In Kiew verteidigen zehntausende Ukrainer den Maidan gegen die Polizei und riskieren dafür ihr Leben. Der Sozialist Ilya Budraitskis war Anfang Januar auf dem Maidan und meint: Die Linken müssen sich mehr einmischen
Ilya, du bis in Moskau in der „Sozialistischen Bewegung Russlands“ aktiv und warst in Kiew, um die ukrainische Bewegung gegen Präsident Wiktor Janukowitsch zu beobachten. Warum?
Wir haben schon länger Kontakte zur Kiewer linken Szene. Ich bin vor zwei Wochen dorthin gefahren, als die Situation sich zuspitzte und die Anti-Demonstrationsgesetze beschlossen wurden, die einen Polizeistaat ermöglicht hätten.
Wie hat die Bewegung reagiert?
Sie hat sich radikalisiert. Es gab erste massive Zusammenstöße mit der Polizei und das Parlament sollte gestürmt werden. Die Demonstranten haben die bekannte riesige Barrikade an der Grenze des Regierungsviertels errichtet und es gab einige Tote.
Hatte die Bewegung Erfolge?
Janukowitsch hat erkannt, dass er mit verstärkter Unterdrückung der Bewegung nicht weiterkommt und dann versucht, sie mit Posten zu bestechen: Der Präsident bot den Oppositionsparteien sogar an, den Ministerpräsidenten zu stellen.
Sie mussten aber ablehnen, weil die Beteiligung an der Macht an die Bedingung gekoppelt war, dass die Demonstranten die Straßen von Kiew aufgeben. Davon hätten sie die Demonstranten nicht überzeugen können. Die Führer der Oppositionsparteien wurden nach den Verhandlungen mit Janukowitsch auf dem Maidan ausgepfiffen.
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Welche Eindrücke hast du von der Bewegung?
Die Menschen sind unglaublich entschlossen. Sie stehen seit zwei Monaten auf dem zentralen Platz von Kiew, verteidigen ihn immer wieder gegen die Polizei, unter anderem mit vier Meter hohen Barrikaden. In diesem Gebiet sind zahlreiche Gebäude besetzt, unter anderem der Amtssitz des Bürgermeisters, das zentrale Gewerkschaftshaus und ein großes Ausstellungszentrum.
Überall gibt es selbstorganisierte Infrastruktur wie warme Verpflegung, Heiz-Einrichtungen, medizinische Versorgung, Informationszentren, Vergabe warmer Kleidung und anderes. Das Niveau der Selbstorganisation ist beeindruckend. All das wird von einfachen Menschen auf die Beine gestellt, nicht von den Parteien.
Sind die Demonstranten verängstigt?
Eher nicht. Sie laufen mit Helmen und Knüppeln durch die Straßen und wenn sie einen einzelnen Polizisten sehen, verprügeln sie ihn. Deswegen sind dort auch keine Polizisten mehr. Die Regierung kann es auf einen Bürgerkrieg ankommen lassen oder sich zurückziehen.
Welche politischen Kräfte sind dort aktiv?
Es gibt dort sehr viel politische Agitation und zwar fast nur von rechten und rechtsextremen Gruppen. Das reicht von den marktliberalen Oppositionsparteien bis zum außerparlamentarischen, ultra-nationalistischen „Rechten Sektor“.
Was ist der „Rechte Sektor“?
Ein Bündnis verschiedener ultra-rechter Gruppen, die militärische Strukturen aufbauen. Darunter sind kampferfahrene Ultra-Fanklubs des Fußballvereins Dynamo Kiew.
Wie reagieren die Demonstranten auf die Ultra-Rechten?
Überwiegend positiv. Aber nicht, weil viele ihre Ideologie unterstützen, sondern weil sie objektiv die mutigsten und buchstäblich kämpferischsten Teile der Bewegung sind. Keiner geht so offensiv gegen die Polizei vor, wie die Ultra-Rechten. Andere sehen sie aber auch als Extremisten, die ein schlechtes Licht auf die Bewegung werfen.
