Dass Sozialverbände und Gewerkschaften das Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts begrüßen, ist richtig, findet Christian Schröppel.
Wesentliche Bestimmungen der Hartz-Gesetze „sind mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG unvereinbar" (Abs. 132), urteilte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) am 9.2.2010 und bezeichnete die gesetzlichen Normen als „verfassungswidrig". Zugleich führte das Gericht jedoch aus: „Es lässt sich nicht feststellen, dass der Gesamtbetrag der […] festgesetzten Leistungen zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums evident unzureichend ist." (Abs. 146)
„Hartz-IV-Sätze sind verfassungswidrig", berichteten daraufhin die FAZ und andere Medien. Zugleich präsentierte die FAZ auf einer Sonderseite Auszüge des Gerichtsurteils und hob genau diejenigen Passagen hervor, in denen das BVerfG die Höhe der Regelsätze als „nicht evident" oder „nicht offensichtlich" unzureichend bezeichnete. Tatsächlich plädierten einzelne Politiker wie Peter Weiß (CDU) oder Martin Lindner (FDP) dafür, die Hartz-Regelsätze nicht zu erhöhen, sondern zu senken. Gewerkschaften, Sozialverbände und zahlreiche Politiker verschiedener Parteien sahen hingegen in dem Urteil des BVerfG einen Aufruf, die materielle Situation der Alg-II-Empfänger zu verbessern, und begrüßten es.
„Nicht evident unzureichend"
Juristische Texte enthalten oft sprachliche Fallstricke und laden zu Fehlinterpretationen ein. Tatsächlich hat das BVerfG nicht die Höhe der Sätze selbst, sondern das ihnen zu Grunde liegende Berechnungsverfahren als mit dem Grundgesetz unvereinbar beurteilt. Allerdings kann hieraus nicht im Umkehrschluss gefolgert werden, dass das BVerfG die Höhe der Alg-II-Sätze für verfassungsgemäß erklärt hätte.
Die Formulierung, dass der Gesamtbetrag der Leistungen „nicht evident unzureichend" ist, bedeutet, dass nach Auffassung des Gerichts nicht ohne nähere Prüfung festgestellt werden kann, ob diese unzureichend sind. Eine nähere Prüfung kann jedoch durchaus genau zu diesem Ergebnis kommen. Das BVerfG fordert: „Damit geprüft werden kann, ob die vom Gesetzgeber getroffenen Wertungen und Entscheidungen der verfassungsrechtlichen Garantie eines menschenwürdigen Existenzminimums entsprechen, trifft den Normgeber die Obliegenheit, sie nachvollziehbar zu begründen." (Abs. 171) Rainer Roth vertritt die Ansicht, eine derartige Begründung allein reiche aus Sicht des BVerfG aus, um die Verfassungsmäßigkeit solcher Wertungen und Entscheidungen zu sichern. Aus dem Wortlaut der Entscheidung lässt sich dies jedoch nicht schließen: Eine Begründung macht die Wertung des Gesetzgebers nicht automatisch verfassungsgemäß. Sie ist vielmehr laut BVerfG Voraussetzung für eine verfassungsrechtliche Prüfung.
Zur Begründung seiner Auffassung führt das BVerfG unter anderem an, dass „die Regelleistung zur Sicherung der physischen Seite des Existenzminimums zumindest ausreicht und der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der sozialen Seite des Existenzminimums weiter ist" (Abs. 152). Es bleibt in der Tat offen, ob das BVerfG neue, niedrige Alg-II-Sätze als verfassungsgemäß werten würde, wenn diese, wie vom BVerfG gefordert, nachvollziehbar berechnet werden würden, jedoch von einer noch stärker reduzierten „sozialen Seite" des Existenzminimum ausgingen.
Das BVerfG vertritt die Auffassung, dass das nach der bestehenden Regelsatzverordnung maßgebliche Statistikmodell „eine verfassungsrechtlich zulässige, weil vertretbare Methode zur realitätsnahen Bestimmung des Existenzminimums" sei. (Abs. 162) Es stütze sich auf „geeignete empirische Daten" (Abs. 167) und die Auswahl der Referenzgruppe, also der untersten 20% der nach ihrem Nettoeinkommen geschichteten Haushalte, sei „verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden" (Abs. 168) Das früher geltende Warenkorbmodell müsse nicht aus verfassungsrechtlichen Gründen vorgezogen werden. (Abs. 166) Das BVerfG stellt zwar zutreffend fest, dass die Herausnahme von Sozialhilfeempfängern Zirkelschlüsse vermeidet (Abs. 168). Jedoch überlässt das BVerfG mit dieser Einschätzung faktisch dem Markt, das Existenzminimum zu definieren. Eine Kontrolle, ob der Verbrauch des untersten Einkommensquintils tatsächlich ausreicht, das physische, soziale und kulturelle Existenzminimum zu sichern, findet in der Konzeption des Statistikmodells nicht statt.
