Die derzeit größte lokale Protestbewegung der Republik ist unter Beschuss: »Wutbürger«, »Stimmungsdemokratie«, »Fortschrittsverweigerer«. Wer mehr über die Protestbewegung wissen möchte darf Schwarz-Gelb nicht fragen. marx21 hat sich lieber mit Werner Sauerborn, Mitinitiator von »Gewerkschafter gegen Stuttgart 21« unterhalten. Ein Gespräch über Schlichtungsversuche, Erfolge und die Frage, ob auch im »Schwabenland« französische Verhältnisse möglich sind.
marx21: In Stuttgart haben die Schlichtungsgespräche unter der Regie von Heiner Geißler begonnen. Ist schon das ein Erfolg der Proteste?
Werner Sauerborn: Unterm Strich halte ich die Situation, die wir jetzt erreicht haben, für einen Riesenerfolg. Wir haben einen de facto Baustopp durchgesetzt, die Gegenseite musste sich verpflichten, die Karten auf den Tisch zu legten, und wir sind nicht eingeschränkt, weiter voll zu mobilisieren. Das ist das Ergebnis einer unglaublichen Mobilisierung und breiten Sympathie bundesweit und darüber hinaus.
Was bedeutet der Baustopp konkret?
Vergabestopp, keine Baumfällungen, keine Arbeiten am Platz vor dem Nordflügel, kein Abriss und keine Entkernung des Südflügels, keine Installation des sog. Wassermanagements, allerdings einige Erdarbeiten und LKW – Transporte auf der Fläche, wo dieses Grundwassermanagement errichtet werden soll. Das ist in der Sache nicht unumkehrbar und keine Katastrophe, aber es ist quasi eine nachträgliche Legalisierung der illegalen Baumfällungen in der Nacht vom 30.9. zum 1. Oktober, weil ohne diese Fällungen diese Arbeiten nicht möglich wären.
Auf der letzten Kundgebung gegen S21 waren nicht mehr so viele Menschen wie noch am letzten Wochenende. Bedeuten die Schlichtungsgespräche, dass die Bewegung gegen S21 abflaut?
Viele denken jetzt natürlich, man brauche nicht mehr demonstrieren, weil ja jetzt geredet werde und man könne nicht »Mappus weg« rufen, mit dem man gerade im Gespräch sei. Es waren 25 000 in stömendem Regen. Vor allem war eine sehr offensive und solidarische Stimmung. Das Signal war klar. Die Demos gehen weiter auch während der Gespräche. Zweite Tage drauf bei der Montagsdemo, als die Bauern mit ihren Traktoren aus dem Wendland da waren, hatten wir die 48. und eine der größten Montagsdemos.
Aber Baden-Württembergs Grünen-Fraktionschef Winfried Kretschmann hat sich schon kritisch zu der vorübergehenden Besetzung des Südflügels des Hauptbahnhofes durch Stuttgart-21-Gegner geäußert. Er argumentiert es herrscht »Friedenspflicht« und solche Aktion könnte die Gespräche »beeinträchtigen«. Stimmt das?
Das war eine Aktion der Jugendoffensive gegen S 21, nicht der Parkschützer, nicht des Bündnisses. Das Bündnis hat zugesagt, nicht zu Blockaden aufzurufen während der Gespräche. Die ParkschützerInnen sind daran nicht gebunden. Darüber, dass jetzt weiter mobilisiert und die Demos gestärkt werden müssen, sind sich im Bündnis alle einig. Wie das Herr Kretschmann sieht, steht auf einem anderen Blatt.
Vor welchen Herausforderung steht das Protestbündnis während des Verhandlungsprozesses?
Zusammen zu bleiben. Die einen haben hohe Erwartungen in die Gespräche und wollen sie nicht gefährden. Die anderen fürchten ein Nachlassen des Drucks, wenn die Demos einbrechen würden, was dann große Probleme machen könnte, wenn die Auseinandersetzung Anfang Dezember voraussichtlich wieder voll entbrennen wird.
Wer geht in Stuttgart eigentlich auf die Straße? Der Spiegel entdeckte den konservativen, wohlhabenden »Wutbürger« und Stefan Mappus verdächtigt die Grünen als Drahtzieher der Proteste. Der Durchschnittsprotestler ist also wohlhabend, Akademiker und wählt Grün?
Das mit dem Wutbürger ist reaktionärer Unsinn. Wir haben absolut nichts am Hut mit der Hamburger Bürgerbewegung zur schichtegoistischen Sicherung von Bildungsinteressen. Unser Widerstand hat solidarische Ziele: einen Bürgerbahnhof, gegen anmaßende Politik, gegen den schwäbischen Filz von Politik (CDU-SPD-FDP)- spezifischen Kapitalinteressen und den Stuttgarter Zeitungen. Wir sind vielleicht bürgerlich in unseren friedlichen Widerstandsformen, die die Tabugrenze der Gewalt schon seht früh zieht. Aber wir sind im soziologischen Sinne eine breite Bürgerbewegung, die wirklich alle einschließt, jung-alt, linksradikal-wertkonservativ, Gewerkschafter gegen S 21 – Unternehmer gegen S 21.
Kann Stuttgart 21 überhaupt gestoppt werden. S21 Befürworter sagen: »Nein!« Die Verträge sind unterzeichnet. Die Bahn rechnet mit 1,4 Milliarden Euro Kosten für ein Ausstiegsszenario.