Eine der drei großen Oppositionsparteien ist „Svoboda“ …
… die stärkste rechtsradikale Partei in der Ukraine mit 10 Prozent bei den letzten Wahlen. Ihr Aufstieg wurde unter anderem möglich, weil der frühere Präsident Wiktor Juschtschenko bis 2010 stark auf Nationalismus gesetzt hatte.
Was bedeutet das?
Jutschtschenko hat zum Beispiel gesagt, dass die ukrainischen Mitglieder der SS im Zweiten Weltkrieg Patrioten gewesen seien, die gegen die Fremdherrschaft der Sowjetunion gekämpft hätten.
Wie bitte?
Das ist nur verständlich, wenn man den ukrainischen Nationalismus berücksichtigt. In der Ukraine stehen etwa 20 Statuen von Stepan Bandera, dem bekanntesten Anführer dieser SS-Einheiten. Diese ultra-rechte Interpretation des Begriffs „Nationalismus“ reich in der Ukraine in den politischen Mainstream hinein. Das ist die Grundlage für den Erfolg rechtsradikaler Parteien wie Svoboda, die jetzt eine Hauptrolle auf dem Maidan spielen.
Ist die Bewegung also faschistisch?
Ich finde, wenigstens deutsche Linke, die mit dem Begriff „faschistisch“ um sich werfen, sollten die Geschichte des Faschismus ein bisschen kennen.
Wie meinst du das …??
Der Faschismus entstand nach dem Ersten Weltkrieg als Gegenbewegung zu starken kommunistisch-revolutionären Arbeiterbewegungen in großen Teilen Europas. Faschisten hatten das ausdrückliche Ziel, diese Arbeiterbewegungen zu zerschlagen und die Herrschaft des Kapitals zu sichern, weil der liberale Staat das nicht garantieren konnte. In Italien und Deutschland konnten sie die Macht ergreifen, in anderen Ländern nicht.
Und heute …
… gibt es in der Ukraine 2014 weder eine große Arbeiterbewegung, noch eine faschistische Bewegung für ihre Zerschlagung, noch einen Staat, dem das Kapital misstraut. Es geht also weder darum, die Arbeiterklasse an die Macht zu bringen, noch darum, die Arbeiterbewegung physisch zu vernichten.
Was für eine Bewegung ist es dann?
Auf dem Maidan kämpfen Menschen aus verschiedenen unterdrückten Klassen: Arbeiter, Arbeitslose, arme Selbstständige, Studierende, die keine Arbeit finden werden und andere. Ihr Gegner ist der Staat und die politischen Eliten. Der Begriff „faschistisch“ ist verfehlt, weil die Klassenzusammensetzung der Konfliktparteien eine ganz andere ist.
Aber es sind Faschisten auf dem Maidan
Klar. Die Ideologie des „Rechten Sektor“ ist eindeutig faschistisch. Und sie versuchen auch, die Hegemonie über die Massenbewegung herzustellen. Aber das gelingt bislang glücklicherweise nicht, weil die Bewegung im Kern nichts mit Faschismus zu tun hat.
Womit dann?
Ich habe keinen Namen dafür. Sie entstammt einer post-sowjetischen Gesellschaft, die ihres Klassenbewusstseins beraubt wurde und die keine Tradition des Protestes hat. Dadurch können Bewegungen sehr verschiedene Formen annehmen und ihren Charakter besonders schnell verändern, nach links wie nach rechts.
Wie ist der Charakter der Maidan-Bewegung entstanden?
Sie hat jetzt einen nationalistischen, teilweise antikommunistischen Charakter. Zum einen, weil die rechten Gruppen am Besten auf die Situation vorbereitet waren. Zum anderen, wegen der katastrophalen Rolle der Kommunistischen Partei der Ukraine.
Sie hat bei den letzten Wahlen 13 Prozent bekommen
Ja. Und hatte dann nichts besseres zu tun, als sich zur wichtigen Stütze von Janukowitschs Regime zu machen. Die meisten Ukrainer verbinden mit „links“ hauptsächlich die Kommunistische Partei.
Ausgerechnet sie hat im Parlament Janukowitschs Anti-Demonstrationsgesetzen zugestimmt. Ohne diese Stimmen wären sie abgelehnt worden.
Wie ist das möglich?
