Israels Premierminister Benjamin Netanjahu steht vor der größten Krise seiner Amtszeit. Noch immer flauen die Proteste in Israel nicht ab. Die Initiatoren, vor allem junge Menschen, rufen jetzt in fünfzig Städten im ganzen Land für den 3. September zu einem Marsch der Millionen auf. Ein Beitrag von Richard Seymour
Israelis lassen sich vom »arabischen Frühling« eine Lektion in Demokratie erteilen. Seit dem 14. Juli demonstrieren sie in vielen Städten gegen die Wohnungspolitik. Die Baukrise wurde durch Bodenspekulanten und Bauunternehmer verursacht, die Neubauten hinauszögern, um die Mieten und Verkaufspreise nach oben zu treiben. Es sind die gleichen Bauherren, die mit dem Bau von Siedlungen in der Westbank reich geworden sind.
Die Protestierenden haben Zelte in den schicken Stadtteilen von Jerusalem errichtet, um ein Schlaglicht auf die Diskrepanz zwischen den üppigen Behausungen der Reichen und dem Los der Arbeiter und Arbeiterinnen zu werfen. Es kam zu Massenansammlungen von mehr als 100.000 Menschen und zu Streiks. Das ist der erste umfassende Ausbruch von Klassenkampf in der ganzen Geschichte des Staates Israel. Seit Beginn wurden israelische Arbeiter durch den zionistischen Chauvinismus vereinnahmt. Als Mitglied des rassistischen Gewerkschaftsdachverbandes Histadrut begaben sich die meisten Arbeiter in eine Koalition zwischen Gewerkschaften, Kapital und Staat. Nach dem Krieg von 1967, in dem Israel den Rest vom historischen Palästina an sich riss, bauten Israelis Kolonien in den besetzten Gebieten.
Israelische Arbeiter konnten ihre Lebensumstände bessern, indem sie Palästinensern Ressourcen wegnahmen, anstatt die eigenen Bosse zu bekämpfen. Über weite Strecken der Geschichte Israels hat die Unterdrückung der Palästinenser das Entstehen von Klassenbewusstsein unter israelischen Arbeitern behindert. Aber die Hinwendung zum Neoliberalismus während der 1980er Jahre wurde begleitete von Privatisierung und Kürzungen von öffentlichen Ausgaben und Sozialleistungen. Eine kleine Anzahl von Israelis wurden dadurch unermesslich reich. Parallel stieg auch die Armut. Ein Fünftel aller israelischen Familien lebt mittlerweile unter der Armutsgrenze. Das hat die Gräben zwischen den Klassen vertieft.
Bis in die jüngste Vergangenheit haben die israelischen Arbeiter darauf mit einer Rechtswendung reagiert. Netanjahus Regierung will noch weitere Siedlungen in der besetzten Westbank errichten. Israel gibt 15 Prozent seines Wohnungsbaubudgets für den Siedlungsbau aus, obwohl nur 4 Prozent der Israelis dort leben. Aber die Proteste haben auf diesen Umstand bisher keinen Bezug genommen. Zum Teil aus diesem Grund unterscheiden sich diese Proteste von den anderen Bewegungen der jüngsten Vergangenheit in Nahost. Ein wichtiges Motiv dieser Aufstände ist nämlich die Ablehnung des Imperialismus. Aber die israelische Arbeiterklasse ist seit eh und je mit dem Imperialismus eng verbandelt. Es gibt noch keine Anzeichen, dass die gegenwärtigen Proteste daran was ändern.
Fürwahr, der Umwandlungsprozess in Nahost kann sich nicht auf Aufständen in einem zionistischen Staat stützen. Es ist bemerkenswert, dass diese Proteste gerade zu einem Zeitpunkt entstehen, da Israels regionale Machtstellung infolge der arabischen Revolten geschwächt wurde.
Die weitere Radikalisierung letzterer ist der beste Weg, um eine echte Veränderung in der Region zu erreichen. Israel befindet sich potenziell an einem Wendepunkt. Entweder brechen die Arbeiter mit dem Zionismus und erklären sich solidarisch mit den Palästinensern, oder der israelische Staat wird weiterhin den Klassenwiderspruch dadurch lösen, dass er die Palästinenser dafür zahlen lässt.
Zum Text: Der Text erschien zuerst bei der Zeitung Socialist Worker. Übersetzung ins Deutsche David Paenson.