Die 1,4 Milliarden, die die Bahn nennt, gehören in die Abteilung Lügenpack. Aber selbst wenn: warum diesem Geld noch 10 Milliarden hinterher schmeißen, wenn S21 schon gegenüber dem jetzigen Bahnhof nur Verschlechterungen bringt. Am besten K 21, den ertüchtigten Kopfbahnhof mit Beschleunigung der Strecke nach Ulm. Am zweitbesten: alles lassen wie es ist. Am schlechtesten S 21.
Aber dafür müssten alle Vertragspartner mit einer Änderung beziehungsweise einer Auflösung des Vertrags einverstanden sein. S21 Befürworter meinen, es ist unrealistisch zu denken, dass sich Bundes- und Landesregierung vom Projekt abwenden und auch die Bahn mit der Abkehr des Vorhabens einverstanden erklärt.
Die Bahn gehört dem Bund und nicht Herrn Grube, der hier den großen Zampano gegen die Bevölkerung macht, der diese Bahn gehört. Die Bahn muss raus aus der Privatisierungsbahn und zu unserer Bahn werden. Es reicht in der Tat nicht, Mappus in den Schwitzkasten zu nehmen, der sich dann hinter dem Bund und den hohen Ausstiegskosten verschanzt. Wir müssen deshalb in Berlin und bundesweit Druck machen. Deswegen ja auch unsere Sonderzug nach Berlin mit 600 Leuten am 26.10.
Ein neuer Bericht des stern-Magazins deckte jetzt auf, dass für einige Investoren Stuttgart 21 vor allem ein Immobilienprojekt ist, von dem sie sich Rekordprofite erwarten. Es geht also gar nicht um den Ausbau der Bahn?
Wäre es nur ein Bahnprojekt, würde niemand auf die Idee kommen, so einen Unsinn zu bauen. Das sieht man auch daran, dass sie im Verkehrsministerium es einfach nicht schaffen, die Kosten-Nutzen-Bilanz irgendwie in den positiven Bereich hineinzumanipulieren. Aber es ist eben verquickt mit einem riesigen Immobilienprojekt, Kaliber ca. 10 Milliarden Ein Paradies für Spekulanten. Um in dieses Paradies zu kommen subventionieren Stadt, Land und Bund die Bahn, für die sich dann betriebswirtschaftlich ein verkehrspolitisch sinnloses Projekt auf einmal rechnet.
Wie wird der Protest weitergehen? 70 Prozent der Bevölkerung sagen »Ja«, die Proteste sind gerechtfertigt. In Stuttgart selbst waren Zehntausende auf der Straße. Wie kann der Druck auf Bahn und Landesregierung überhaupt noch erhöht werden?
Was uns in diese Position der Stärke gebracht hat und letztlich auch den Durchbruch bringen wird, ist die Kombination aus zivilgesellschaftlichen Aktionen und Massenprotesten – und dies zunehmend mit bundesweiter Aufmerksamkeit und Solidarität und in den Keller sausenden Umfragewerten der S 21 Parteien, sogar bundesweit. Wenn die Gesprächsphase vorbei ist und sie bis dahin noch nicht die weiße Fahne gehisst haben, werden sie mit hohem Tempo weiter machen. Dann müssen wir präsent sein mit noch größeren Demos, und noch wirksameren Aktionen des zivilen Widerstand. Darauf bereiten wir uns jetzt vor.
Was ist mit den Gewerkschaften?
Es sind viele GewerkschafterInnen auf den Demos. In den Betrieben ist die Stimmung, wie überall gegen S 21, es gibt viele Beschlusslagen gegen S 21. Der DGB Baden-Württemberg hat in seiner Bezirkskonferenz im Januar schon beschlossen, dem Bündnis beizutreten und klar gegen S 21 votiert. Aber einflussreiche Teile der Führungen, allen voran die der IGM, blockieren das. Sie stehen tief im Pro-Lager. Die Demokratiefrage stellt sich nicht nur im Kampf gegen S 21, sondern auch als innergewerkschaftliches Problem.
In Frankreich streiken zur Zeit Beschäftigte gegen die Rentenreform. Sind auch im »Schwabenland« französische Verhältnisse möglich? Sind Warnstreiks bspw. im ÖD gegen das Projekt eine realistische Option für die Bewegung?
Die Gewalt des »schwarzen Donnerstags« hat in vielen Pausen Gesprächen in den Betrieben für Gesprächsstoff und Wut geführt. Als GewerkschafterInnen gegen S 21 versuchen wir mehr Unterstützung aus den Betrieben gegen S 21 zu mobilisieren. Aber politische Streiks, seien es auch nur verlängerte Mittagspausen, werden erst in größerem Ausmaß denkbar, wenn auch die Gewerkschaftsführungen sehen, dass es hier auch um wichtige gewerkschaftliche Fragen der Verteilung und der Demokratie geht.
Was kann jeder tun um die Bewegung gegen Stuttgart 21 zu unterstützen?
Das Internet bietet tausend Möglichkeiten sich zu informieren und zu unterstützen. In vielen Städten gibt es schon Schwabenstreiche und örtliche Unterstützungsbündnisse und wir hoffen, dass wir alle bald zu einer großen bundesweiten Demo in Stuttgart zusammen kommen, sozusagen als Gegenzug zu unserem Sonderzug nach Berlin. Das Motto wäre dann: Vom Baustopp zum Projektstopp.
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