Bei der Afghanistan-Konferenz in Kabul geht es um die Frage, wann die einheimischen Sicherheitskräfte die Lage allein in den Griff bekommen. Doch die von deutschen Beamten ausgebildete Polizei ist Teil des Problems in Afghanistan und nicht Teil einer Lösung. Sie ist einer der Gründe, warum die Regierung Karzai so unbeliebt ist und die Aufständischen Zulauf bekommen. Trotzdem will die Bundesregierung will mehr afghanische Polizisten ausbilden. Das Projekt ist zum Scheitern verurteilt, meint Stefan Ziefle
Im April töteten Aufständische in der Nähe von Kundus bei einem Schusswechsel drei deutsche Soldaten und verletzten fünf weitere schwer. Wenige Stunden später eröffnete ein deutscher Soldat mit seinem Schützenpanzer das Feuer auf zwei Jeeps und tötete sechs Afghanen. Hinterher stellte sich heraus, dass sie Angehörige der afghanischen Armee waren.
Diese Ereignisse sind keine Einzelfälle, nur sind diesmal auch deutsche Soldaten gestorben. Die Abgeordneten des Bundestags wurden informiert, dass acht ISAF-Soldaten »gefallen« seien und weitere 86 verwundet wurden. Landesweit gab es laut ISAF 451 Vorfälle, darunter 296 Schusswechsel und Gefechte. All das in einer einzigen Woche im März 2010.
Der Raum Kundus, wo die Bundeswehr stationiert ist, ist Kriegsgebiet. In der Region von der Größe des Saarlands kontrolliert die deutsche Armee genau drei Orte: ihr Feldlager (das sogenannte Provincial Reconstruction Team, PRT), den anliegenden Flughafen und einen Hügel rund zwölf Kilometer entfernt. Mit der Sicherung dieser drei Stellungen sind die etwa 1300 Soldaten des PRT Kundus ausgelastet.
Wenn die Soldaten ausrücken, dann mindestens in Kompaniestärke (etwa 60 bis 100 Soldaten) und in Begleitung von gepanzerten Fahrzeugen. Für die rund 12 Kilometer zu dem Außenposten auf dem Hügel brauchen die Truppen normalerweise einen ganzen Tag, weil sie sich auf dem Weg dorthin mehrstündige Feuergefechte mit Aufständischen liefern. Das ist der Hintergrund, vor dem Oberst Klein im September vergangenen Jahres beschlossen hatte, die Luftwaffe einzusetzen, anstatt mit Soldaten zu den gestohlenen Tanklastern vorzudringen.
Die neue NATO-Strategie sieht vor, ein Gebiet nach dem anderen zu »befreien«. Dafür sind vier Phasen geplant: »shape«, »clear«, »hold« und »build« (»formen«, »reinigen«, »halten« und »aufbauen«). Die NATO will das Gebiet durch Kommandoaktionen und Aufklärung vorbereiten. Das beinhaltet sowohl die Warnung der Zivilbevölkerung vor kommenden Angriffen als auch die gezielte Tötung von Kommandeuren der Aufständischen. Danach dringen die NATO-Truppen und ihre Verbündeten von der afghanischen Armee (ANA) und der Polizei (ANP) massenhaft in das Gebiet ein und ersticken jeglichen Widerstand, durchsuchen Häuser, beschlagnahmen Waffen. Anschließend setzen sie einen Statthalter der afghanischen Regierung ein und stationieren eine möglichst große Zahl von Polizisten. Im vierten Schritt sollen gezielt Projekte des Wiederaufbaus durchgeführt werden, um die Bevölkerung für die Karzai-Regierung und die Besatzer zu gewinnen. Ist Phase zwei beendet, beginnt die NATO bereits mit der Planung der gleichen Aktion in der nächsten Region. Solange aber Phase vier nicht erfolgreich abgeschlossen ist, also die Bevölkerung nicht gewonnen wurde, ist eine massive Präsenz von Sicherheitskräften erforderlich. Diese Aufgabe kann nicht die NATO erfüllen, denn dafür hat sie schlicht viel zu wenig Soldaten. Hier kommt die Polizeiausbildung ins Spiel.
Die Bundesregierung hat sich verpflichtet, in den nächsten fünf Jahren 30.000 afghanische Polizisten auszubilden. Dafür will sie die Zahl der Ausbilder auf 260 aufstocken. Selbst in der Logik der Regierung ergibt sich ein Problem, denn sogar unter optimalen Rahmenbedingungen wäre bei einem Verhältnis von einem Ausbilder zu über hundert Auszubildenden keine qualitativ hochwertige Polizeiausbildung möglich.