Bundesverfassungsgericht kritisiert Abschläge
Zugleich ist bemerkenswert, dass das Bundesverfassungsgericht durchweg diejenigen konkreten Elemente der Berechnung der Alg-II-Sätze kritisiert, bei denen Alg-II-Empfängern auf willkürliche und nicht nachvollziehbare Weise Unterstützung verweigert wird.
Beispielsweise erläutert das BVerfG, dass „bei Einsparung der Kosten eines Kraftfahrzeugs die Kosten des Hilfebedürftigen für den öffentlichen Personenverkehr ansteigen können", so dass eine pauschale Reduzierung des Postens für Verkehr um den Anteil an Verkehrsausgaben für PKW nicht „nicht nachvollziehbar und ungerechtfertigt" sei. (Abs. 179, 200) Dies betrifft weit mehr als den betragsmäßig eher geringen Posten „Ersatzteile und Zubehör von Kraftfahrzeugen", dessen Bewertung im Rahmen Neuregelung in der Regelsatzverordnung 2007 vom BVerfG tatsächlich nicht als systematisch fehlerhaft bewertet wurde. Dass die Bundesregierung in der Änderung der Regelsatzverordnung zum 1.1.2007 statt 37% nur noch 26% der Ausgaben für Verkehr als regelsatzrelevant anerkennt, hat die Schieflage dieser Position, gemessen an der Wertung des BVerfG, nicht beseitigt, sondern noch verstärkt.
Die vollständige Streichung des Postens für Bildungsausgaben begründete die Bundesregierung mit dem Argument, dass für Bildung schließlich die Bundesländer zuständig seien. Das BVerfG kommentierte diese „nachgeschobene Erwägung der Bundesregierung" mit der Bemerkung, der Bund könne sich seiner Verantwortung „nicht durch eine abstrakte Verweisung auf konkurrierende Landeskompetenzen entziehen, die er den Ländern durch sein eigenes Gesetz bereits versperrt hat, und mit dieser Begründung von der Berücksichtigung solcher Ausgaben absehen, die nach seinen eigenen normativen Wertungen zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums notwendig sind." (Abs. 181)
Die Ausführungen des BVerfG zu den Leistungen für Kinder sind in den Medien besonders stark beachtet worden. Hierzu haben vermutlich auch plakative Formulierungen des Gerichts selbst beigetragen, das von „einer freihändigen Setzung ohne irgendeine empirische und methodische Fundierung" spricht. (Abs. 191) Tatsächlich ist es sehr fraglich, ob allein auf der Grundlage der Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts zu den abgeleiteten Leistungen für Minderjährige auf eine zwangsläufige Anhebung dieser Beträge für alle Altersgruppen geschlossen werden kann, wie Rainer Roth ausführlich darstellt.
Zentrale Kritikpunkte: Rentenwert und Pauschalierung
Die materiell folgenreichste Kritik erhebt das Bundesverfassungsgericht gegenüber dem Verfahren, die Fortschreibung der statistisch geschätzten Beträge der Regelsätze nicht entsprechend der Inflation der tatsächlich konsumierten Güter und Dienstleistungen, sondern an Hand des aktuellen Rentenwerts nach §68 SGB VI vorzunehmen. (Abs. 184) Da die Formel für die Bestimmung des Rentenwerts politisch so bestimmt ist, dass sie in der Tendenz zu einer Stagnation der Renten führt, blieb dieser in der Vergangenheit deutlich hinter der Inflation zurück, und dies ist auch für die Zukunft zu erwarten. Gerade bei Strom und Energie lag die Preisentwicklung in den letzten Jahren deutlich über der Entwicklung der Löhne und Renteneinkommen. Das BVerfG stellt fest: „Der Gesetzgeber wird einen anderen Anpassungsmechanismus finden müssen." (Abs. 214)
Das BVerfG urteilte zudem, dass das materielle Existenzminimum vom Bedarf des jeweiligen Betroffenen abhängt und nicht allein durch einen Pauschalbetrag abgedeckt werden kann, ohne eine Korrektur als Folge individuellen Mehrbedarfs zuzulassen. Betroffene können daher mit Bezug auf die Verfassung auf Leistungen zur Deckung eines besonderen Bedarfs klagen und ihren Anspruch unmittelbar aus Art. 1 in Verbindung mit Art. 20 des Grundgesetzes ableiten. (Urteil, Satz 3) Bundesinnenminister Thomas de Maizière empörte sich: „Das Urteil zeigt eine problematische Tendenz hin zu einer übertriebenen Einzelfallbetrachtung statt zu einer vernünftigen Pauschalierung."
Debatte um Existenzminimum und soziale Sicherung
Verfassungen sind vielfach Kompromisse, die aus gesellschaftlichen Auseinandersetzungen heraus entstanden sind. Werden derartige Kompromisse von einer Seite faktisch in Frage gestellt, wie dies bei den Hartz-IV-Gesetzen geschehen ist, so ist es legitim und in vielen Fällen politisch richtig, sich auf die bestehende Verfassung zu berufen. Die vorwärtsweisenden Elemente der Verfassung oder ihrer besonderen Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht politisch aufzugreifen, darf natürlich zugleich nicht bedeuten, diese Interpretation insgesamt zur Grundlage der eigenen politischen Position zu machen.