Die Kommunistische Partei ist genauso von Oligarchen aus der Ostukraine gekauft wie Janukowitsch. Sie unterstützt offen den russischen Nationalismus und ihre Politiker sprechen offen über ihre guten Beziehungen zu Kyrill I., Vorsteher der Russisch-Orthodoxen Kirche.
Welche Position haben sie zur Maidan-Bewegung?
Sie kritisieren den ukrainischen Nationalismus, aber nicht aus einer Position des Internationalismus heraus. Vielmehr argumentieren sie russisch-chauvinistisch und ersetzen damit einen Nationalismus durch einen anderen.
Ich empfehle allen linken Parteien in Europa, den Kontakt zur Kommunistischen Partei der Ukraine abzubrechen. So eine Politik darf nicht toleriert werden.
Was tun wirklich linke Ukrainer?
Die Linken haben von Anfang an sehr unterschiedliche Meinungen von der Bewegung gehabt. Einige sehen sie als Fremdes, Rechtsradikales, an dem man sich nicht beteiligen sollte. Andere Linke machen mit und versuchen, auf die Ausrichtung der Bewegung einzuwirken.
Ist das nicht schwierig?
Auf dem Maidan gibt es viele organisierte Rechtsradikale, die bereit sind, etwas gegen Linke zu unternehmen. Linken Aktivisten wurden Flugblätter und Fahnen weggerissen und manche wurden verprügelt.
Also kein Ort für Linke?
Doch, gerade deshalb! Natürlich müssen wir für unsere körperliche Sicherheit sorgen. Aber wann immer die gewährleistet ist, dürfen wir nicht tatenlos zusehen, wie Rechtsradikale ihre politische Hegemonie durchsetzen.
Wir dürfen ihnen die Bewegung nicht überlassen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Rechten ein Monopol auf außerparlamentarische Politik erhalten.
Willst du mit Nazis diskutieren?
Vielleicht mit manchen. Vor allem aber ist die große Mehrheit der Demonstranten das erste Mal politisch aktiv und stehen nun auf dem Maidan brutalen Polizei-Einheiten gegenüber. An den größten Demonstrationen in Kiew haben 300.000 Menschen teilgenommen, von denen die allermeisten nichts mit Rechtsradikalen zu tun haben.
Warum sind die Ultra-Nationalisten in der Bewegung so stark?
Weißt du, wann zum ersten Mal ein dauerhaft unabhängiger ukrainischer Staat gegründet wurde?
Nein. Wieso?
1991, Durch den Zusammenbruch der Sowjetunion. Deshalb kann man in der Ukraine mit patriotischen Parolen so leicht Anhänger finden. Deshalb denken viele Ukrainer wie die Bewohner einer Kolonie, 20 Jahre nach der Unabhängigkeit: „Das Wichtigste ist, dass wir nicht von einer Großmacht kontrolliert werden.“
Aber die Bewegung ist vor allem in der Westukraine stark …
… weil es in der Ukraine nicht nur die Klassenspaltung, sondern daneben noch eine außergewöhnlich starke geographische Spaltung des Landes auf wirtschaftlicher und kultureller Ebene gibt.
Etwa in der östlichen Hälfte der Ukraine haben die meisten Menschen als Muttersprache Russisch und sprechen es auch bei der Arbeit oder in der Schule. Auch Vitali Klitschko ist russischer Muttersprachler. Er spricht ukrainisch mit starkem Akzent.
Und im Westen …
… spricht man hauptsächlich ukrainisch. In einem der ärmsten Länder Europas sind im Westen noch deutlich mehr Menschen arm und arbeitslos als in den östlichen Industriegebieten um Charkiw und Dnjpropetrowsk. Westukrainer wandern nach Tschechien und Polen aus, weil die Löhne dort wesentlich höher sind als in ihrer Heimat.
Hinzu kommt im Westen die ukrainisch-orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats. Sie hat sich 1991 abgespalten und ihre Priester sprechen jetzt auf der Bühne auf dem Maidan. Wohingegen im Osten die ukrainisch-orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats verbreitet ist, deren Priester normalerweise auf der Seite von Janukowitsch stehen.
Was bedeutet das für die Bewegung?
