Folgen des Krieges für die algerische Bevölkerung zu befassen. Die Fotos des Bandes »In Algerien« entstanden in den Jahren 1958 bis 1961 und dokumentieren ein durch soziale Widersprüche, Konflikte und Ungleichzeitigkeiten zerrissenes Land. Bourdieu skizziert die Narben und multiplen Formen des Elends, die Kolonialismus und Imperialismus hinterlassen haben. Dadurch bleibt der Bildband auch 50 Jahre nach Beendigung des Algerienkrieges hochaktuell.
Pierre Bourdieu
In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung
UVK
Konstanz 2009
238 Seiten
34 Euro
Martin Haller empfiehlt
Jahreskalender: Der falsche Kalender
Zitate richtig zuzuordnen ist was für Besserwisser und Langweiler. Wer die hohe Kunst des Zitierens richtig beherrscht, der ordnet sie falsch zu. Kostprobe gefällig?
»Wer mit 20 kein Kommunist war, der hat kein Herz. Aber wer mit 40 noch Kommunist ist, der hat keinen Verstand.« – Josef Stalin.
»Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.« – Lukas Podolski.
»Hui! Das reimt sich! Und was sich reimt ist immer gut.« – Marcel Reich Ranicki.
Marc-Uwe Klings »Kalender mit modernster Abreißtechnik« bietet nicht nur 365 genial falsch zugeordnete Zitate, sondern auch noch jeden Tag Wochenende. Auch der Altmeister kommt zu Wort: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen« – Harry Potter.
Marc-Uwe Kling
Der falsche Kalender
Verlag Voland & Quist
12,90 Euro
Yaak Pabst empfiehlt
Comic: Gaza
Der Journalist, Zeichner und Erfinder der Comicreportage Joe Sacco macht vieles anders und uns damit ein Geschenk. Er recherchiert vor Ort wie ein Reporter und zeichnet auf, was er erfährt.
Den Fokus seines neuen Buches legt er auf den Gazastreifen. Während der Suezkrise 1956 besetzte die israelische Armee den damals schon mehrheitlich von palästinensischen Flüchtlingen bewohnten Landstrich und tötete dabei hunderte von Palästinensern. Die Massaker wurden damals weltweit kaum in der Presse beachtet und in den Geschichtsbüchern finden sie, wenn überhaupt, nur Erwähnung aus der Perspektive des Siegers.
Joe Sacco macht sich auf Spurensuche nach jenen Ereignissen, die noch immer nachwirken. Der Leser begleitet den Reporter auf seiner schwierigen Suche nach der Wahrheit. Er sucht Überlebende auf und übersetzt ihre Erzählungen in Bilder.
»Gaza« ist nicht nur eine ergreifende Bildergeschichte, sondern auch eine fundierte Reportage über ein kaum beachtetes Thema. Obwohl der Schwerpunkt auf den Ereignissen von 1956 liegt, thematisiert Sacco auch andere historische und neuere Ereignisse, so dass sich letztlich ein umfassendes Bild vom Nahost-Konflikt ergibt.
Joe Sacco
Gaza
Edition Moderne
Zürich 2011
432 Seiten
34 Euro
Stefan Bornost empfiehlt
Buch: América
T.C. Boyle schreibt jedes Jahr ein Buch – Qualitätsschwankungen liegen bei so viel Output in der Natur der Sache. Doch »América« ist guten Gewissens zu empfehlen. Die Parallelgeschichte eines illegalen mexikanischen Einwanderers und eines liberalen weißen Mittelschichtspaars, das zu Befürwortern eines Mauerbaus zum Fernhalten von Migranten aus gepflegten Vorgärten wird, ist rabenschwarz, gut beobachtet, grotesk und packend.
T.C. Boyle
América
dtv
München 2000
388 Seiten
8,95 Euro