Tatsächlich ist mit dem Urteil des BVerfG keinesfalls geklärt, worin ein Existenzminimum, das die menschliche Würde sichert, materiell besteht. Das BVerfG hat dies mit Bezug auf das kulturelle Existenzminimum ausdrücklich offen gelassen. Die politische Auseinandersetzung um die Bestimmung des kulturellen Existenzminimums wird ein wesentlicher Teil der gesellschaftlichen Debatte um die Konsequenzen des BVerfG-Urteils sein.
Zugleich sollte sich die politische Linke mit Bezug auf Hartz IV nicht auf den Begriff des Existenzminimums beschränken. Das BVerfG hat zu Recht betont, dass der Schutz der Menschenwürde nicht allein ein Schutzrecht des Bürgers gegenüber dem Staat oder gegenüber Dritten ist, sondern dass der Staat dazu verpflichtet ist, die Menschenwürde jedes Einzelnen auch materiell zu sichern. Es hat neben dem Art. 1 des Grundgesetzes ausdrücklich das Sozialstaatsgebot aus Art. 20 GG zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht. Das BVerfG hat jedoch in seiner Urteilsbegründung aus Art. 20 GG keine über den Schutz der Menschenwürde hinaus gehenden Forderungen abgeleitet und damit faktisch das Sozialstaatsgebot, das einen politischen Auftrag zur Gestaltung der Gesellschaft insgesamt darstellt, im Rahmen des Urteils auf die Frage der Menschenwürde reduziert. Dagegen muss – gerade in der Diskussion um die Hartz-Gesetze mit ihren vielfältigen Bestimmungen, die weit mehr als die Alg-II-Sätze betreffen – immer wieder die Frage nach der politischen Ausgestaltung der sozialen Sicherung insgesamt gestellt werden.
Beispielhaft hierfür ist ein Flugblatt des hessischen Landesverbands der LINKEN. Es fordert die Anhebung des Regelsatzes auf 500 Euro und weist zugleich auf die gesellschaftlichen Folgen der Hartz-Gesetze hin: „Durch Hartz IV geraten Menschen, die arbeitslos werden, schnell in Armut. Die Angst vor Armut mach Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erpressbar: bei den Löhnen, bei den Arbeitszeiten und bei der Arbeitsbelastung. Das muss ein Ende haben: Hartz IV geht uns alle an." Das Flugblatt geht auch auf die Einschränkungen der Zumutbarkeitsregelungen durch die Hartz-Gesetze ein: „DIE LINKE will durchsetzen, dass eine Arbeit nur dann zumutbar ist, wenn sie der Ausbildung des Betroffenen entspricht und ein Existenz sicherndes Einkommen garantiert. Kürzungen der Leistungen darf es nicht geben."
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat in der gesamten Gesellschaft eine breite Diskussion über die Hartz-Gesetze und darüber hinaus ausgelöst. An den vorwärts weisenden Elementen des Urteils anknüpfend, kann diese Diskussion zu einer umfassenden Debatte um die Zukunft der sozialen Sicherung ausgeweitet werden. Die FDP hat – aus ihrer Sicht – diese Möglichkeit erkannt und versucht, sich als Vorkämpferin der neoliberalen Umgestaltung der Gesellschaft zu profilieren. Guido Westerwelles Äußerungen über „spätrömische Dekadenz" seien „nicht der Duktus der Kanzlerin", versicherte zunächst eine Sprecherin von Angela Merkel, und Merkel selbst erklärte später, dies seien nicht ihre Worte.
Doch die Kampagne der FDP erreicht die Mehrheit der Bevölkerung nicht. Laut einer Umfrage des Magazins Stern sprechen sich 61% für die Anhebung der Regelsätze aus, nur eine Minderheit von 4% schätzt diese als zu hoch ein. Das mag zu Merkels Distanzierung vom Tonfall der FDP beigetragen haben.
Die LINKE kann und sollte das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nutzen, um die Hartz-Gesetze als Ausdruck einer Politik, die die Menschenwürde der Empfänger sozialer Leistungen missachtet und gegen das Sozialstaatsgebot verstößt, zu bekämpfen und für ihre sozialpolitischen Vorschläge, u.a. für eine sofortige Anhebung des Alg-II-Regelsatzes auf 500 Euro, für einen Mindestlohn von 10 Euro und für die Abschaffung von Hartz IV durch eine bedarfsdeckende, sanktionsfreie Mindestsicherung, zu werben.
Zur Person:
Christian Schröppel ist Diplom-Soziologe. Er ist Mitglied des Kreisverbands Darmstadt der Partei DIE LINKE und Unterstützer von marx21.
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