Aber die Bedingungen sind nicht optimal. Das Land ist arm und befindet sich seit Jahrzehnten im Krieg. Neunzig Prozent der Rekruten können nicht lesen – mehr als im Landesdurchschnitt. Viele der Bewerber haben wegen Unterernährung in der Kindheit oder anderen kriegsbedingten Einflüssen motorische oder psychische Störungen. Zwanzig Prozent sind drogensüchtig. Im Normalfall kommen nur die Verzweifelten zur Polizei.
Diese Rekruten werden in Schnellkursen ausgebildet. Die von der US-amerikanischen Regierung engagierten privaten Sicherheitsfirmen schleusen sie in drei Wochen durch die Lehrgänge. Die deutschen Ausbilder haben immerhin acht Wochen Zeit.
Das hat offenkundig nichts mit einer Polizeiausbildung zu tun, wie wir sie aus Deutschland kennen. Kriminalistik, Tatortsicherung, Verbrechensbekämpfung, ja selbst das Regeln des Verkehrs gehören nicht zum Programm. Wegen der hohen Analphabetenrate gibt es keine schriftlichen Unterlagen. Gesetzeskenntnisse können nicht vermittelt werden, und der gesamte Unterricht muss mithilfe von Dolmetschern laufen, da die Ausbilder die Landessprache nicht beherrschen und die Rekruten weder Deutsch noch Englisch sprechen.
Die angehenden Polizisten lernen, wie sie ihre Uniform richtig tragen, woran sie Vorgesetzte erkennen, wie sie ihre Waffe gebrauchen und wie man an einem Checkpoint Personen stoppt und dabei deren Hände im Blick behält. Außerdem lernen sie, einen gültigen Pass zu erkennen. Die tatsächliche Überprüfung von Personalien ist für Analphabeten aber unmöglich.
Nach Ende ihrer Ausbildung dienen viele Polizisten lediglich als Kanonenfutter für die Armee. Bei militärischen Offensiven stehen sie in der ersten Reihe. Entsprechend hoch sind die Verluste. Nach einem im Spiegel zitierten vertraulichen Bericht des Auswärtigen Amtes starben 2007 rund 1200 afghanische Polizisten, 2008 waren es 1150 und bis zum Herbst 2009 weitere 740. Während die deutschen Ausbilder täglich 110 Euro Auslandszulage erhalten, verdienen einfache Polizisten in Afghanistan rund 250 US-Dollar im Monat. Das ist selbst für afghanische Verhältnisse nicht viel. Um eine fünfköpfige Familie in Kabul zu ernähren, reicht es nicht. Nicht selten suchen die Polizisten nach Möglichkeiten, etwas hinzuzuverdienen. Bei jeder Gelegenheit pressen sie Leuten »Gebühren« ab. »In der Bevölkerung sind die als Wegelagerer verschrien,« zitiert der Spiegel einen deutschen Ausbilder.
Ebenfalls zum täglichen Geschäft gehört der Drogenhandel, wenn auch nur im kleinen Rahmen. Für die großen Geschäfte sind Minister, Polizei- und Armeeführung sowie die Familie von Ministerpräsident Hamid Karzai zuständig. Andere Verdienstmöglichkeiten sind der Verkauf der Dienstwaffe oder die Verrichtung von »Sicherheitsdienstleistungen«, sprich: die Polizisten verdingen sich als Söldner. Ganze Einheiten sind wegen der besseren Bezahlung zu Aufständischen übergelaufen. Von den bis 2005 von deutschen Beamten ausgebildeten Polizisten ist mittlerweile ein Drittel tot und ein Drittel verschwunden, also desertiert oder übergelaufen. Neben dem Geld spielt auch die Familienloyalität eine große Rolle. Man hilft sich untereinander. Dazu gehört, dass man keine Verwandten verhaftet. Und die Familien sind groß und verzweigt. Deswegen werden zur Aufstandsbekämpfung bevorzugt Polizisten aus anderen Regionen des Landes eingesetzt, was wiederum die ethnischen Konflikte anheizt.
Die unter anderem von deutschen Beamten ausgebildete Polizei ist Teil des Problems in Afghanistan und nicht Teil einer Lösung. Sie ist einer der Gründe, warum die Regierung Karzai so unbeliebt ist und die Aufständischen Zulauf bekommen. Ihre Existenz trägt zur Unsicherheit der Menschen im Alltagsleben bei und heizt den Krieg weiter an. Das Polizei-Aufbauprogramm erhöht lediglich den Anteil von Männern, die über Waffen verfügen und deren einzige »Qualifikation« der Umgang mit diesen ist. Die Polizei ist nicht die »zivile«, »humanitäre« Alternative zum Militär, sondern dessen logische Ergänzung. Und sie wird Afghanistan selbst im Sinne der NATO nicht »befrieden«.