Im Westen unterstützen 99 Prozent die Proteste. Die Menschen sind mit Bussen nach Kiew gekommen, um wochenlang auf dem Maidan zu wohnen. Sie haben Angst, von Russland beherrscht zu werden und kämpfen vor allem gegen Janukowitsch, der die Ukraine in ihren Augen wieder zu einer russischen Kolonie machen will.
Eine unbegründete Angst?
Nicht unbedingt. Der russische Staat versucht immer wieder, die Ukraine von sich abhängig zu machen. Zum Beispiel, indem er im Winter die Erdgas-Pipelines abdreht. Wer will es den Ukrainern verdenken, dass sie kein Vertrauen in Wladimir Putin haben?
Die Alternative der Bewegung ist die EU?
Die Bewegung richtet sich vor allem gegen die Regierung Janukowitsch. Die Frage der EU ist mittlerweile zweitrangig.
Sie ist aber natürlich weiter die einzig greifbare Alternative zur Orientierung an Russland. Außerdem haben viele Menschen die Illusion, dass eine Annäherung an die EU den Wohlstand, die Freiheit und die Demokratie mancher EU-Staaten in die Ukraine bringen würde.
Und wem nützt eine Annäherung der Ukraine an die EU?
Einige Oligarchen, die oppositionelle Parteien kontrollieren, versprechen sich davon ein gutes Geschäft. Aber in den Verhandlungen wurden keine Probleme einfacher Menschen angesprochen: Weder der Kampf gegen Korruption, noch politische oder soziale Reformen. Es ging vor allem um den Zugang für die EU-Konzerne zum ukrainischen Markt.
Könnte ein Bündnis mit der EU nicht die wirtschaftliche Krise der Ukraine mildern?
Das Schicksal unserer osteuropäischen Nachbarn spricht dagegen. In Rumänien und Bulgarien beispielsweise sind die Einkommen nicht gestiegen, die Preise aber schon. Immer mehr junge Menschen müssen auswandern, um in Westeuropa für niedrigste Löhne zu arbeiten und dort als Lohndrücker für Einheimische missbraucht zu werden.
Die Freude über den EU-Beitritt verschwand in diesen Ländern sehr schnell, denn obwohl alle EU-Bürger offiziell gleich sind, sind manche eben gleicher.
Warum ist die Illusion in die EU dann in der Ukraine so stark?
Der Auslöser der Proteste war, dass Janukowitsch im November letzten Jahres ein Abkommen mit der EU im letzten Moment doch nicht unterschrieben hat. Bis dahin haben nicht nur die oppositionellen Parteien, sondern auch die Regierung selbst Kampagnen für die Integration der Ukraine in die EU betrieben.
Ein nicht unterschriebenes Abkommen führt zur Massenbewegung?
Janukowitsch hatte keine Propaganda für seinen Strategiewechsel vorbereitet. Buchstäblich über Nacht sagten sämtliche Regierungspolitiker, das Abkommen mit der EU widerspreche zutiefst den nationalen Interessen ihrer geliebten Heimat, während sie noch 24 Stunden vorher erklärt hatten, nur das Abkommen könne die Ukraine vor dem Untergang bewahren.
Ein echtes PR-Desaster …
… das ausschlaggebend war, für den spontanen Ausbruch des Protestes. Viele Menschen hatten das Gefühl, dass Janukowitsch die Ukraine Richtung EU führt und Putin plötzlich die Kreditkarte zieht und ihm ein Angebot macht, dass er nicht ablehnen kann. So ähnlich ist es auch gewesen …
… und die Oppositionsparteien haben das clever ausgenutzt …
… weil die Oligarchen, von denen sie kontrolliert werden, sich davon mehr Profit versprechen. Entscheidend ist aber, dass die Oligarchen und ihre Parteien Schwierigkeiten haben, die Bewegung zu lenken. Sie ist ein eigenständiges politisches Machtzentrum geworden, um dass es sich für Linke lohnt zu kämpfen.
Sind die Ostukrainer alle auf Seiten Janukowitschs?
Gäbe es eine Volksabstimmung über eine Vereinigung der Ukraine mit Russland, würden auch im Osten die Meisten dagegen stimmen. Auch sie haben kein Vertrauen in die russische Regierung. Trotzdem hat Janukowitsch im Osten nach wie vor Rückhalt.
Bleibt seine Regierung deshalb stabil?
Nein. Was Janukowitsch schwächt, ist, neben der Massenbewegung im Westen, das Oligarchen-System selbst. Einige „Sponsoren“ von Janukowitschs „Partei der Regionen“ fordern jetzt intern seinen Rücktritt. Sollten die Oligarchen diese Position öffentlich machen, würde der Präsident schnell sein verbliebene Unterstützung in der Bevölkerung auch noch verlieren.
Nach einer aktuellen Umfrage würde Klitschko bei einer Stichwahl ums Präsidentenamt gegen Janukowitsch eine große Mehrheit bekommen. Das heißt, auch viele russischsprachige Ostukrainer würden Klitschko wählen.
Ist Klitschko auch der Star der Bewegung?
Was die Medien meist verheimlichen, ist, dass die Bewegung grundsätzlich außergewöhnlich kritisch gegenüber den Politikern und anderen selbsternannten Führungsfiguren ist. Klitschko ist einer der Wenigen, die kaum ausgepfiffen werden, wenn sie auf dem Maidan sprechen. Aber zum Star macht ihn das wohl nicht.
Woher kommt die Kritik an den oppositionellen Politikern?
Viele Oppositionspolitiker, zum Beispiel auch die inhaftierte Julia Timoschenko, haben schon bewiesen, dass sie korrupt sind. Klitschko noch nicht. Trotzdem hängt er von denselben Wirtschaftsbossen ab, wie die anderen Politiker.
Du sprichst immer wieder von den „Oligarchen“. Was macht sie so besonders, verglichen mit Milliardären woanders?
Ein „Oligarch“ hat nicht nur viel Einfluss auf Wirtschaft und Gesellschaft, sondern auch direkte Kontrolle über eine oder mehre politische Parteien. Ein Oligarch kann daher sein Finanzkapital in direkte politische Macht umsetzen.
Welche Parteien werden von Oligarchen kontrolliert?
Alle Parteien im Parlament werden maßgeblich von Oligarchen finanziert. Lediglich Svoboda ist durch ideologisch geprägte Aktivsten entstanden und hat in einer günstigen Situation die Chance genutzt, viel Geld zu bekommen. Ohne Oligarchen wäre auch Svoboda nie so einflussreich geworden.
Was sagen die Medien dazu?
Die Oligarchen besitzen alle großen Fernsehsender und steuern direkt deren Inhalt. So wurden Politiker von Svoboda schon zu wichtigen Talkshows eingeladen, als die Partei bei Wahlen noch 0,8 Prozent erreichte. Gleichzeitig ist es undenkbar, dass dort irgendein Linker sprechen darf.
Inwiefern findet der Konflikt in der Ukraine dann nur zwischen verschiedenen Teilen des Kapitals statt?
Die Eliten versuchen immer, Massenbewegungen für sich zu missbrauchen. Würden wir, vor allem in Osteuropa, auf eine Bewegung warten, die frei von Einflüssen des Kapitals ist und vollständig von der Arbeiterklasse geführt wird, warten wir für immer. Denn damit solche Bewegungen entstehen, brauchen wir eine andere Gesellschaft, als wir sie haben.
Eine „andere Gesellschaft“, damit es Bewegung geben kann?
Genau. Denn jede Protestbewegung spiegelt die Widersprüche der Gesellschaft wieder, in der sie kämpft. Starker Nationalismus und extrem mächtige Oligarchen auf der einen Seite, keine Tradition von Selbstorganisation und Klassenbewusstsein, keine großen Gewerkschaften auf der anderen Seite. Welcher Protest soll daraus entstehen?
Gibt es keine Perspektive?
Doch. Aber zunächst müssen wir Linke diskutieren: Wie können wir unter diesen Umständen handeln?
Sollen wir die Bewegungen verurteilen, weil es uns zu schwer ist, darin zu arbeiten? Gehen wir lieber nach Hause, weil Demonstranten überall auf dem Maidan die ukrainische Nationalflagge wehen lassen, die Nationalhymne singen und rufen: „Ruhm der Ukraine“?
Was schlägst du vor?
Ich rede nichts schön. Wenn du auf dem Maidan sagst, dass du Marxist bist, kann es sein, dass du angegriffen wirst.
Aber Programm und Charakter der Bewegung sind größtenteils in der Entwicklung. Die Menschen verändern sich dort politisch enorm schnell und sie sind sehr offen für Politik.
Woran zeigt sich das?
Noch im Dezember hatten viel mehr Menschen Vertrauen in Klitschko. Damals konnte sich niemand vorstellen, zu welchen Kämpfen sie im Januar fähig waren.
Können Linke dabei etwas ausrichten?
Linke haben fast immer die Möglichkeit, dort zu arbeiten. Denn es gibt zahlreiche Probleme für die Linke eine Lösung anbieten können, im Gegensatz zu allen anderen.
Wo können wir anknüpfen?
Die Mehrheit der Menschen auf dem Maidan will sich selbst organisieren. Sie wollen direkte Demokratie und keine Verhandlungen hinter verschlossenen Türen.
Es sind diese Ideen, für die Menschen auf dem Maidan gegen die Polizei kämpfen, obwohl am Vortag einer ihrer Mitstreiter ermordet wurde. Das ist der Ort, wo Linke ihre Ideen anbringen müssen.
Was können die Linken in Kiew verbessern?
Wir müssen lernen, auf die Situation einzugehen. Mit der Einstellung „Ich verbreite meine Parolen oder keine“ gewinnt man in Kiew keinen Blumentopf. Ich halte es vielmehr für unverantwortlich, wenn Linke gezielt nicht auf den Maidan gehen, was leider passiert ist.
Unverantwortlich?
Ja. Denn wenn wir wegbleiben, überlassen wir die Menschen dem „Rechten Sektor“, den wir doch so sehr hassen. Niemand wird uns dafür danken, wenn wir nicht dorthin gehen, wo die Rechtsradikalen sind, außer die Rechtsradikalen selbst.
Ist das praktisch möglich?
Natürlich. Es kann bedeuten, dass ich meine geliebte rote Fahne zu Hause lassen muss, weil sie schlecht ankommt. Na und?
Ich will mit Menschen in politischen Kontakt kommen und radikal ist, was Erfolg bringt. Dass eine rote Fahne unbeliebt ist, liegt nicht an uns, sondern an der Kommunistischen Partei. Trotzdem müssen wir darauf klug reagieren.
Kann die Bewegung auch gewinnen?
Kommt drauf an, was gewinnen heißt. Den Sturz Janukowitschs kann die Bewegung erreichen. Früher oder später wird er seine Macht verlieren. Aber viele Demonstranten wollen die Gesellschaft und das politische System verändern. Das kann diese Bewegung nicht leisten.
Ist dann alles umsonst?
Überhaupt nicht. Viele werden enttäuscht sein, aber auch Erfahrungen machen, auf denen sie aufbauen können. Einige werden erkennen, dass auch ein sozialer Kampf notwendig ist, um ihr Leben zu verbessern. Wenn das in der nächsten Zeit gelänge, wäre es ein großartiger Erfolg.
Ilya, ich danke dir für das Gespräch
Interview: Anton Thun
Ilya Budraitskis ist Mitglied der „Sozialistischen Bewegung Russlands“ (Rossiyskoye Socialisticheskoye Dvizheniye, RSD). Die Organisation, die in den großen Städten Russlands präsent ist, entstand Anfang 2011 als Resultat der Neustrukturierung der russischen Linken und ist eine Fusion verschiedener Gruppen. Sie versteht sich als plurale, antikapitalistische, radikale linke Sammlungsbewegung und tritt für einen neuen, demokratischen Sozialismus ein. Ihre Aktivisten sind in unterschiedlichen sozialen und demokratischen Bewegungen aktiv, so auch in der Massenbewegung gegen Putin 2011/2012.
Auf dem МARX IS MUSS Kongress vom 6. bis 9. Juni in Berlin wird es eine Veranstaltung mit Ilya Matveev, ebenfalls von der Rossiyskoye Socialisticheskoye Dvizheniye, RSD geben. Mehr Informationen & Anmeldung
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